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Für eine Pandemie vorbereitet: gelb gut, orange mässig, rot ungenügend © GHS Index

Pandemie: Prognosen sind schwierig …

Christian Müller /  «Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.» Das Bonmot trifft auch den «Global Health Security Index».

Man weiss es: Italien wurde von der Covid-19-Pandemie unvorbereitet getroffen. Es fehlte an Intensivstationen, an medizinischen Apparaturen, an Material und vor allem auch an Erfahrung. Die Bilder aus Bergamo sind unvergesslich.

Welche anderen Länder aber waren gut vorbereitet auf Epidemien und Pandemien? Auf der Website des «World Economic Forum» WEF kann man lesen, wer am besten vorbereitet war: an erster Stelle die USA.

Die Quellen dieser Rangliste sind die private Johns Hopkins University in Baltimore im US-Staat Maryland und die «Nuclear Threat Initiative», unterstützt vom britischen Wirtschaftsmagazin «The Economist». Da wird unter Beteiligung von Dutzenden von Wissenschaftlern aus aller Welt ein «Global Health Security Index» – GHS Index – berechnet, ein Index der gesundheitlichen Sicherheit, und dies für 195 Länder der Welt.

Auf der Internetseite dieser Forschungsgemeinschaft können nicht nur die ersten zehn Plätze angeschaut werden wie auf der Seite des WEF, sondern auch alle anderen 185. Und es gibt dort eine Menge Grafiken zu verschiedenen Aspekten der gesundheitlichen Sicherheit. Die Grafiken unterscheiden jeweils «gut vorbereitet» (gelb), «einigermassen vorbereitet» (orange), «nicht gut vorbereitet» (rot). Siehe dazu die Grafik ganz oben. Die dort gezeigten Resultate stammen aus dem Jahr 2019, sind also aktuell – wurden aber noch vor der Covid-19-Pandemie berechnet. Und genau deshalb sind sie jetzt besonders interessant.

Am besten vorbereitet auf eine Pandemie seien die USA, also in der Rangliste auf Platz 1, besagt der GHS Index. Stimmt aber diese Prognose für den Ernstfall einer Pandemie? Passt sie jetzt zu über 100’000 Corona-Toten, wie es dieselbe Johns Hopkins University jetzt meldet, rund 300 Tote pro 1 Million Einwohner?

Auf Platz 2 der Rangliste der auf eine Pandemie am besten vorbereiteten Länder ist das Vereinigte Königreich UK. Stimmt aber diese Prognose für den Ernstfall einer Pandemie? Passt sie jetzt zu über 37’000 Corona-Toten, rund 550 Tote pro 1 Million Einwohner?

Auf Platz 3 der Rangliste der am besten auf eine Pandemie vorbereiteten Länder stehen die Niederlande. Stimmt aber diese Prognose für den Ernstfall einer Pandemie? Passt sie jetzt zu fast 6’000 Corona-Toten, rund 340 Tote pro 1 Million Einwohner?

Als Vergleich dazu sei etwa Polen erwähnt, das auf der GHS Index-Rangliste erst auf Platz 32 und auf der GHS Index-Grafik nicht mehr im gelben Bereich steht, sondern bereits im orangen Bereich, jetzt aber bei 38 Millionen Einwohnern nur wenig mehr als 1000 Tote ausweist, also weniger als 30 Tote pro 1 Million Einwohner, fast zwanzig mal weniger als die USA. Und die grosse Differenz kann hier nicht an der Erhebungsmethode der Corona-Toten liegen: Polen hat in den Monaten März, April und Mai sogar weniger Tote im Total gehabt, alle Todesursachen eingerechnet – es gab keine Übersterblichkeit, offensichtlich nicht zuletzt, weil der Lockdown auch viele Verkehrstote «verhindert» hat.

Ähnliche Zahlen weist die Tschechische Republik aus: Im GHS Index erst auf Platz 42, aber jetzt mit nur 30 Corona-Toten pro 1 Million Einwohner, auch hier ohne Übersterblichkeit. Auch andere osteuropäische Länder fallen mit relativ niedrigen Todeszahlen auf.

Medizin auf höchsten Niveau – aber wer hat Zugang?

Noch ist es nicht möglich, die unterschiedlichen Todeszahlen in den verschiedenen Ländern zu erklären. Sicher ist, dass Italien und Spanien als in Europa zuerst betroffene Staaten von der Epidemie einfach überrollt wurden. Andere Länder, in denen sich das Virus später ausbreitete, konnten bereits von Italien und Spanien einiges lernen.

Vielleicht liefert auch eine weitere Grafik von GHS Index einen Beitrag zur Erklärung: Der Zugang zur Gesundheits-Versorgung ist nämlich etwas ganz anderes. Da werden die USA nicht nur nicht gelb gezeigt, sondern tiefrot:

Bezüglich «Healthcare access», wie das im GHS Index heisst, stehen die USA ganz weit hinten auf Rang 175 von 195 Ländern!

Was nützen die besten Krankenhäuser, die besten Ärzte, die beste Medizinaltechnik, wenn die Leute es sich finanziell gar nicht leisten können, zum Arzt zu gehen, sich behandeln zu lassen, ins Krankenhaus eingeliefert zu werden, weil sie, aus finanziellen Gründen, nicht einmal versichert sind? In diesem Punkt sind gemäss GHS Index nur ganz wenige Länder «gut vorbereitet», nämlich die Niederlande, Portugal, Georgien, Nigeria und Thailand – eine bemerkenswert uneinheitliche Ländergruppe.

Die Schweiz erreicht im GHS Index den 13. Platz, schneidet beim Zugang zur Gesundheits-Versorgung aber ebenfalls mässig ab (Platz 103). Ausschlaggebend in der Bewertung scheint zu sein, dass die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Gesundheitswesen keine privilegierte Gesundheits-Versorgung geniessen.

Für Erklärungen ist es zu früh

Schon jetzt Spekulationen anzustellen, warum die Seuche in den einen Ländern recht dramatisch zugeschlagen hat, in anderen Ländern und bei rechtzeitigen Lockdown-Massnahmen aber deutlich verhaltener, wäre verfrüht und hier der falsche Ort. Was nicht heisst, dass es nicht schon jetzt bemerkenswerte Hinweise gibt. Auf «Social Europe» zum Beispiel machen Susanne Wixforth und Lukas Hochscheidt darauf aufmerksam, dass in vielen Ländern Europas der staatliche – und damit der solidarische – Anteil am Gesundheitswesen zugunsten des privaten – und also profitorientierten – Anteils zurückgegangen ist. Auch das sollte systematisch analysiert werden. Es darf nicht sein, dass künftig nur noch begüterte Leute den Arzt und das Krankenhaus in Anspruch nehmen können, während die Übrigen sich nicht einmal eine Versicherung leisten können – wie es in den USA leider schon stark der Fall ist.


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2 Meinungen

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 29.05.2020 um 11:29 Uhr
    Permalink

    In meiner Zeit in Burundi gab es da eine Cholera-Epidemie. Das hatte v.a. mit der Qualität des Trinkwassers etwas zu tun. Die Weltbank verlangte damals sogar, dass die öffentlichen Wasserstellen in den «populären» Quartieren zahlungspflichtig gemacht werden sollten, so dass wohl die Leute ihr Wasser wieder im nahen Fluss holen würden.

    Zum Glück stellten die Entscheidträger in den «guten» Quartieren schnell fest, dass auch Cholera «transportfähig» ist und dass angesteckte Hausangestellte auch für reiche Bürger kaum gesundheitsfördernd seien.

    Innerhalb einer Woche konnte der Dienst für Urbanismus der UNO die lokalen Entscheidträger überzeugen eine flächendeckende funktionierende Wasserversorgung zu sichern. Wo ein Wille, da ein Weg. Das dazu notwendige Verständnis war offenbar vorhanden. Dies scheint in den USA oder Brasilien nicht mehr gegeben. Die Bunkermentalität der Oberschicht in diesen Ländern glaubt wohl Krankheiten mit der Armee bekämpfen zu können.

    Wenn wir jeden Morgen die FA-18 über der Stadt hören, könnte man fast glauben, das es noch mehr von diesen Träumern gibt.

  • am 30.05.2020 um 04:15 Uhr
    Permalink

    Es stellt sich vorallem die Frage, wofür wurden diese Statistiken und Grafiken geschaffen. Wer verwendet diese? sollen damit Geldflüsse gesteuert werden – oder sollen Veränderungen angestossen werden. Wer hält sich denn an daraus abgeleitete Empfehlungen. Wieviel kostet dieser Papiertiger? Sammeln die Angestellten dort überhaupt irgendwo definierte Informationen? Empfinden die Mitarbeiter ihre Tätigkeit als Bullshit-Job oder erkennen sie, dass mit deren Daten etwas bewegt wird?

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