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Hier sitzt die ungezügelte Macht des Geldes: Der Börsentempel in der New Yorker Wall Street. © apascinto/flickr/cc

Die Finanzkrise entmachtet die Demokratie (Teil 1)

Roman Berger /  Der Kapitalismus steckt nicht nur in einer vorübergehenden Sinn- und Imagekrise. Er reisst auch die Demokratie in den Strudel.

Die Eingeständnisse prominenter Konservativer, der Kapitalismus habe keine Zukunft mehr, erregten vor einem Jahr Erstaunen. Inzwischen wurden die Aussagen verdrängt oder vergessen. Zur Erinnerung: «Das kapitalistische System passt nicht mehr in die Welt», lautete das Verdikt von Klaus Schwab, dem Chef des Davoser Weltwirtschaftsforums. Der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, provozierte mit der Frage: «Hat die Linke am Ende doch recht ?».
Der Chef des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts, der Schweizer Wirtschaftswissenschafter Thomas Straubhaar, schockte seine Gemeinde mit dem Geständnis: «Ich traue den alten Weisheiten nicht mehr, die mich geprägt haben (…) die Deregulierung des Marktes ist zu weit gegangen. Mittlerweile entstehen mehr Kosten als Gewinne durch den Abbau von Regeln.» Und der bekannte britische Publizist Charles Moore sprach von einer «Russifizierung» der westlichen Demokratie. Der überzeugte Konservative hat dabei die immer schärfer werdende Gesellschaftsspaltung vor Augen.
Kein Zweifel, der real existierende Kapitalismus ist in einer Sackgasse angelangt. Und dies nur 20 Jahre nach dem «Sieg im Kalten Krieg», der den kapitalistischen Kräften zunächst freie Bahn geschaffen hatte. Die Euphorie über das vermeintliche «Ende der Geschichte» war offensichtlich von kurzer Dauer.
FT stellt Kapitalismus zur Debatte
Das verstand auch die «Financial Times» (FT). Europas führende Wirtschaftszeitung nahm die «Occupy-Bewegung» zum Anlass, bekannte Oekonomen, Politiker und CEO’s zum Thema «Capitalism in Crisis» debattieren zu lassen. Von einer Debatte konnte kaum die Rede sein. Für die mehrheitlich aus dem angelsächsischen Raum stammenden AutorInnen steht fest: Die «Krise des Kapitalismus» ist nur eine vorübergehende Erscheinung. Denn Kapitalismus heisst Liberalismus, der wiederum eng mit der Demokratie verknüpft ist.
Nicht die «Krise des Kapitalismus» sondern die «Krisen des demokratischen Kapitalismus» sind das Thema eines viel beachteten Essays (Lettre International Nr.95) von Wolfgang Streeck. Der Direktor des Max-Plank-Instituts für Gesellschaftsforschung (Köln) erinnert, wie aus dem Zusammenbruch des amerikanischen Finanzsystems im Jahr 2008 inzwischen eine wirtschaftliche und politische Krise von globalen Dimensionen geworden ist. Er sieht dieses Ereignis als «endemischen Konflikt zwischen kapitalistischen Märkten und demokratischer Politik».
Die gegenwärtige Krise sei ein Teil einer permanenten, notwendig konfliktreichen Transformation der Gesellschaft. Streeck formuliert Bedingungen für eine demokratische Zähmung des kapitalistischen «Raubtieres», glaubt aber nicht daran, dass dieses Versprechen heute noch erfüllt werden könne.
Das gegenseitige Misstrauen geht tief
Die Vermutung, Kapitalismus und Demokratie passten nicht problemlos zusammen, zieht sich für den deutschen Politologen und Oekonomen wie ein roter Faden vom 19. bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Das Bürgertum und die politische Rechte hätten immer befürchtet, eine Mehrheitsherrschaft – und damit unausweichlich die Herrschaft der Armen über die Reichen – werde letztlich das Privateigentum und die freien Märkte abschaffen. Die aufsteigende Arbeiterklasse und die politische Linke ihrerseits hätten davor gewarnt, die Kapitalisten könnten sich mit den Kräften der Reaktion zur Abschaffung der Demokratie verbünden. Streeck nimmt zu dieser Debatte keine Stellung, erinnert aber: «Zumindest in den Industrieländern hatte die Linke mehr Anlass zu der Befürchtung, die Rechte werde die Demokratie stürzen, um den Kapitalismus zu retten, als die Rechte sich darum sorgen musste, dass die Linke um der Demokratie willen den Kapitalismus abschaffen werde.»
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg habe sich der «demokratische Kapitalismus» in Westeuropa und Nordamerika als Modell etabliert. Dank eines ununterbrochenen wirtschaftlichen Wachstums habe er so gut funktioniert, dass er bis heute die Vorstellung und Erwartung darüber prägt, «was der moderne Kapitalismus ist oder was er sein könnte und sollte».
Uneingelöste Versprechen
Um mit der Demokratie vereinbar zu sein, darüber herrschte in den ersten Jahren der Nachkriegszeit in Europa weithin Uebereinstimmung, sollte der Kapitalismus einer umfassenden politischen Kontrolle unterworfen werden durch Verstaatlichung von wichtigen Unternehmen und Branchen oder durch Mitbestimmung der Beschäftigten. Dank starken Gewerkschaften und sozialdemokratischen Parteien sei der Kapitalismus domestiziert worden. Man war sich einig: In einem «modernen Kapitalismus» sollte es keine Krisen mehr geben, garantierte Vollbeschäftigung, Beschäftigungsschutz und Vertretung aller Arbeitnehmer waren versprochen worden.
Doch der Nachkriegskompromiss zwischen Kapital und Arbeit dauerte nicht lange. Die Kräfte der «sozialen Einbettung des Kapitalismus» (Gewerkschaften, Sozialdemokratische Parteien) ermüdeten und wurden durch die Globalisierung noch mehr geschwächt. Und schliesslich verschwanden mit dem Ende des Ost-Westgegensatzes die Zwänge auf den Kapitalismus, sich mit einer «sozialen Marktwirtschaft» gegenüber dem Kommunismus zu legitimieren.
Clintons fatale neue Konfliktstrategie
Wie der domestizierte Kapitalismus sich wieder entfesseln konnte, beschreibt Streeck am Beispiel der USA. Präsident Bill Clinton sah sich gezwungen, ein von Ronald Reagan und George Bush geerbtes hohes Defizit durch scharfe Einschnitte bei den Sozialausgaben abzubauen, was Clintons Wählerschaft besonders hart traf. Als Ausweg aus diesem Dilemma bot der Demokrat Clinton beispiellose neue Gelegenheiten für Bürger und Firmen, sich zu verschulden. Statt dass der Staat Geld aufnahm, um gleichen Zugang zu Wohnungen oder die Ausbildung der Kinder zu finanzieren, wurden jetzt die einzelnen Bürger ermuntert oder auch gezwungen, auf eigenes Risiko Geld aufzunehmen. Um diese neue soziale Konfliktstrategie zu ermöglichen, trieb Clinton die Deregulierung des Finanzsektors weiter voran, die bereits unter Reagan begonnen hatte.
Clintons Politik hatte viele Nutzniesser. Die Reichen blieben von höheren Steuern verschont und konnten mit den immer komplizierteren «Finanzdienstleistungen», die im deregulierten Markt praktisch unbegrenzt verkauft werden konnten, riesige Gewinne machen. Auch die Armen profitierten, mindestens eine Zeitlang. Subprime-Hypotheken wurden zu einem Ersatz für die Sozialpolitik und für die Lohnerhöhungen, die es am unteren Ende eines «flexibilisierten» Arbeitsmarktes nicht mehr gab.
Die Illusion des «billigen Geldes»
Die individuelle Verschuldung ersetzte die staatliche Verschuldung. Die Mittelschicht und sogar Arme wurden Hausbesitzer und bekamen so eine gewisse Zeit die attraktive Gelegenheit, sich an der Spekulationswelle zu beteiligen, welche die Reichen in den 90er Jahren und in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts so viel reicher gemacht hatte. Die Politik des billigen Geldes (US-Notenbankchef Alan Greenspan), welche die rasch wachsende Verschuldung der amerikanischen Gesellschaft beschleunigt hatte, wirkte damals so glaubwürdig, erinnert Streeck, dass sie sogar von europäischen Gewerkschaftsführern als vorbildlich hingestellt worden sei.
Die Illusion platzte 2008, als die internationale Kreditpyramide plötzlich einstürzte. Weil kein demokratischer Staat es wagte, seiner Gesellschaft als Strafe für die Exzesse eines deregulierten Finanzsektors eine neue Wirtschaftskrise vom Kaliber der Grossen Depression der dreissiger Jahre zuzumuten, mussten Staaten zur Sicherung des sozialen Friedens einen erheblichen Teil der neuen Schulden übernehmen, die ursprünglich im privaten Sektor entstanden waren.
Immer neue Verschiebungen
In den vier Jahren seit 2008 hat sich der Verteilungskonflikt des «demokratischen Kapitalismus» in ein kompliziertes Tauziehen zwischen globalen Finanzinvestoren und souveränen Nationalstaaten verwandelt. Streeck: «Im Umgang mit ihren jeweiligen Krisen konnten Regierungen lediglich erreichen, diese in immer neue Arenen zu verschieben, wo sie in veränderter Form wieder auftauchten. Nichts spricht für die Annahme, dass dieser Prozess – die fortwährende Manifestation der Widersprüche des demokratischen Kapitalismus in immer wieder neuen Formen wirtschaftlicher Verwerfung – an ein Ende gekommen ist.» Für Streeck bleibt eine dauerhafte Versöhnung zwischen sozialer und wirtschaftlicher Stabilität in kapitalistischen Demokratien ein utopisches Projekt.
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Zum Teil 2: Die Finanzkrise entmachtet die Demokratie

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

Zum Infosperber-Dossier:

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