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Hundertausende verbringen viele Jahre ihres Lebens in Ketten, berichtet «Human Rights Watch». © Human Rights Watch (Videoscreenshot)

Ein Leben in Ketten

D. Gschweng /  Psychosozial Beeinträchtigte werden in vielen Ländern der Welt noch immer eingesperrt, festgebunden oder angekettet.

In mehr als 60 Ländern weltweit werden Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen an Bäume gekettet, eingesperrt oder festgebunden. Hunderttausende verbringen Jahre ihres Lebens in Ketten, schätzt «Human Rights Watch» (HRW) in dem Anfang Oktober publizierten Bericht «Living in Chains».

In vielen Gemeinschaften sei das ein offenes Geheimnis, sagt Kriti Sharma, die Autorin des Reports. Die Praxis, Menschen mit mentalen Problemen in Ställe zu sperren oder unter freiem Himmel anzubinden, sei weit verbreitet. Dahinter steht die Sorge, die Betroffenen könnten sich oder andere verletzen oder der Glaube, sie seien verhext oder von Dämonen besessen.

«Behandlung» durch Prügel, Kräuter und Hunger

Zur Stigmatisierung kommt die in vielen Ländern mangelhafte psychiatrische Gesundheitsversorgung. In etlichen religiösen und öffentlichen Einrichtungen geht es den Kranken nicht besser. Sie müssen an Ritualen teilnehmen, fasten oder werden gezwungen, alle Arten von «Medizin» einzunehmen, sind nicht selten sexueller und psychischer Gewalt ausgesetzt.

«Sie gaben uns Weihwasser, etwas, das Teufelsweihrauch genannt wird, und manchmal peitschten sie uns aus, das waren die Behandlungen», berichtet Benjamin Ballah, der als 23-Jähriger fast ein Jahr in einem kirchlichen «Heilungszentrum» in Liberia angekettet war. «Teufelsweihrauch war eine Flüssigkeit. Sie schlugen dich nieder und gaben es dir in die Nase, es war sehr schmerzhaft».

Vom Bruder gerettet

Ballah hatte Glück – nach 11 Monaten brachte sein Bruder ihn in das psychiatrische Krankenhaus in der Hauptstadt Monrovia, wo seine Depression behandelt wurde. Der Lehrer setzt sich heute für die Rechte von psychosozial eingeschränkten Menschen ein.

Seine Geschichte ist kein Ausnahmefall. «Human Rights Watch» geht aufgrund eigener Nachforschungen und in Bezug auf Medienberichte von Zehntausenden oder Hunderttausenden aus, die in China, Indonesien, Indien und anderen Ländern in Ketten leben.

Die Organisation hat mit mehr als 350 Betroffenen gesprochen und 420 Familienangehörige, Heiler, Angestellte von Einrichtungen, Beamte und Aktivisten in 110 Ländern befragt. Die Kranken haben Depressionen, schizophrene Schübe oder Traumata, manche von ihnen sind noch Kinder, viele haben Narben von Fesseln oder Misshandlungen.

Eine Praxis, die im Verborgenen stattfindet

«Shackling», wie das Anbinden und Einsperren von mental Beeinträchtigten zusammengefasst wird, kommt in allen sozioökonomischen Klassen vor. Angehörige wissen oft keinen anderen Ausweg, kennen psychosoziale Betreuungsangebote nicht oder geben dem Druck der Gemeinschaft nach.

Offizielle Zahlen gibt es kaum. «Shackling» ist eine Praxis, die im Verborgenen stattfindet, manchmal wissen nicht einmal Familienangehörige und Nachbarn Bescheid.

In vielen Ländern werden «Prayer Camps» und private Institutionen nicht staatlich erfasst, obwohl sie mit der «Behandlung» und Unterbringung von psychisch Kranken viel Geld verdienen.

Frauen sind häufiger betroffen

Weltweit sind schätzungsweise 792 Millionen Menschen oder jeder Zehnte vorübergehend oder dauerhaft psychosozial eingeschränkt, und auch etwa eines von fünf Kindern. In Konfliktgebieten ist der Anteil sogar doppelt so hoch.

Besonders betroffen sind Frauen. Depressionen, die Hauptursache für solche Einschränkungen, kommen bei ihnen doppelt so häufig vor wie bei Männern. Wegen der häufiger auftretenden sexuellen Gewalt sind Frauen auch viel öfter von posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSD) betroffen.

Von den 60 Ländern, in denen Human Rights Watch Beweise für «Shackling» gefunden hat, hat nur eine Handvoll Gesetze oder Richtlinien, die die Fesselung von Menschen mit psychischen Erkrankungen explizit verbieten.

Zögerlicher Fortschritt von Programmen und Gesetzgebung

Die Umsetzung erweist sich als schwierig. In Indien, das es seit 2017 verbietet, «Menschen mit psychischen Erkrankungen in irgendeiner Weise anzuketten», gab es beispielsweise bisher nur ein Gerichtsurteil, das den Bundesstaat Uttar Pradesh betraf.

In China wurden in nationalen Programmen einige hundert Angekettete von ihren Ketten befreit – von vermutlich Hunderttausenden. Fortschritte durch Programme gibt es in Indonesien und in afrikanischen Ländern, dokumentiert «Human Rights Watch» in einem Video.

Update: am 7. Dezember 2020 ist dieser Artikel erschienen, der sich auf eine BBC-Dokumentation bezieht: «Going undercover in the schools that chain boys»


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