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Urs P. Gasche im Interview mit Tina Widmer von der Eidgenössischen Gesundheitskasse © Tim Loosli

«Die Kassen sollten Ärzte und Spitäler zum Klagen provozieren»

Red. /  Das BAG zwingt Krankenkassen, auch unwirtschaftliche Medikamente zu vergüten. Sie sollten sich wehren, findet Urs P. Gasche.

Red. Dieses Interview mit Urs P. Gasche führte Tina Widmer für das «Magazin der Eidgenössischen Gesundheitskasse EGK».
«Wir sind nicht weiter als vor zwölf Jahren»

Tina Widmer: Herr Gasche, Sie haben 2006 in einem Buch Akteure aus dem Gesundheitssystem ins Kreuzverhör genommen. Welche Einsichten haben dabei einen besonders bleibenden Eindruck hinterlassen?
Gasche: Die meisten Probleme waren schon vor zwölf Jahren die gleichen wie heute: Der damalige BAG-Präsident Thomas Zeltner hatte für eine Lockerung des Vertragszwangs plädiert, dem die Krankenkassen unterworfen sind. Professor Gianfranco Domenighetti wollte wissen, warum einige Chirurgen bei identischen Diagnosen viermal häufiger operieren als andere. Der ehemalige FMH-Präsident Hans-Heinrich Brunner hatte als damaliger BAG-Vizepräsident erklärt, die Pharmakonzerne würden das professionellste Lobbying aller Branchen betreiben. Vieles, was damals als Schwachstelle genannt wurde, ist heute nicht anders: Die drei Akteure könnten heute noch das Gleiche kritisieren und fordern.

Sie haben den «Kassensturz» genau bis 1996 moderiert, als die Krankenversicherung obligatorisch wurde. Wie haben sich die Themen im Gesundheitssystem seither verändert?
Das Obligatorium und die Pflicht aller Kassen, sämtliche Leute unabhängig von ihrem Gesundheitszustand jederzeit in ihre Kasse aufzunehmen, war ein grosser Fortschritt. Vorher konnte man seine Kasse kaum wechseln, auch wenn sie viel teurer war als eine andere.
«Verordnungen haben das Gesetz ausgehebelt»

Sehen Sie auch Schwächen?
Die kostentreibenden Schwächen des Systems sind geblieben. Nach Gesetz müssten alle Leistungen den WZW-Kriterien entsprechen, also wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein. Dieses Gesetz wird aber durch zahlreiche Verordnungen ausgehebelt. Wenn man das Gesetz respektierte, würde das System besser funktionieren.

Der schwarze Peter der steigenden Gesundheitskosten wird von einem Akteur des Gesundheitswesens zum nächsten geschoben.
Ich warte auf die Fernsehrunde, in der alle Akteure eingeladen sind, jedoch nur über Sparmöglichkeiten in ihrem eigenen Bereich sprechen dürfen. Dort kennen sie sich ja am besten aus! Aber bei dieser Vorgabe käme es wohl zu einer Runde des Schweigens, weil niemand im eigenen Bereich sparen will.

«Kassen müssten Zahlungen verweigern»
Was ist aus Ihrer Sicht bei den Krankenversicherern schlecht?
Ein Beispiel: Die Kassen müssen Hunderte von teuren, unwirtschaftlichen Co-Marketing-Medikamente zahlen, die identisch sind mit günstigeren Präparaten. Gegen diese Vorgabe haben die Kassen kein Beschwerderecht. Sie könnten sich aber auf das gesetzliche Wirtschaftlichkeitsprinzip berufen und nur noch die Kosten der günstigsten Präparate vergüten. Dann müssten Ärzte oder Spitäler gegen die Kasse klagen. Ärzte und Spitäler hätten vor Bundesgericht kaum eine Chance. Die Kassen dagegen könnten ihr Image als Verteidiger der Prämienzahlenden etwas aufpolieren.

Wenn Sie ganz allein bestimmen könnten, wie es weitergeht: Was würden Sie tun, um die Gesundheitskosten zu senken?
Heute stehen Ärzte und Spitäler finanziell besser da, wenn die Menschen krank sind, sich häufig operieren lassen und nicht so schnell gesund werden. Die Spielregeln sollten umgekehrt sein: Je schneller und nachhaltiger Kranke gesund werden, desto profitabler sollte es für Ärzte und Spitäler sein. Mit einem guten System pauschaler Bezahlungen wäre dies möglich.

Wie sehr muss man in Zusammenhang mit dem Gesundheitswesen aufpassen, was man schreibt, welche Umstände man anprangert?
Die Gefahr von Gerichtsklagen ist immer gleich gross, sobald man über Konzerne wie die Pharmaindustrie oder über Organisationen wie Verbände von Chirurgen publiziert. Es hilft, die Rechtslage zu kennen: Die Persönlichkeitsrechte und die Vorschriften zum unlauteren Wettbewerb. Wenn man gegen Mächtige schreibt, dann können sich diese – im Gegensatz zu Behörden – wehren.
Auf «Infosperber» veröffentlichte ich kürzlich den Namen eines uneinsichtigen Arztes, der gewerbsmässig Leistungen verrechnete, die er gar nicht erbracht hatte, und der seinen Patienten ihre Krankendossiers nicht aushändigt. Die berufliche Ehre dieses Arztes habe ich verletzt – im öffentlichen Interesse. Sein geschütztes Privatleben war nicht tangiert.

Viel unseriöse, bezahlte Informationen namentlich im Gesundheitswesen

Gleichzeitig konstruieren mittlerweile viele Medien, wenn immer es geht, einen Skandal. Welchen Medien beziehungsweise ihrer Berichterstattung kann man überhaupt noch trauen?
Denjenigen, die seriösen Journalismus betreiben. Das ist wie wenn man vor dem Kiosk steht, da muss man auch unterscheiden zwischen Schund und seriös. Das ist heute im Internet auch nichts anderes.
Aber es ist vielleicht schwieriger geworden, weil es mittlerweile viele bezahlte Inhalte in den Medien gibt, in Form von Publireportagen oder auch Beilagen, die zwar von Unternehmen finanziert sind, aber so daherkommen, dass die meisten Leser sie nicht von unbezahlten Inhalten unterscheiden können. Das kommt gerade im Gesundheitsbereich extrem häufig vor.

In einem Punkt sind sich alle Medien einig: Das Gesundheitswesen wächst und wächst und wird immer teurer.
Das stimmt. Es ist ein riesiges Business. Gleichzeitig wird gesagt, das sei nicht schlimm, denn es gehe ja um die Gesundheit. Da muss ich widersprechen. Es gibt genügend Beispiele wie Holland, Skandinavien oder auch England, wo das Gesundheitswesen wesentlich günstiger ist. Den Menschen dort, die in gleichen sozio-ökonomischen Verhältnissen leben, geht es gesundheitlich mindestens so gut wie denen in der Schweiz.
Enorme Kosten- und Behandlungsunterschiede lassen sich auch bei uns zwischen den Kantonen beobachten – offensichtlich ohne Einfluss auf die Gesundheit.
Für die Schweiz wäre mehr Wettbewerb gut. Im Moment müssen ja alle Kassen dieselbe Leistung zum gleichen Preis anbieten. Dafür würde eine Einheitskasse genügen. Aber Wettbewerb unter grossen Kassen wäre besser – allerdings mit Vertragsfreiheit wie in Holland. Wettbewerb setzt allerdings Transparenz über die Behandlungsqualität voraus.

Stellen die Medien ein verzerrtes Bild der Situation dar?

Häufig schon. Zu wenige Journalistinnen und Journalisten kennen diese Branche genügend, um bei deren Verlautbarungen zwischen den Zeilen zu lesen und kritische Fragen zu stellen. Manchmal wird nicht einmal klar unterschieden zwischen den Kosten der Grundversicherung und anderen Gesundheitskosten.

Ein Problem in diesem Zusammenhang ist, dass Leistungsstreichungen bei den Schweizern sehr unpopulär sind. Ist die fehlende Transparenz in Bezug auf die Qualität der Leistungen ein Grund, weshalb Leistungskürzungen so unpopulär sind?

Wenn die Leute wüssten, dass es in ihrem nahen Regionalspital nach Operationen, die dort nur sehr selten durchgeführt werden, zu deutlich mehr Todesfällen und Komplikationen kommt als in einem spezialisierten Spital, würden sie sich sicher nicht gegen die Schliessung dieser Abteilung in «ihrem» Spital wehren.
Am intelligentesten spart man ohne Zweifel Kosten, wenn man für eine bessere Behandlungsqualität sorgt. Nach einer seriösen Schätzung des Bundesamts für Gesundheit erleiden in Schweizer Spitälern jedes Jahr über 60’000 Patientinnen und Patienten einen vermeidbaren gesundheitlichen Schaden, der dazu führt, dass sie nochmals operiert oder nachbehandelt werden müssen.
Wir sollten ein Spital nicht danach beurteilen, ob das Essen gut ist, die Aussicht schön oder es nahe am Wohnort liegt.
Die Krankenkassen sollten noch lauter als bisher fordern, dass die Resultate der Behandlungen vergleichbar erfasst und publik gemacht werden. Jedenfalls bei allen Behandlungen, bei denen dies möglich ist.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

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Eine Meinung zu

  • am 3.04.2018 um 17:45 Uhr
    Permalink

    Danke für dieses Interview. Ich stelle auch immer wieder fest, dass Publireportagen «umsatzfördernd» statt der Gesundheit der Leser dienlich sind. Dabei wird gerne Bezug auf «Studien» genommen ohne Angabe von Quellen und Verfasser. Immer wieder profilieren sich damit auch Pharmafirmen.
    Qualitätsbeurteilungen sind zwar gut und recht. Mangelhafte Leistungen werden zwar kritisiert aber ohne die Namen zu nennen. Das hilft dem Leser nichts.

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