Frau mit Hundewelpen

Bei Tierhorterinnen vermehren sich die Tiere unkontrolliert (Symbolbild). © Design Pics / Depositphotos

Dr. Kurios: 13 Hunde und eine Leiche

Martina Frei /  Manche Menschen horten zwanghaft Tiere. Trotz desolater Zustände lassen sie sich oft nicht helfen.

Er sei Hundezüchter, behauptete der 51-jährige Mann gegenüber der Polizei. Sie überprüfte sein Anwesen, nachdem eine potenzielle Hundekäuferin Anzeige erstattet hatte. Der angebliche «Hundezüchter» wollte ihr einen Hund anbieten, der nach Urin und Kot stank. Zudem hörte die Frau ungewöhnliches Hundegebell auf dem Gelände. 

Als die Polizisten das Areal absuchten, fanden sie 150 in Kisten gefangen gehaltene Hunde. Die Hundekisten waren voller Urin und Kot, die Hunde ausgemergelt, ihr Fell stumpf, viele hatten Hautentzündungen vom Liegen im Urin. Wasser und Futter waren kaum oder gar nicht vorhanden. «Sie sehen auf den ersten Blick, wie gut diese Hunde versorgt werden», behauptete der Halter voller Überzeugung. Solche Fehleinschätzungen sind typisch für Tierhorter. 

Bis zu 918 Tiere

Systematisch beschrieben wurde das Problem erstmals 1981 in New York City. Zwei Wissenschaftler werteten alle Fälle aus, von denen sie dort zwischen 1973 und 1979 erfuhren. Frauen waren unter den Personen, die zwanghaft Tiere sammelten, in der Überzahl. Meist begann alles mit wenigen Tieren. Mit steigendem Einkommen oder besseren Möglichkeiten wurden weitere Tiere angeschafft.

An irgendeinen Punkt geriet das Ganze aus den Fugen: «Fehler, Fehlkalkulationen oder Nachlässigkeit führen oft zu ungeplanten Würfen, die die Kolonie weiter vergrössern», schrieben die Wissenschaftler in den «Transactions & Studies of the College of Physicians of Philadelphia». 

Das «Hoarding of Animal Research Consortium» (Harc) wertete 2002 insgesamt 71 Fälle von «Animal Hoarding» – auf Deutsch Tiere horten – aus. Die Betroffenen besassen 10 bis 918 Tiere. Meist sind Katzen die Opfer, gefolgt von Hunden. An dritter Stelle der Sammelsucht stehen Vögel und schliesslich Kaninchen oder andere kleine Säugetierarten sowie Reptilien, Pferde, Rinder, Schafe und Ziegen.

Kolumne «Dr. Kurios»

Choleraausbruch mitten in Paris, Explosion des Patienten bei der Darmspiegelung, Halluzinationen durch Hirsebällchen – in der Medizin passieren immer wieder unglaubliche Dinge. Glücklicherweise aber nur sehr selten. Seit über 20 Jahren sammelt die Autorin – sie ist Ärztin und Journalistin – solche höchst ungewöhnlichen Krankengeschichten. Ihre Kolumnen sind bisher in zwei Büchern erschienen: «Das Mädchen mit den zwei Blutgruppen» und «Der Junge, der immer in Ohnmacht fiel».

Unkontrollierte Tiervermehrung

Der typische Verlauf: Die nicht kastrierten und sterilisierten Tiere vermehren sich, Parasiten und Krankheiten breiten sich aus, dazu kommt ein unerwarteter Einschnitt im Leben, der finanzielle Einbussen mit sich bringt oder dazu führt, dass die Person die Tiere nicht mehr ausreichend versorgen kann.

Auch die Kosten laufen aus dem Ruder. Zum Beispiel, weil die Hunde – wie in einem Fall in New York – zu Hause Schäden von mehr als 20’000 Dollar anrichten. Oder weil die Polizei einfährt wie beim angeblichen «Hundezüchter»: Er musste über 108’000 Dollar an den Veterinärdienst bezahlen, wie «Psychiatry Research» berichtete. Eine Tierhalterin wanderte ins Gefängnis, nachdem sie in eine leerstehende Wohnung in ihrem Wohnblock eingebrochen war, um zusätzlichen Platz für ihre 34 Hunde zu finden.

Trotzdem hören die Betroffenen nicht auf, Tiere zu horten. Mehr noch: Fremde bringen den vermeintlichen Tierfreunden oft zusätzlich noch Findeltiere. Tiere wegzugeben kommt für die Tierhorter jedoch nicht in Frage. Denn aus ihrer Sicht kümmert sich niemand so gut um die Schützlinge wie sie selbst. Für eine ältere Frau in New York sei der Gedanke an eine Trennung derart unerträglich gewesen, dass sie ihre verstorbenen Büsi ausweidete und an der Luft trocknete. «Die so entstandenen ‹Katzenbretter› wurden in Schränken in ihrer gesamten Wohnung aufbewahrt», berichteten die Wissenschaftlerinnen. 

Psychische Erkrankungen tun ein Übriges: Eine Frau in New York beispielsweise hatte den Wahn, sie sei von Jesus beauftragt, Hunde zu sammeln und zu beschützen.

Messie-Behausungen

Häufig horten die Betroffenen nicht ausschliesslich Tiere, sondern zwanghaft auch andere Dinge. In den Extremfällen sind ihre Unterkünfte nicht nur von den Tieren völlig verdreckt, sondern auch mit Kleidung, allerlei Gegenständen, verrottetem Essen und Abfall zugemüllt. In einem Fall war der Boden über einen Meter hoch bedeckt. Der Bewohner habe sich nur noch kriechend in den Räumen fortbewegen können, berichtete das «Hoarding of Animals Research Consortium» in «Health & Social Work». In einem anderen Fall türmten sich in einem Zimmer die Exkremente, wobei unklar war, ob sie womöglich sogar von der Bewohnerin der Wohnung stammten. Oft sind in solchen Fällen die sanitären Einrichtungen teilweise defekt und die Behausungen in einem desolaten Zustand.

Für ihre Tiere nehmen die Tierhorter, die allen sozialen Schichten angehören, grosse Unannehmlichkeiten in Kauf. Eine Frau in New York wurde in dem verlassenen Gebäude, in dem sie mit den Tieren hauste, fünfmal überfallen. Von dort wegzuzügeln hätte jedoch bedeutet, ihre 22 Katzen aufzugeben. 

Auch gesundheitlich ist das Ganze nicht ungefährlich. Ein Betroffener kassierte 13 Bisse, eine andere starb an einer Lungenentzündung durch Bakterien, die im Maul von Hunden und Katzen leben. Auch Infektionen mit Salmonellen, die Reptilien ausscheiden, oder Floh- und Milbenbefall sind mögliche Begleiterscheinungen. Die Luft in den verschmutzten Räumen ist bei manchen Tierhortern derart Ammoniak-geschwängert, dass es gesundheitsgefährdend ist.

Von den eigenen Tieren gefressen

Ein besonders tragischer Fall ereignete sich 2014 im brasilianischen Curitiba. Dort fand die Tierschutzbehörde nicht nur zehn kleine ausgehungerte und drei, vermutlich verhungerte tote Hunde in einem verdreckten, heruntergekommenen Haus, sondern auch den verstorbenen Halter. Genauer gesagt, das, was von ihm übrig geblieben war.

Der Mann in den Achtzigern litt früher an einer Schizophrenie und hatte einsam und sehr zurückgezogen gelebt. Schätzungsweise war er etwa zwei Wochen vor dem Eintreffen der Tierschützer verstorben. Woran, liess sich nicht mehr eruieren. Denn eine Autopsie war unmöglich: Die hungrigen Hunde hatten ihn in ihrer Not teilweise ausgeweidet, seine Arm- und Beinmuskeln weitgehend gefressen und an den Knochen herumgebissen. Ob er eines natürlichen oder unnatürlichen Todes gestorben war, von seinen Hunden attackiert oder ob womöglich sogar eine Tollwut-Infektion eine Rolle gespielt hatte, konnten die Rechtsmediziner nicht herausfinden. Die Fachzeitschrift «Frontiers in Veterinary Science» beschrieb den entsetzlichen Fall. Alle überlebenden Hunde wurden eingeschläfert.

Menschliche Mitbewohner tolerieren das Treiben

Etwa die Hälfte der Tierhorterinnen und Tierhorter, von denen das Forschungskonsortium Harc erfuhr, teilten ihre Wohnungen und Häuser nicht bloss mit tierischen, sondern auch mit menschlichen Mitbewohnern. Eine 33-Jährige beispielsweise beherbergte nebst über 200 Katzen auch ihre 79-jährigen Eltern. «In einigen Fällen schien es, als würden die extremen Bedingungen von älteren Familienmitgliedern im Gegenzug für menschliche Pflege und Gesellschaft toleriert», schrieben die Harc-Forscher in «Health & Social Work».  

Die zwanghaften Tiersammler hätten sehr früh im Leben Tieren gegenüber starke Gefühle entwickelt, fanden die Wissenschaftlerinnen in New York heraus. Sie beschrieben das Beispiel einer Frau, die schon als Vierjährige in ihrem Puppenwagen heimlich ein Kätzchen in die Wohnung schmuggelte.

Fehlende Einsicht und hohe Rückfallquote

Das Harc teilte die Tierhorter in drei Gruppen ein: Überforderte Tierbetreuer, obsessive Tierretter und solche, welche die Tiere ohne Mitgefühl ausbeuten, sei es emotional, etwa als Ersatz für Kinder oder Freunde, oder um mit den Tieren Geld zu verdienen.

Ein Beispiel für Letzteres war eine ältere Frau im kanadischen Manitoba, von der das «Canadian Veterinary Journal» berichtete. Sie hielt 34 Kaninchen in «engen Käfigen unter sehr schlechten hygienischen Bedingungen». Alle Räume in ihrem Haus waren so vollgestopft mit Utensilien, dass sie nur noch auf schmalen Pfaden begehbar waren. Gegenüber dem Veterinärdienst gab die Frau an, sie plane, «einen Kaninchenzirkus zu gründen, für den sie Eintritt verlangen könnte».

Einsichtig seien am ehesten die überforderten Tierbetreuer. Oft aber treffen die Behörden auf Tierhalter, die Ausreden erfinden, Widerstand leisten oder sogar mit Suizid drohen, wenn man ihnen die Tiere wegnehmen will. Die Rückfallquote beim «Animal Hoarding» ist hoch. 


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Kurios

Dr. Kurios

Höchst seltene und manchmal auch skurrile medizinischen Fallgeschichten.

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