Kommentar
kontertext: Wenn Empathie eine Krankheit sein soll
Dass es beim Austausch zwischen Menschen und Gruppen ums Verstehen gehe und dass dieses Verstehen das grösste Abenteuer eines Lebens sei, haben meine Eltern mir früh nahegebracht – mehr das Verstehenwollen, weil ja Verstehen nur eine Annahme sei. Über Bildern alter Korvetten erklärten sie, die frühen Weltumsegler seien weniger Eroberer als Forschungsreisende gewesen. Und auch die frühen Menschenähnlichen hätten wohl zuerst ihre Neugier ausgelebt.
Ich sehe vor mir, wie die Mutterhand auf der Karte jene bogenförmige Wanderbewegung nachzeichnet, die ich auf Schulwandbildern wiedersehen würde: aus Ostafrika heraus, auf Europa zu.
Jedenfalls ist es eine Lüge, dass nur die Habgier uns wandern lässt, erklärte der Vater. Nein, der Frühmensch war wissensdurstig. Es muss ihm um andere Lebensweisen gegangen sein, um das Unbekannte.
Er legte Bilder unterschiedlichster traditioneller Trachten vor uns hin und sagte: Nur weil Vielfalt das Salz in der Suppe des Lebens ist, sind wir derart verschieden. Dann bestritt er, dass Vielsprachigkeit, wie in der Bibel dargestellt, Strafe und Verirrung sei: Wer die Vogelkonzerte im Regenwald hört, weiss, dass Gott die Buntheit liebt. – Du, im Regenwald? – Vater lächelte. Er hatte viel darüber gelesen.
Waren meine Eltern Träumer? Jedenfalls träumten sie gross, auch wenn sie selten die Schweiz verliessen – sie setzten auf die Wissbegier als Antrieb und wagten zu glauben, dass das Gespräch jede Bunkerwand öffnet, wenn einmal eine gemeinsame Sprache gefunden ist. Und so würden auch meine Anliegen nicht eben die kleinsten sein: Hungerhilfe, Gleichstellung, Antikolonialismus, Abrüstung, internationale Gerichtsbarkeit, Umweltschutz, Alphabetisierung, Chancengleichheit…
Dies alles soll heute kassiert werden, wenn es nach den Neuen Autoritären geht. Und vielleicht hat Beate Klarsfelds berühmte Ohrfeige gegen Kiesinger, den Altnazi im Kleid des Bundeskanzlers, ja schon viel früher, als ich glaube, den Traum von der Gewaltlosigkeit beendet: 1968, zwei Jahre nach meiner Geburt.
Verlockend fremd
Im Kalten Krieg wurden meine Eltern gewiss für naiv gehalten. Sie nahmen es hin – und gaben manchmal die Geschichte von Lia zum Besten, der alten Frau im Bergell. Ihr sei es gelungen, einen Einbrecher ins Gespräch zu verwickeln. Am Ende habe sie ihm Geld gegeben wie einem Bettler. Er habe später mit dem Einbrechen aufgehört, aus Scham.
Mit dieser Geschichte wollten sie wohl ihre Idee von der Versöhnung der Gegensätze hochhalten: hier die alte Frau mit dem Cembalo, dort der motorradverrückte Hell’s Angel. Teetrinkend sitzen sie am nächtlichen Küchentisch. Zu dieser Zeit wirkt der Eiserne Vorhang undurchlässig, die RAF kidnappt Bankiers und nennt sie «Feinde des Volkes», Hipster verachten den bürgerlichen Lebensstil, Zürichs «Bürgerblock» fährt Wasserwerfer gegen die protestierende Jugend auf – gegen die eigenen Kinder. Und in der Kunst unterscheidet man zwischen E und U.
Die Karten der Eltern zeigten nicht nur ferne Länder, sondern auch die Schweiz. – Unser Land, bekräftigte ich. – Eigentlich gehört es allen und niemandem, meinte die Mutter. Das gilt für alles, was du hier siehst. Ihre Hand überflog Meere und Grenzen.
Also gehört auch das mir? Ich zeigte auf ein paar Inseln unterhalb von Spanien, und sie lächelte: Du kannst die Sprache lernen, hingehen und dich mit den Leuten unterhalten.
Auch wenn ich wusste, was man sich von den Urmenschen erzählte (dass die Furcht vor unbekannten Tieren, Krankheiten und überlegenen Waffen ihre Wanderlust begleitet habe), erschien jedes Ding dieser weiten Welt mir jetzt verlockend fremd – und das Lernen von Sprachen zwar mühsam, aber befreiend. Später würde die Erde eine Prärie für meine Erfahrungen sein. Nicht Misstrauen würde mich leiten, sondern Wissbegier. Und bunt wäre meine Lieblingsfarbe.
Die grosse Regression
Und wo stehe ich jetzt? Gerade ist zu erleben, wie alle Dialogversuche zur Ukraine an der Verhärtung der Fronten zerschellen. Es «sprechen» die Waffen. Wer an deutsche Aussengrenzen kommt, kann abgewiesen werden ohne Prüfung der Fluchtgründe. Um Elon Musks Weltbild darzulegen, spricht Vater Errol von Empathie wie von einer Krankheit, die der Mensch überwinden muss. Er brüstet sich, drei Einbrecher in seinem Haus erschossen zu haben. Ein Mann der Tat.
Aussen die Einbrecher, innen der erarbeitete, rechtmässige Besitz: Nicht das Dispositiv ist neu, nur die Worte dafür. War einst von Systemkonflikt und Blöcken die Rede, so nun von «Multikulti» versus Kultur-Identität, nationale Interessen versus Multilateralismus. Das erste Opfer dieser Regression – dieser Flucht ins enge Denken – ist der Wunsch, zu verstehen. An seine Stelle tritt das Machertum der «starken Männer».
Wird eine dunkelhäutige Person in Baltimore angehalten, soll sie sich nicht erklären, sondern kuschen, um dem Teaser zu entgehen. Menschen islamischen Glaubens, die ein Lehramt anstreben, müssen nachweisen, dass sie Abstand nehmen von Gewalt – in einem Staat, der für Glaubensfreiheit und das Recht auf Waffenbesitz steht. Und hierzulande setzt sich wieder die Meinung durch, «unsere» Aufrüstung sichere den Frieden, während die Bewaffnung anderer ein Affront sei, der nach der harten Hand rufe.
Das kommt mir bekannt vor. Das riecht nach Beton und Kaltem Krieg, und es stellt sich die Frage, inwiefern der Traum vom Verstehen an der Wiederkehr der harten Hand beteiligt war. Wenn meine Eltern mich im Jahr 2025 besuchen könnten, sollte ich ihnen dann sagen, sie seien ganz einfach krank, wenn sie Mitleid mit Hungeropfern empfänden? Und wie wäre ihnen begreiflich zu machen, dass viele Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen waffenkundige Verfechter von Rüstungsexporten sind?
Ich könnte sagen: Die Dilemmata sind nicht weniger geworden. Imperialistische Denkweisen feiern Urständ. Durch die Hirne von Autokraten und Tech-Milliardären geistert der Übermensch. Konflikte sähe ich zwar noch immer gern dialogisch gelöst, aber die Situation auf dem Schlachtfeld lässt mich wünschen, dass die Angegriffenen militärisch gestärkt werden. Mit Sorge sehe ich, wie der Überfremdungsdiskurs mit leicht verändertem Wording aufersteht – und sehe auch, wie islamistische Übergriffe ihm Nahrung geben. Am liebsten sähe ich verfassungsfeindliche Parteien ausgegrenzt, aber gerade die Verfassung will, dass alle gewählten Kräfte in die politischen Prozesse eingebunden werden.
Die Wiederkunft nationaler Dispositive
Mustere ich meine politische Gegenwart, fühle ich mich an das Jahr 1986 erinnert, als im Solothurner Landhaussaal Max Frisch bilanzierte, am Ende der Aufklärung stehe das Goldene Kalb: «Man möchte nicht wissen, sondern glauben. Zum Beispiel an Sachzwänge.» Heute sind an ihre Stelle die Mythen der Filterblase getreten und die alternative facts der Neuen Autoritären. Und abermals steht der Profit im Zentrum, auf einmal wieder gut beleumdet, seit auch die Politik nur noch aus Deals bestehen soll – gewinnen andere an der Globalisierung, ist sie böse, profitiere ich selbst, ist sie der Lohn für meinen Fleiss. Und Linderung spenden nur Sport, Sex und Konsum…
Es fragt sich schon, ob Hegels Konzept der geschichtlichen Progression eine Chimäre ist, wenn jetzt die Menschen mit neuem Elan das Eigene gegen das Fremde stellen und dafür jene nationalen Dispositive mobilisieren, die soviel Leid über die Menschen gebracht haben. Obwohl die Vorbedingungen andere sind, fühle ich mich in Frischs Zeit des Patriotismus aus dem Album zurückversetzt, wenn ich höre, wie Populisten meine Lage beschreiben: Ich sei umgeben von finsteren Mächten, ausgespäht vom inneren Feind, ausgenützt von Angehörigen inferiorer Kulturen und verhetzt von den Medien.
«Vernünftig ist, was rentiert», sagte Frisch mit Blick auf die Schweizer Politik. Aus der Distanz von vierzig Jahren könnte ich meinen Eltern vielleicht zeigen, wo unser Ideal einer Weltverständigung geboren ist: in der Fruchtblase jenes Wohlstands, dessen Ursprung ein kriegerischer war – der Sieg über die Nazis. Am Ende dieser Epoche war dann «Wandel durch Handel» ein Motto für eine ganze Reihe von Bequemlichkeiten: Rohstoffe zum Spottpreis, Wohlfahrt in der Armbeuge der Schutzmacht USA und fröhliches Werkeln am Einklang von Konsumglück und Scheckbuch-Solidarität (zur Beruhigung der Nerven).
Inzwischen ist viel Dialogbereitschaft aufgebraucht, die Lust auf Demokratie erlahmt. Zur Mündigkeit, der Prämisse jeder Aufklärung, konnte man 1986 und kann man auch heute niemanden verpflichten.
Die Geschichte eines Erstarrens
Habe ich ernsthaft geglaubt, etwas polyglotte Weltläufigkeit werde es richten? Kaum. Trotzdem kann ich nicht richtig beschreiben, auf welchen Wegen die Politik in alte Muster zurückgefallen ist. Ist es die Tragödie des Erstarrens der Gefühle, wie die Literatur sie als Entfremdung beschreibt?
Ich erinnere mich an einen Satz der Eltern: «Nur wenn du die Unterdrückten und die Unterdrücker verstehst, kannst du den Konflikt auflösen.» Nun finde ich für diese Entgegensetzung immer weniger sauber gezogene Linien. Vielleicht sollte ich nochmals die Geschichte von Lia erzählen, mit anderem Ende: Die alte Frau überlebt das Rencontre mit dem Einbrecher nicht, das Cembalo liegt in Trümmern, die Bücherregale sind verwüstet. Und etwas in mir ruft nach der Polizei, die ich 1986 nach britischem Vorbild entwaffnen wollte.
Was fiele den Eltern dazu ein? Vielleicht würden sie gegen Abend eine Karte ausbreiten und auf Belize zeigen. «Da waren wir noch nie», höre ich sie sagen. «Ein traumhaft schönes Land. Vielsprachig wie die Schweiz.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur, greift Beiträge aus Medien kritisch auf und pflegt die Kunst des Essays. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi









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