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Auch Hugenotten, hier 1698 auf dem Lac Léman, prägten die Migrationsgeschichte © Deutsch. Hugenottenmuseum

Hungernde aus Schweden flüchteten nach Schwyz

Beat Allenbach /  Die Schweizer Migrationsgeschichte *) von den Anfängen bis heute öffnet einen neuen, überraschenden Blick auf unser Land.

Eine verheerende Hungersnot in Skandinavien im 14. Jahrhundert zwang viele Menschen, Richtung Süden zu flüchten. Nach einer abenteuerlichen Reise und mehreren Scharmützeln erreichten zahlreiche Flüchtlinge den Vierwaldstättersee, das heisst das Gebiet, das heute den Kanton Schwyz bildet. Dort liessen sie sich nieder.

Eine Legende, wie jene von Wilhelm Tell? Nein, denn Historiker fanden Dokumente, wonach 1531 an der Landsgemeinde von Schwyz die Behörden die versammelten Bürger aufforderten, täglich für ihre Vorfahren zu beten, die aus Schweden geflohen waren. Das ist zu lesen in der Migrationsgeschichte von André Holenstein, Patrick Kury und Kristina Schulz.

Migration hat es schon immer gegeben

Die Einwanderung und die Auswanderung, so erfährt man in diesem anregenden Buch, ist ein Phänomen, das von der Frühzeit bis heute die Schweiz begleitet und für unser Land charakteristisch ist. Die drei Historiker beschreiben anhand einer Vielzahl von Dokumenten die verschiedenen Formen der Migration und zeigen auf, dass die Auswanderung nicht allein die Folge von Armut war.

Oft suchten Schweizer in der Fremde eine Gelegenheit, um als Kaufleute, Handwerker oder Unternehmer tätig zu sein. Die Schweiz hingegen benötigte in zahlreichen Epochen gut qualifizierte Personen, aber auch schlicht Arbeitskräfte. Wer glaubt, die Einwanderung sei ein Merkmal der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, ist auf dem Holzweg.

Die Helvetier, die einen Teil des Mittellandes besiedelt hatten, brannten ihre Siedlungen nieder und wollten die Schweiz verlassen, um in eine mildere und fruchtbarere Gegend des heutigen Frankreich auszuwandern. Sie wurden jedoch im Jahr 58 v.Chr. bei Bibracte vom römischen Feldherrn und späteren Kaiser Julius Cäsar geschlagen und mussten, stark geschwächt, ins Mittelland zurückkehren. Ist es nicht sonderbar, dass ausgerechnet der Name der Helvetier, die das Land verlassen wollten, aber in die Schweiz zurückkehren mussten, zum Synonym für Schweizer wurde?

Zürich und andere Städte brauchten neue Mitbürger

Bereits vor Jahrhunderten hatten die Schweizer Städte neue Mitbürger nötig. André Holenstein zitiert eine Studie über Zuwanderung und Einbürgerung in der Stadt Zürich von Bruno Koch. Mitte des 14. Jahrhunderts zählte die Stadt ungefähr 5’300 Einwohner, und in den darauffolgenden 200 Jahren wurden ebenso viele neue Mitbürger aufgenommen. In jener Zeit war die Sterblichkeit in den Städten höher als auf dem Land. Es war deshalb lebenswichtig, dass die Städte Menschen aufnahmen und ihnen danach das Bürgerrecht verliehen.

Zürich als Handels- und Handwerkerstadt zog unternehmenslustige und qualifizierte Menschen aus nah und fern an. Dank ihrer Tätigkeit und ihrem Erfolg integrierten sie sich in die Gesellschaft; mehrere gehörten später zu den führenden Familien wie die Bodmer und Pestalozzi (aus Italien), die Göldi und die Heidegger (aus Deutschland).

Schweizer emigrierten in den Krieg

Aufschlussreich ist ebenfalls das Kapitel über die jungen Emigranten, die sich vom 13. bis zum 18. Jahrhundert in grosser Zahl als kampfbereite und mutige Soldaten an Heerführer verdingten – oder verdingt wurden. Zahlreiche Mitglieder massgebender Familien aus den ländlichen Kantonen der alten Eidgenossenschaft und aus Bern waren selber unternehmerische Offiziere, die für ausländische Kriegsherren Soldaten rekrutierten, sie ausrüsteten und ausbildeten.

Das war zeitweise ein einträgliches Geschäft, und es entwickelten sich eigentliche Allianzen mit Fürstenhäusern. Die wichtigste war jene mit den Königen von Frankreich, welche diesen die Rekrutierung von Soldaten erleichterte und gleichzeitig den herrschenden Familien in einigen Kantonen finanzielle Vorteile brachte. Erstmals wurde ein Vertrag mit Frankreich im Jahr 1521 abgeschlossen, und er endete erst nach der französischen Revolution, als 1792 die junge Republik Frankreich das Abkommen kündigte.

Die französische Revolution und der Wandel zu nationalen Armeen in Verbindung mit der Wehrpflicht beschleunigte den Niedergang des Solddienstes. Die liberal-radikalen Gründer des Bundesstaates verurteilten den Dienst in fremden Armeen als einer souveränen Republik unwürdig und verboten neue Allianzen in der Bundesverfassung von 1848 und per Gesetz im Jahr 1859.

Vernetzte Geschäftsleute in vielen Hafenstädten

Viele spannende Aspekte der Migration lassen sich hier aus Platzgründen nur kurz erwähnen. Zum Beispiel die Auswanderung von zahlreichen Unternehmern und Handwerkern, die sich ab dem 17. Jahrhundert in Hafenstädten wie Triest, Livorno, Marseille, Amsterdam und Hamburg niederliessen. Sie beteiligten sich dank ihrer vielen Kontakte zur lokalen Geschäftswelt sowie zu ihrer Heimat an der ersten Globalisierung mit Exporten von Käse und Textilien aus der Schweiz. Überraschend ist auch der Erfolg der Zuckerbäcker und Caféhaus-Besitzer aus dem Kanton Graubünden, die in vielen Städten – von Budapest bis Lissabon, von Palermo bis St. Petersburg – ihre Geschäfte betrieben.

Im 18. Jahrhundert gab es in der Schweiz viel mehr reformierte Theologen als Pfarrstellen. Manche bildeten sich weiter und fanden im Ausland bei adeligen oder grossbürgerlichen Familien als Hauslehrer eine Stelle. Als Beispiel wird oft der Waadtländer Frédéric-César de la Harpe zitiert, der während zwölf Jahren am Hof der Romanows in St. Petersburg als Erzieher von Alexander wirkte, der 1801 russischer Zar wurde. Dieser beteuerte stets, alles was er wisse, habe er einem Schweizer zu verdanken.

Zahlreiche gebildete Frauen arbeiteten ebenfalls als Erzieherinnen und Gouvernanten bei Adeligen und begüterten Bürgern. Das war eine der wenigen Tätigkeiten, die es unverheirateten Frauen erlaubte, einer Arbeit nachzugehen, die ihren geistigen und kulturellen Fähigkeiten entsprach.

Hunger führte zur Auswanderung nach Amerika

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte ein Reihe von regenreichen, sonnenarmen Jahren zu Überschwemmungen, Missernten und Hungersnöten. Das veranlasste viele arme Familien in ländlichen Gebieten, ihre Heimat zu verlassen, vor allem Richtung Amerika. Einige Kantone und Gemeinden unterstützten das Auswandern von armen Familien finanziell.

Ein Beispiel: Im Auftrag des Glarner Auswanderungsvereins wurde im amerikanischen Wisconsin ein Gebiet von 485 Hektaren gekauft, und dort traf 1845 eine erste Gruppe von über hundert Siedlern ein. Sie gründeten New Glarus. Diese Ortschaft, die heute über 2’000 Einwohner zählt, zieht mit «Swiss music, Yodel and Dances», «swiss Restaurants» und dem «Wilhelm-Tell-Festival» seit Jahren viele Touristen an.

Erst im 20. Jahrhundert wird die Schweiz vorwiegend zu einem Einwanderungsland. Die starke Zuwanderung vor dem Ersten Weltkrieg von Italienern, Deutschen und Franzosen bewog den Zürcher Armensekretär Carl Alfred Schmid im Jahr 1900 dazu, eine Schrift mit dem Titel «Unsere Fremdenfrage» zu verfassen; in dieser wird erstmals der Begriff «Überfremdung» verwendet.

Damals war man weniger über die vielen Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund besorgt als über die Tatsache, dass hier eine grosse Zahl von Menschen ohne politische Rechte lebte. Es wurde über die erleichterte Einbürgerung, ja sogar über die Zwangseinbürgerung nachgedacht, um die Zahl der politisch rechtlosen Einwohner in der Schweiz zu verringern. Diese Ideen wurden jedoch nicht umgesetzt.

Weil vor dem Ersten Weltkrieg der Nationalismus aufflammte, stand in der Nachkriegszeit bis heute die Kontrolle und die Beschränkung der Einwanderung im Vordergrund. Schon während dieses Krieges war der hohe Anteil der ausländischen Bevölkerung von 15,2 Prozent im Jahr 1914 stark gesunken. Grund: Die europäischen Staaten hatten ihre Bürger aus dem Ausland ab- und als Soldaten in ihre Armeen eingezogen.

Grosse Freiheit dank Niederlassungsverträgen

Die Einwanderung in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg dürfte vielen Leserinnen und Lesern bekannt sein, weshalb ich dieses Kapitel ausblende. Einige Aspekte der Migration in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind hingegen in Vergessenheit geraten; abschliessend fasse ich sie zusammen.

In jener Zeit hatte die Schweiz mit zahlreichen europäischen und amerikanischen Staaten Niederlassungsverträge abgeschlossen. Als diese Abkommen in Kraft traten, wanderten noch mehr Schweizer aus, als Angehörige anderer Staaten in unser Land einreisten. Der Bundesrat versuchte den Schweizern in den Vertragsstaaten möglichst gleiche Rechte wie den Einheimischen zu garantieren – mit Ausnahme der politischen Rechte. Die gleichen Regeln galten damals auch für die Einwanderer aus jenen Staaten.

Das bedeutete, dass sich diese einwandernden Menschen in der Schweiz frei bewegen konnten: Sie durften arbeiten, als Handwerker oder als Unternehmer tätig sein, ein Geschäft oder eine Fabrik eröffnen. Die Freiheit der Einwanderer wie der Auswanderer war damals grösser als jene, welche heute das Abkommen über die Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union gewährt. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts übertraf die Einwanderung jedoch die Auswanderung.

Das Buch der drei Historiker über die Migration erlaubt einen neuen Blick auf unsere Geschichte. Überdies ist daran zu erinnern, dass gegenwärtig über 720’000 Schweizerinnen und Schweizer im Ausland leben. Von diesen Auslandschweizern haben gut 70 Prozent auch die Staatsbürgerschaft ihres Gastlandes, sind also Doppelbürger.

*) Schweizer Migrationsgeschichte von André Holenstein, Patrick Kury und Kristina Schulz. Verlag HIER UND JETZT, Baden 380 Seiten; CHF 39.–.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

Zum Infosperber-Dossier:

Afghanischer_Flchtling_Reuters

Migrantinnen, Migranten, Asylsuchende

Der Ausländeranteil ist in der Schweiz gross: Die Politik streitet über Asyl, Immigration und Ausschaffung.

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5 Meinungen

  • am 16.09.2018 um 10:14 Uhr
    Permalink

    Die Sache mit den Schweden steht so sicher nicht im Buch. Dass die Schwyzer 1531 geglaubt haben, von Schweden des 4. (nicht 14.) Jahrhunderts abzustammen, ist natürlich kein Beweis, dass dem so ist. Vgl. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D3371.php, Abschnitt 1.1.

  • am 16.09.2018 um 14:04 Uhr
    Permalink

    Interessanter Rückblick, doch gehört wohl auch eine Standortbestimmung hin:
    »…Innerhalb von einem Jahr hat die Ausländerquote um 0,3% zugenommen (2014 lag sie bei 24,3%). Mit 19 Zuwandernden auf 1000 Einwohnerinnen und Einwohner im Jahr 2014 liegt die Schweiz an der Spitze der europäischen Einwanderungsländer, weit vor Deutschland (11), dem Vereinigten Königreich (9,8), Spanien (6,6) oder Frankreich (5,1). …"
    Quelle: https://www.swissinfo.ch/ger/gesellschaft/einwanderungs-serie-teil1-_wer-sind-die-2-millionen-auslaenderinnen-und-auslaender-in-der-schweiz/42411946
    Den 720’000 Schweizern im Ausland, die Mehrheit Doppelbürger, stehen 2 Mio. Ausländer (nicht eingebürgert) in der kleinen Schweiz gegenüber.
    Der hohe Anteil von 15% in 1914 liegt jetzt bei fast 25%.
    Dies alles zur Ergänzung.

  • Portrait_BeatAllenbach
    am 18.09.2018 um 12:16 Uhr
    Permalink

    @Thomas Schmid: Die Herkunftssage, die die Schwyzer von den Schweden abstammen lässt, steht im Weissen Buch von Sarnen. Das steht fest.
    Dass die Schwyzer dies noch 1531 so geglaubt haben, ist durch einen Entscheid der Landsgemeinde bezeugt.
    Jetzt kommt das grosse «Aber»: Niemand behauptet heute, dass diese Herkunftssage die geschichtliche Wahrheit beschreibt. Dem Autor der Migrationsgeschichte geht es nicht darum. Vielmehr wollte er mit diesem Hinweis zeigen, dass in Schwyz im frühen 16. Jh. die (imaginierte) Abstammung von Migranten, von einem Volk, das gewandert ist, nichts Ehrenrühriges an sich hatte – im Gegenteil. Die Schwyzer waren stolz darauf, sich als Nachkommen von Migranten zu imaginieren – ob sie es auch tatsächlich waren, ist eine andere Geschichte.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 26.09.2018 um 10:37 Uhr
    Permalink

    Ein weiterer Text zur Herkunft der Schwyzer und Oberhasler stammt von einem Beromünsterer Chorherrn, Heinrich von Gundelfingen, auch erster Biograph von Bruder Klaus, ebenfalls z.Z. des Weissen Buches. Betr. Migration waren die Walser Repräsentanten einer alpinen Binnenmigration, denen auch der Name des Gotthardpasses sowie der Durchbruch der Schöllenenschlucht verdanken ist. Sie siedelten an den schlechtesten Plätzen, so in Graubünden. Zzum Verständnis der älteren Schweizer Migrationsgeschichte, auch der Hugenottengeschichte, gehört, dass es oft Migration in vergleichsweise leere Räume war und dass man sich selber durchbringen musste. Daneben war mal ein Vergleich von alt Bundeskanzlerin Huber von heutigen Geflüchteten mit Bourbakis, weil diese zwar mit Ausnahme Nidwaldens hochwillkommen waren, auch von den Gemeinden betreut wurden und mit Dankbarkeitsadressen nach 6 Wochen wieder verabschiedet, insofern waren die Bourbakis das Gegenteil von Einwanderungsmigranten. Die Migrationsgeschichte ist aber lehrreich, weil es für die gegenwärtige Massenmigration aus Afrika sowie aus anderen Weltteilen kein historisches Beispiel gibt; sie ist auch zahlenmässig klar intensiver als die Völkerwanderung und Landnahmen der Alemannen vor 1700 Jahren. Für die Hugenotten von Genf 1685 galt noch: «lieber hungern, als dir, Gaststadt Genf, nicht alles wieder zurückzuerstatten, was du uns gewährt hast.» Dabei war auch die damalige Einwanderung hochumstritten, führte zu Demokratieabbau in Genf.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 26.09.2018 um 10:37 Uhr
    Permalink

    Ein weiterer Text zur Herkunft der Schwyzer und Oberhasler stammt von einem Beromünsterer Chorherrn, Heinrich von Gundelfingen, auch erster Biograph von Bruder Klaus, ebenfalls z.Z. des Weissen Buches. Betr. Migration waren die Walser Repräsentanten einer alpinen Binnenmigration, denen auch der Name des Gotthardpasses sowie der Durchbruch der Schöllenenschlucht verdanken ist. Sie siedelten an den schlechtesten Plätzen, so in Graubünden. Zzum Verständnis der älteren Schweizer Migrationsgeschichte, auch der Hugenottengeschichte, gehört, dass es oft Migration in vergleichsweise leere Räume war und dass man sich selber durchbringen musste. Daneben war mal ein Vergleich von alt Bundeskanzlerin Huber von heutigen Geflüchteten mit Bourbakis, weil diese zwar mit Ausnahme Nidwaldens hochwillkommen waren, auch von den Gemeinden betreut wurden und mit Dankbarkeitsadressen nach 6 Wochen wieder verabschiedet, insofern waren die Bourbakis das Gegenteil von Einwanderungsmigranten. Die Migrationsgeschichte ist aber lehrreich, weil es für die gegenwärtige Massenmigration aus Afrika sowie aus anderen Weltteilen kein historisches Beispiel gibt; sie ist auch zahlenmässig klar intensiver als die Völkerwanderung und Landnahmen der Alemannen vor 1700 Jahren. Für die Hugenotten von Genf 1685 galt noch: «lieber hungern, als dir, Gaststadt Genf, nicht alles wieder zurückzuerstatten, was du uns gewährt hast.» Dabei war auch die damalige Einwanderung hochumstritten, führte zu Demokratieabbau in Genf.

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