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Synes Ernst, Spiel-Experte © cc

Der Spieler: Bessere Spiele und bessere Spieler

Synes Ernst. Der Spieler /  Ein Wechsel an der Spitze der Jury „Spiel des Jahres“ ist Anlass, über die Spielekritik nachzudenken. Es besteht Nachholbedarf.

Seit 2011 stand der Zürcher Spielekritiker Tom Felber an der Spitze der Jury „Spiel des Jahres“. Jetzt hat er genug und ist auf Ende September vom Amt des Vorsitzenden zurückgetreten. Man verliere mit ihm „ein Vorbild als Spielekritiker“, heisst es in der Würdigung auf der Homepage des Vereins. Und weiter: „Der Name Tom Felber steht für eine kritische, ehrliche, unvoreingenommene Spielekritik. Felbers Ehrenkodex und seine vorgelebte Moral garantieren, dass es in seinen Texten immer um die Sache und um die Kritik, und nicht um die Pflege persönlicher Eitelkeiten geht.“

Keine Theorie zur Spielekritik

Wer sich nun, angeregt durch die Lektüre dieses Zitats, intensiver mit der Spielekritik auseinandersetzen und allenfalls eine Theorie dieser Gattung zu Gemüte führen möchte, läuft ins Leere. Über Literatur-, Kunst-, Theater- und Filmkritik findet man ganze Bücher, seitenweise Abhandlungen oder Wikipedia-Einträge. Für die Spielekritik gibt es das nicht. Eine echte Enttäuschung. Denn für mich ist das Spiel wie Literatur, Kunst, Film und Theater Teil unserer Kultur. Es ist wie diese Ausdruck menschlicher Kreativität und Zivilisation, wie diese ein Spiegel unserer Gesellschaft. Also verdiente das Spiel eine Kritik, die den Vergleich mit der Literaturkritik nicht zu scheuen braucht.

Für Thomas Anz, den Verfasser eines Standardwerks über Literaturkritik, ist diese „die informierende, interpretierende und wertende Auseinandersetzung vor allem mit neu erschienener Literatur in den Massenmedien“. Eine zentrale Aufgabe der Literaturkritik ist die Vermittlung zwischen Autor und Publikum. Dazu die bekannte Literaturkritikerin Sigrid Löffler: „Der Kritiker schreibt nicht um des Autors willen, sondern um des Publikums willen.“ Wer Literaturkritiken verfasst, ist frei in der Art und Weise, wie er diese Vermittlungsaufgabe erfüllen will. Immer aber ist die Arbeit geprägt von der Persönlichkeit des Kritikers, von seinem Charakter und seiner Professionalität. Leidenschaft und Emotionen gehören auch dazu, wie sie etwa Marcel Reich-Ranitzki, für Generationen von Leserinnen und Lesern der Literaturkritiker, vorgelebt hat. Entsprechend selbstbewusst hatte er denn auch umschrieben, was er in seinem Beruf erreichen wollte: „Bessere Bücher und bessere Leser!“

Sachkompetenz als Grundlage

Ähnliches möchte ich auch für die Spielekritik formulieren: „Bessere Spiele für bessere Spieler!“ Kritik, die solche Ansprüche erhebt, muss umgekehrt auch gewisse Anforderungen erfüllen. Die Grundlage für eine Spielekritik, die diesen Namen auch verdient, ist die Kenntnis des Gegenstands, über den man schreibt (oder ein Video macht). Dazu muss man ein Spiel mehrmals in verschiedenen Gruppen in unterschiedlicher Zusammensetzung spielen. Welche Potenziale in einem Spiel stecken, offenbart sich erst nach mehreren Runden. Was in einer Gruppe für tolle Stimmung sorgt, kann in einer anderen total in die Hosen gehen. Wer glaub- und vertrauenswürdige Aussagen über einen Titel machen will, besonders auch über seine Langzeitwirkung, muss eins: spielen, spielen und nochmals spielen. Ich staune, wie oft diese Grundvoraussetzung für eine kompetente Kritik missachtet wird. Kaum ist ein Rezensionsexemplar auf dem Tisch gelandet, wird schon eine Besprechung rausgejagt, schnell schnell, aber von vertiefter Auseinandersetzung keine Spur.

Die oberflächliche, schnelle Besprechung erkennt man meistens daran, dass sie schwergewichtig die Spielanleitung nacherzählt. Langweilige Schachtelhuberei ist das, überflüssig dazu, da heute jeder Verlag die Regeln seiner Spiele ins Internet stellt oder in einem Video ausführlich zeigt, wie ein Spiel läuft. Ohne Spielregeln gibt es zwar kein Spiel, aber die Spielregeln allein machen das Spiel nicht aus, bei weitem nicht. Kommt hinzu, dass man alle technischen Details schon längst wieder vergessen hat, wenn man den „besprochenen“ Titel selber einmal spielen will. Ganz anders, wenn ich in der Kritik gelesen habe, welche Emotionen ein bestimmtes Spiel ausgelöst hat und warum – daran erinnere ich mich noch lange. Fazit: Die gute Kritik stellt das Spielerlebnis ins Zentrum. Das macht sie lebendig und verleiht ihr im Gegensatz zum Nachbeten der Spielregeln Individualität und Farbe. Vorausgesetzt, die Autorin oder der Autor verfügen über die notwendige Sprachkompetenz, um die durch das Spiel ausgelösten Emotionen auch angemessen zu beschreiben.

Den Blick öffnen

Wie von einer guten Buchkritik erwarte ich von einer guten Spielerezension, dass sie das besprochene Objekt einordnet. Welches ist seine Position innerhalb der Gattungsgeschichte? Ist es innovativ und setzt es Standards für die künftige Entwicklung der Gattung? Gibt es ein Merkmal, das es einzigartig macht? Welches sind seine Verwandten und wo steht es im Vergleich zu ähnlichen Titeln? Doch der Innenblick auf das Spiel reicht mir noch nicht. Ich möchte, dass die Spielkritik den Blick für andere Bereiche der Kultur öffnet und mir zeigt, ob und welche thematischen Beziehungen zwischen dem Spiel und Werken aus Literatur, Theater oder Film bestehen. Diese Integrationsleistung ist zwar schwierig, aber warum kann die Spielkritik nicht, was in der Literaturkritik zum Handwerk gehört?

Keine Kritik ohne Bewertung – auch das gehört zum Handwerk. Wie aber muss es darum bestellt sein, wenn über ein Spiel gesagt wird, es sei „nett“? Da sträuben sich meine Nackenhaare. Das Eigenschaftswort „nett“ ist zwar positiv belegt, aber ich würde das Spiel trotzdem nicht kaufen. Ganz einfach, weil sich der Kritiker oder die Kritikerin hinter dem Begriff verstecken und sich – weil er es mit niemandem verderben will – nicht trauen, die Wahrheit zu sagen. Ein „nettes“ Spiel ist nämlich in der Regel weder gut noch schlecht, nichts Besonderes, Dutzendware halt, die ihren Preis nicht wert ist.

Die Nähe als massives Risiko

Ich will von der Kritik keine Wischiwaschi-Aussagen, sondern ein eindeutiges Urteil, so subjektiv es auch ist. Solange für das Publikum eine Kritik nachvollziehbar ist, egal ob Verriss oder Empfehlung, solange weiss es diese auch einzuordnen. Und das, obwohl es allgemeingültige Kriterien für die Spielkritik nicht gibt. Umso wichtiger ist für mich, dass Kritikerinnen und Kritiker bei ihrer Tätigkeit eine klare Linie verfolgen. Das bewahrt sie vor dem Abgleiten in die Beliebigkeit. Die klare Linie ist neben der Fach- und Sachkompetenz auch die Voraussetzung dafür, dass ich mich auf eine Wertung verlassen kann, unabhängig davon, ob ich sie teile oder nicht.

Eine klare Linie wiederum kann nur verfolgen, wer nach allen Seiten gleiche Distanz hält und auf keinerlei Interessen, ausser auf jene seines Publikums, Rücksicht nimmt. Damit sind wir bei der Unabhängigkeit, einem im Bereich der Spiele heiklen Thema. Die Branche ist relativ klein und überschaubar, man kennt einander sehr gut, auch dank des gemeinsamen Spielens. Der Umgang miteinander ist in der Regel sehr kollegial und freundschaftlich. Kommt hinzu, dass im Spielebereich das Selbstverständnis weit verbreitet ist, wonach die Branche auf der einen und die Kritiker auf der anderen Seite ein gemeinsames Ziel zu verfolgen hätten – die Förderung des Spielens in der Gesellschaft. Die Nähe, die hier sichtbar wird, ist ein massives Risiko für eine unabhängige Spielkritik.

„Bessere Spiele und bessere Spieler“: Damit das einmal erreicht werden soll, braucht es auch eine … nein, nicht „bessere“, sondern einfach eine Spielkritik, die nicht mehr zur Literaturkritik & Co. emporblicken muss, sondern sich auf der gleichen Höhe bewegt.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.

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Spielen macht Spass. Und man lernt so vieles. Ohne Zwang. Einfach so.

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