Kommentar

Freiheitskämpfer am Schreibtisch

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Urs Marti-Brander /  In Krisenzeiten erwartet das Publikum Information über Fakten. Geboten werden Lektionen in angeblicher Demokratie und Freiheit.

(Red) Urs Marti-Brander ist emeritierter Professor der Philosophie der Universität Zürich

Die Neue Zürcher Zeitung bleibt sich selber treu. Hat sie einmal ein Vorurteil gefasst, gibt sie es nicht wieder her. So verkündet sie in schöner Regelmässigkeit, die Romands seien staatsgläubig und wollten vom Staat umsorgt sein. Vor dem Hintergrund der Krise ist einiges in Bewegung geraten, mittlerweile werden die Schweizerinnen und Schweizer insgesamt als staatshörige und freiheitsvergessene «Schönwetterdemokraten» diskreditiert (NZZ vom 9. Mai 2020). Es sei höchste Zeit, dass die öffentliche Debatte über Freiheit in Zeiten des Notrechts in Gang komme, befand das Feuilleton der Zeitung und lud mehrere Persönlichkeiten ein, sich Gedanken zu machen zur selbstverordneten Quarantäne des Parlaments, dem bundesrätlichen Griff zum Notrecht, der mannigfaltigen Freiheitseinschränkungen und der «bemerkenswerten Indifferenz» der Bevölkerung – so die Redaktorin Christina Neuhaus. Inszeniert wurde eine veritable Publikumsbeschimpfung, zugleich konnten einige Autorinnen und Autoren der Versuchung nicht widerstehen, zwecks Untermauerung ihrer Ausführungen grosse Denker der Vergangenheit zu bemühen – das Bemühen ist gründlich missglückt, wenn man sich schon mit Klassikern schmücken will, müsste man sie wenigstens studiert haben.

Die Ökonomieprofessorin Margit Osterloh behauptet, die Mehrheit der Bevölkerung habe die «freiwillige Knechtschaft» gewählt, die Demokratie werde «narkotisiert», es herrsche einvernehmliches Gehorchen. Der Umgang mit dem Souverän verhindere die Selbstaufklärung der Bürger, mit einer Mischung aus Mahnen und Drohen, gar einer manipulativen Information der Bevölkerung werde Gehorsam erzwungen.

Es ist in den Ausführungen nicht immer einfach zu beurteilen, wo die seriöse Wissenschaft aufhört und das Raunen der Verschwörungstheoretiker beginnt. Was ist unter der von Neuhaus diagnostizierten Schönwetterdemokratie zu verstehen? Sind die Schweizerinnen und Schweizer nicht bereit, für ihre Rechte zu streiten und die Regierung in die Schranken zu weisen, oder sehen sie einfach die Situation weniger dramatisch? Neuhaus fragt nach der Legitimität der Regierung, ihr dürfe man nie trauen, so weiss sie – und zitiert als Gewährsmann Aristoteles. Sie hätte genauer lesen müssen, bei Aristoteles steht etwas anderes. Er kritisiert demokratische Regierungen, glaubt er doch zu wissen, dass Demokraten nie etwas anderes im Schild führen, als sich am Vermögen der Reichen und Mächtigen zu vergreifen. Sein Regierungsideal ist eine Erziehungsdiktatur mit weitgehenden Eingriffen in die Privatsphäre der Bürger, repräsentiert von einer Elite müssiger Grundbesitzer.

Neuhaus zitiert im weiteren John Locke. Ihm zufolge ist eine Regierung legitim, wenn sie Leben, Freiheit und Eigentum der Bürger schützt. Die Betonung liegt auf Eigentum, wer nichts besitzt ist kein vollwertiger Bürger. Freiheitsrechte stehen ihm nicht zu, gezwungen in Arbeitshäusern schwerste Arbeit zu verrichten – so wollte es Locke – hat er keine Chance, die Regierung der Wohlhabenden zu kontrollieren.

Der ehemalige Bundesrat Pascal Couchepin ärgert sich über Intellektuelle, die für eine weniger kapitalistische und mehr ökologische Politik plädieren; sie seien bereit, die freiwillige Knechtschaft zu akzeptieren – wo ist der logische Zusammenhang? Zur Freiheit gehört bekanntlich auch jene, über Alternativen nachzudenken. Verdächtigt denn nicht Margrit Osterloh den Bundesrat, die Bevölkerung mit einer Rhetorik der Alternativlosigkeit einzulullen? Einem so erfahrenen Politiker wie Couchepin kann nicht entgangen sein, dass in der hochgelobten kapitalistischen Gesellschaft nicht alles zum Besten steht. Gewiss kennt er das Zitat von Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Wenn wir wollen, dass alles bleibt wie es ist, dann ist nötig, dass alles sich verändert.

Regula Stämpfli, eine Politikdozentin «mit Schwerpunkt Hannah Arendt» gibt Platon die Ehre. Das ist originell. Ausgerechnet der Vordenker totaler Herrschaft, der Manipulation, permanenten Überwachung und moralischen Bevormundung der Bürger, der Verächter der Demokratie, wird auf den Schild gehoben. Die Autorin sieht in ihm den Hüter der Wahrheit, der seinen Gegnern, den mit Argumenten streitenden vielgescholtenen Sophisten, mutig entgegentritt. Zur Wahrheit hatte Platon in der Tat ein ganz spezielles Verhältnis. Den Gesetzgebern räumte er das Recht ein, das Volk zu täuschen und zu belügen, wenn es dem guten Zweck dient. Der Mehrheit der Menschen mochte er die Wahrheit nicht zumuten. Da er Gott für das Mass aller politischen Dinge hielt, musste er den Atheismus unter Strafe stellen, ungeachtet der wissenschaftlichen Qualität seiner Argumente, wie er explizit vermerkte.

Stämpfli erinnert an Platons «berühmten Kampf gegen die Sophisten». Was meint sie damit? Selbstverständlich gab es viele Streitgespräche zwischen den Sophisten und Sokrates, der übrigens ab und zu den Kürzeren zog. Stämpfli sieht das simpler: Platon beruft sich auf die Wahrheit, die Sophisten auf die Meinungen; sie vermeint sich auf die Seite Hannah Arendts stellen zu können, ihr diesbezüglicher «Schwerpunkt» ist indes von der leichteren Art. Politik gründet auf der Vielfalt von Meinungen, diese resultieren aus diskursiven Überlegungen, während eine Politik im Namen der Wahrheit notwendig despotisch werden muss, so hat Arendt dargelegt. Wenn sich in Athen eine Demokratie entfalten konnte, dann trotz Platon und dank den Sophisten. Was Platons politische Ideen betrifft, so kann man sie durchaus mit jenen der chinesischen Kommunisten vergleichen.

Die Autorin wartet mit weiteren Überraschungen auf. «Lasst uns in Parrhesia üben, in Widerspruch, in Vielfalt, bei Wahrung geltender Bestimmungen.» Nun wissen möglicherweise selbst NZZ-Leser nicht so genau, was mit Parrhesia gemeint ist. Der von Michel Foucault «entdeckte» Begriff meint so viel wie Öffentlichkeit oder Redefreiheit. Schön, dass man sich dafür einsetzt – wie es eben die Sophisten taten. Doch die Autorin zieht die brutale Rhetorik dem sorgfältigen Argumentieren vor. «Volkschinesische Sendungsgewalt» paart sich mit «westlicher demokratischer Impotenz». Die Schweizer Demokratie konnte widerstandslos und über Nacht Hunderttausende von Existenzen ins Unglück stürzen. Steht es so schlimm?

Auch Martin Grichting, ein Mann der Kirche, erhält seine Tribüne. Er ruft Warnungen in Erinnerungen, die im 19. Jahrhundert Alexis de Tocqueville angesichts der Entwicklung der nordamerikanischen Demokratie geäussert hat. Tocqueville hat genau beobachtet, wie der Rückzug ins Private, die mangelnde Sorge für die res publica einem neuen Despotismus den Weg ebnet. Er hat beschrieben, wie der Staat als wohlwollender Tyrann eine entmündigende, milde, fürsorgliche Macht über die Bürger ausübt und ihre Freiheit negiert. Seine Lektion bleibt aktuell in Zeiten des wachsenden Rechtspopulismus. Was jedoch Martin Grichting daraus folgert – Demokratien könnten nur Bestand haben, wenn die Menschen an Gott glauben – ist für säkulare Gesellschaften eine Provokation. Die Freiheit ist keine Tochter des Christentums, vielmehr hat sie sich stets gegen die Autoritätsanmassungen der Religionen zur Wehr setzen müssen. Tocqueville war ein Spross des französischen Hochadels. So sehr er sich als Soziologe für die nordamerikanische Demokratie interessierte, er misstraute dem staatsbürgerlichen und moralischen Sinn der Amerikaner. Die Ansicht, der Mehrheit sei in politischen Angelegenheiten alles erlaubt, hielt er für gottlos, er glaubte, die Religion vermöge die in der Demokratie angelegten destruktiven Kräfte zu bändigen. Da Menschen eine Autorität nötig haben, könne vollständige Freiheit nur den Gläubigen zugestanden werden.

Heute wissen wir, dass säkulare Gesellschaften sehr wohl imstande sind, «freiheitshungrige und freiheitsfähige Menschen» hervorzubringen.

Nach so vieler Kritik ein Wort des Lobs. Der Ökonomin Karen Horn blieb es vorbehalten, die Debatte in ruhigere Bahnen zu lenken. «Wachsamkeit ist geboten, nicht aber ein hysterisches Beschreien von Freiheitsverlusten, die keine sind.»
So viel in dieser Beilage von Freiheit die Rede war, so wenig war darüber zu erfahren, welche Freiheit gemeint ist. Man vergisst leicht, dass die Freiheit über Jahrtausende nichts anderes gewesen ist als das Privileg Weniger, sich an gewisse Regeln nicht halten zu müssen und der Gemeinschaft, der sie angehören, nichts zu schulden. Es mehren sich die Stimmen jener, die bereits wieder an der Front stehen, um die kapitalistische Wirtschaftsordnung gegen jede Kritik zu wappnen und über ihre Stärkung nachzudenken. René Scheu, der Feuilleton-Redaktor der NZZ teilt mit, die westlichen Gesellschaften hätten lange in einem dogmatischen Schlummer der Rundumabsicherung gelebt (NZZ 15. Mai 2020). Auch dies ein wiederkehrendes Thema aus der ideologischen Mottenkiste der Zeitung. Es geht uns zu gut, so die Botschaft. Gewiss, viele Menschen in westlichen Gesellschaften sind privilegiert, anderen sind Privilegien nicht vergönnt. Wir leben immer noch in Klassengesellschaften. Zahlreiche Menschen mögen diesen «dogmatischen Schlummer» (hat jetzt nichts mit Hume und Kant zu tun…) nur vom Hörensagen kennen. Vielleicht sollte der Redaktor sich einmal in Genf in die kilometerlange Schlange der Menschen einreihen, die für ein Paket Reis und Nudeln anstehen, er könnte sie fragen, wie sie die Sache mit der Rundumabsicherung sehen.

Es versteht sich, dass die unsicheren Zeiten, in denen wir leben, uns Stoff zum Nachdenken liefern. Was dabei herauskommt, verdient es vielleicht, anderen mitgeteilt zu werden – oder auch nicht. Im Fall der besprochenen Beilage muss man wohl zum Schluss kommen, dass der Pot pourri der mehr oder weniger tiefgründigen Beiträge uns ratlos lässt. Anstatt uns gegenseitig mit Vorwürfen und Verdächtigungen einzudecken, sollten wir, im Wissen darum, dass Wissenschaft nichts anderes ist als Arbeit mit Hypothesen, pragmatisch bleiben, offen für Argumente, versuchen gegeneinander abzuwägen, was uns aufgrund unserer individuellen Sorgen und Hoffnungen am wichtigsten ist.

Was Platon und Aristoteles, Locke und Tocqueville, Arendt und Foucault betrifft: so spannend die Lektüre ihrer Werke ist: Sie machen uns nicht klüger, sie haben ihre Zeit so wenig verstanden, wie wir die unsere.


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5 Meinungen

  • am 3.06.2020 um 14:14 Uhr
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    Fast könnte man wieder einmal den Spruch hervorkramen, wonach «Viel Feind» zu «viel Ehre» führt, wenn hier abermals die NZZ mit ihren typischen Absonderlichkeiten zur Sprache kommt. Dabei steht es der Leserschaft ja frei, ob sie sich die Ergüsse der Herren Gujer, Scheu und weiterer Zeitgenossen zu Gemüte führen will oder nicht. Wie in jeder anderen Zeitung stehen auch in der NZZ erhellende, vertiefende und kenntnisreiche Beiträge einträchtig neben abstrusen, abartigen und bizarren Texten. So ungewöhnlich ist diese Gazette also auch wieder nicht. Aber sie eignet sich offenbar besonders, um sich an ihr zu reiben. Was sie, indirekt, wiederum grösser macht, als sie eigentlich ist. Eben: «Viel Feind – viel Ehr’»

  • am 3.06.2020 um 15:12 Uhr
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    Der Lockdown and das Notrecht war für die NZZ Gläubigen eine Zeit höchster Verunsicherung. Nichts war mehr wie es für diese Gattung sein muss und es hat trotzdem funktioniert. Da braucht es halt Zuspruch, mag er noch so einfältig sein.

  • am 3.06.2020 um 15:39 Uhr
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    Eine brillante Analyse ! … Pflichtlektüre für jeden am Zeitgeschehen Interessierten !

  • am 4.06.2020 um 10:34 Uhr
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    "manipulativen Information"
    Wenn ich mir die Welt betrachte, mit welchen Thematiken sie sich beschäftigt, so drängt sich mir der Vergleich auf, dass wir wie die Kinder sind, die auf ein Spielzeug zu rennen, das auf der anderen Straßenseite sichtbar ist. Diese Gefahren sind den Kindern noch nicht bewusst.

  • am 4.06.2020 um 13:22 Uhr
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    Genau wegen dieses intellektuellen Geschwurbels lese ich die NZZ nicht mehr. Da hat sich ja eine illustre Runde angesammelt! Da geht es, wie so heute üblich, mehr um die Selbstdarstellung und dem billigen Erheischenvon Applaus und Zustimmung. An wen richtet sich so eigentlich eine NZZ? An die nicht ganz Gebildeten, weil die durch dieses Gedöhns zu beeindrucken sind? Die darunter lesen keine NZZ und die darüber rümpfen über solch billige Rhetorik nur noch die Nase.
    Ganz vielen Dank, Herr Marti-Brander. Das ist eine sehr gut gelungene Replik!

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