Kommentar

kontertext: Jüdisch-islamische Umarmungen

Felix Schneider © zvg

Felix Schneider /  Eine Ausstellung in Hohenems widmet sich dem jüdischen Orientalismus und den Gemeinsamkeiten zwischen Judentum und Islam.

Heinrich Heine berichtet in seinen «Memoiren» von einem Grossonkel, den man den «Morgenländer» nannte, weil er ausgedehnte Reisen in den Orient unternahm und sich nach seiner Rückkehr immer in orientalische Tracht kleidete. In der nordafrikanischen Sandwüste soll er Räuberhauptmann eines Beduinenstammes gewesen sein, und in Jerusalem hatte er am Ort des salomonischen Tempels «ein Gesicht», eine Vision. Sein «Notizenbuch», das die Phantasie des Knaben «Harry» Heinrich Heine beflügelte, war «mit arabischen, syrischen und koptischen Buchstaben geschrieben». 

Heines «Morgenländer» war kein Einzelfall. Im 18. Jahrhundert war er ein Vorläufer einer ganzen Schar von Wissenschaftlern, Gelehrten und Reisenden des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die eine Leidenschaft für den Orient entwickelten. Der Clou der Geschichte aber ist: Auffällig viele von ihnen, ihre engagiertesten und genialsten, waren Juden. Ausgerechnet! Juden, die als «Orientalen» antisemitisch verunglimpft wurden, liessen sich mit Turban, Fez und Kuffia porträtieren. Die Intellektuellen unter ihnen – sie waren vor allem Archäologen und Sprachkundler – begründeten eine jüdische Orientalistik, mehr als einer von ihnen trat zum Islam über. 

JMH
Jüdische Wissenschafter und Schriftsteller liessen sich mit Turban, Fez und Kuffia porträtieren (Essad Bey, Eduard Glaser, Arminius Vambery, Max von Oppenheim)

Die Ausstellung 

Den Beitrag der deutschsprachigen Juden zur Orientalistik in Hoch- und Populärkultur bis zum Jahr 1933 beziehungsweise 1938 zeigt eine Ausstellung, die unseren Horizont aufs eindringlichste erweitert. Sie heisst «Die Morgenländer» und ist im Jüdischen Museum in Hohenems zu sehen. Ihr Untertitel lautet: «Jüdische Forscher und Abenteurer auf der Suche nach dem Eigenen im Fremden». Damit ist schon deutlich gesagt: Die Ausstellung will historisches Wissen vermitteln, allerdings nicht nur um seiner selbst willen, sondern um einen Beitrag zum jüdischen Selbstverständnis zu leisten, indem sie die engen, wechselseitigen Beziehungen zwischen Judentum und Islam, wie sie noch vor hundert Jahren bestanden, ins Bewusstsein hebt. Die «Morgenländer» verorteten sich in einem altorientalischen Geschichts-Kontinuum, das heute weitgehend  ideologischem Blockdenken in Schwarz-Weiss-Manier gewichen ist. 

Bibel und Orient

Die deutschsprachig-jüdischen Orientalisten gingen den Verwandtschaften zwischen der biblischen Schöpfungsgeschichte und altorientalischen Schöpfungsmythen (etwa im Gilgamesch-Epos) nach. Das altpersische Achämenidenreich interessierte sie, weil zwei seiner Herrscher in der hebräischen Bibel überaus positive Erwähnung fanden. Auf der Nilinsel Elephantine grub der Archäologe und Gräzist Otto Rubensohn in preussischem Auftrag Papyri aus, die bis zu 4000 Jahre alt sind. Sie dokumentieren u.a. ein Judentum mit eigenem Tempel, der sich vom Tempel in Jerusalem unterschied. Damit, so schreiben die Ausstellungsmacherinnen, wird ein Spannungsfeld deutlich «zwischen den biblischen Vorgaben des Jerusalemer Zentralheiligtums und einer zumindest noch im 5. Jahrhundert gegebenen realen Vielfalt jüdischer Religionspraxis in der antiken Diaspora». Mit der Zeit entwickelten die Forschenden auch ein ethnographisches Interesse an aussereuropäischen jüdischen Gegenwarten. 

Biographien

Hinter jeder Einzelnen der zahlreichen Biographien, die die Ausstellung präsentiert, eröffnet sich ein geistiger Kontinent. 

Als Begründer der Islamwissenschaften gilt der jüdische Koranforscher Gustav Weil, der acht Jahre an einer Jeschiwa (höhere Talmudschule) in Metz verbrachte, bevor er Geschichte und Philologie studierte. Er schrieb eine Biographie Mohammeds und übersetzte als Erster die Märchen von Tausend und einer Nacht (originalgetreu!) ins Deutsche. Gar als der grösste Islamwissenschftler aller Zeiten wird Ignaz Goldziher erwähnt. Er schrieb: «Ich war innerlich überzeugt, dass ich selbst Muslim war.» Ihm erschien der Islam in vieler Hinsicht als ein Vorbild für das Judentum, das sich wandeln sollte, um so aufgeklärt und rational zu werden wie der Islam! Josef Horovitz suchte und fand Parallelen zwischen Koran und rabbinischer Literatur. Der jüdische Orientalismus war eine Realität. Ein Drittel der akademischen Positionen in der Orientalistik waren vor 1933 mit Juden besetzt. 

Über die Wissenschaft hinaus

Die Orientwissenschaft wirkte in die Populärkultur. Das zeigt die Ausstellung am Beispiel der Ägyptenbegeisterung. Ende 19. Jahrhundert suchte das Deutsche Kaiserreich Anschluss an die Vormachtstellung Englands und Frankreichs in der Archäologie. Berlin wollte durch Ausgrabungen, Aneignungen und möglichst sensationelle Zurschaustellung altorientalischer Schätze seine Macht demonstrieren. Finanziell ermöglicht wurde die Realisierung solcher Ansprüche vom jüdischen Unternehmer und Kunstmäzen James Simon. Er ermöglichte auch die Grabungen von Ludwig Borchardt, der 1863 in einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Berlin geboren wurde und 1912 die Nofretete-Büste entdeckte. Das Museum in Hohenems zeigt, wie Nofretete bis heute die Phantasien beflügelt: Berühmte Visagisten haben für diverse Modelabels einen Gipsabguss der Königin geschminkt – eine zeitgenössische Form kultureller Aneignung. 

Nofretete
Gipsbüste der Nofretete, geschminkt von Visagisten für Modelabels.

Die Königin von Saba

Um das Fin de Siècle drang der Orientalismus in die gesamte abendländische Kultur ein. In der Architektur erschienen orientalisierende Kuppeln und Dekors, auf Weltausstellungen baute man «exotische» Pavillons, grossbürgerliche Villen bargen türkische Zimmer, Pariser Couturiers kreierten Kaftans, Haremshosen und Turbane. Im Synagogenbau entstand der sogenannte «maurische Stil», wie er z.B. auch in Basel zu sehen ist. Die Hohenemser Ausstellung zeigt grossformatige Bilder von der prunkvollen Ausstattung der Uraufführung der Oper «Die Königin von Saba» von Karl Goldmark, wie sie 1875 in Wien zu erleben war. Salomons Tempel stand als prachtvoller orientalisierender Monumentalbau auf der Bühne: viel Gold, bunte Wandgemälde, schwere Teppiche, vornehme Baldachine.. Das Interesse an der in der Bibel wie im Koran überlieferten Reise der Königin von Saba zum Hof König Salomos kreierte ein neues Forschungsfeld, die «Sabäistik». 

Jüdische Ambivalenzen

Ein Gang durch die Ausstellung lässt die Idee aufkommen, dass es doch eine spezifisch jüdische Neugier an der islamischen und arabischsprachigen Welt gab. Die Juden, selbst als Andere und Fremde definiert, suchen andere Fremde und andere Andere. Und sie finden tatsächlich im Fremden das Eigene. Das zentrale Glaubensbekenntnis des Islam – «Es gibt keinen Gott ausser dem einzigen Gott» – identifizieren sie als jüdisches Erbe. Sie profitierten davon, dass eine klassische jüdische Bildung befruchtend sein konnte für das Studium der semitischen Sprachen und der islamischen Religion. Für einige von ihnen gehörte zum Zionismus die offene Begegnung mit der arabischen Welt. Eigentlich alle relativieren die eigene Gruppe:  Wenn die Sintflut-Geschichte auch in babylonischen Texten stand, war dann die Bibel mehr als eine Erzählvariante? Jedenfalls ergaben die Studien, dass Israel nicht isoliert war,  sondern eingebettet in einen weiter gespannten kulturellen Zusammenhang. Und das nahmen diese «Kinder des Orients» nicht als Bedrohung wahr, sondern als Bereicherung, manche waren sogar stolz auf ihre Zugehörigkeit zu einer grossen Vergangenheit. 

In vaterländischen Diensten

Es gab freilich auch direkt politische Handlungsweisen. Manche Archäologen nahmen es zumindest gerne in Kauf, dass ihre Entdeckungen orientalischer Schätze und deren Abtransport in die imperialistischen Zentren ihrem Ansehen und ihrer Integration nutzten. Andere gingen weiter: Der Archäologe Max von Oppenheim begründete den deutschen Nachrichtendienst und warb im Ersten Weltkrieg unter Muslimen für die deutsche Sache, mit der Zeitschrift «El Dschihad» (der heilige Krieg).  

Der Autodidakt Hermann Bamberger alias Arminius Vambéry unternahm seine Studienreisen als Derwisch verkleidet und diente dem britischen Geheimdienst. Zum Ärger Herzels blieb er dem Zionismus gegenüber skeptisch.

Ganz anders der Zeichner, Maler und Fotograf Ephraim Moses Lilien, der ärmsten Verhältnissen in Galizien entstammte und sich wirkungsvoll für den Zionismus engagierte. Von ihm stammt das berühmte Foto von Herzl auf dem Balkon des Hotels «Drei Könige» in Basel.

Das Museum in Hohenems 

«Die Morgenländer» ist die letzte Ausstellung unter der Ägide des Museumsdirektors Hanno Loewy. Er geht in Pension. Ihm ist es in den letzten Jahren gelungen, mit seinem Museum, seinen Vortragsreihen, Veranstaltungen und Stellungnahmen aus der Provinzstadt Hohenems ein geistiges Zentrum von internationalem Rang zu machen. Schon die Titel seiner Ausstellungen zeigen, wie er Aktualität versteht: «Yalla. Arabisch-jüdische Berührungen» hiess eine Ausstellung aus dem Jahre 2024/25. «Die letzten Europäer» eine andere. Loewys Ausstellungen schliessen an aktuelle politische Probleme an, betreiben aber keine direkten Interventionen, sondern eröffnen kulturelle Räume, um Hintergründe zu verhandeln. 

Hanno Loewy hat aber auch Glück. Die «Morgenländer» Schau ist kuratiert von zwei Ausstellungsmacherinnen, Dinah Ehrenfreund-Michler und Felicitas Heimann-Jelinek, von denen letztere nicht nur die originelle thematische Idee hatte, sondern sich auch seit Jahrzehnten mit der jüdischen Orientalistik befasst. Von ihrer Leidenschaft und ihrem Können hat das Museum in Hohenems schon mehrmals profitiert, ebenso wie von den ausserordentlichen Fähigkeiten des Ausstellungsarchitekten Martin Kohlbauer, der die ganze «Morgenländer» -Ausstellung in ein warmes Blau (ja, das gibt es!) getaucht und jedes Objekt respektvoll inszeniert hat.

Wer etwas Zeit mitbringt und bereit ist, sich auch auf die gut geschriebenen Texte einzulassen, wird mit einem geistigen Abenteuer belohnt, das jede polemische Intervention in aktuelle israelisch-palästinensische Debatten ebenso elegant vermeidet wie kitschigen Trost, und trotzdem auf befreiende Art daran erinnert, dass kulturelle Grenzgänger untereinander noch andere Umgangsformen haben als sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. 

Kontertext
Ephraim Moses Lilien: Postkarte zu Pessah. Die Sonne, in der mit hebräischen Buchstaben «Zion» steht, bescheint ägyptische Motive.

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Die Morgenländer im Jüdischen Museum Hohenems bis 4. Oktober 2026. Katalog erschienen im Wallstein Verlag € 28.80, SFR 42.90, bestellbar beim Museum, beim Verlag oder in jeder Buchhandlung. 


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur, greift Beiträge aus Medien kritisch auf und pflegt die Kunst des Essays. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

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