Gaza

Israelische Kampfflugzeuge bombardieren am 7. September 2025 ein Wohnhaus südwestlich von Gaza City. © Depositephotos

Netanyahu ködert und bindet israelische Reservisten mit Geld

bri /  Zwei Historiker analysieren, wie ein ökonomisches Anreizsystem Reservesoldaten zu Komplizen der Kriegsverbrechen in Gaza macht.

Im Online-Magazin «Geschichte der Gegenwart» fragen sich die beiden Autoren, Historiker Adam Raz und Soziologe Assaf Bondy, wie es kommen konnte, dass dieselben Reservisten, die sich noch 2023 aus Protest gegen die «Justizreform» dem Militärdienst verweigerten, nach dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 plötzlich bereit waren, der rechtsextremen Regierung Netanyahus zu dienen:

«Wie kann eine demokratische Gesellschaft so schnell von beispiellosen Protesten zu beispiellosem Schweigen übergehen? Warum zeigen sich so viele willig, systematische Verbrechen stillschweigend hinzunehmen oder offen zu unterstützen oder sich sogar aktiv an Kriegsverbrechen zu beteiligen?» 

Ihre Antworten geben sie im Buch «Lexikon der Brutalität: Schlüsselbegriffe aus dem Gaza-Krieg», auf Hebräisch im Pardes-Verlag, 2025.

Materielle Anreize

Eine Antwort lautet: materielle Anreize, die «nicht nur Gehorsam, sondern auch aktive Beteiligung an Gräueltaten erkaufen können und so eine Kriegswirtschaft schaffen, die das Wohlergehen von Hunderttausenden Israelis an die Fortsetzung des Krieges bindet.»

Im Zentrum des materiellen Anreizes stehe der «Reserve Duty Day» (RDD), die staatliche Vergütung für einen Tag Reservedienst. Israel zahle den Reservesoldaten fast 29’000 Schekel (etwa 7’000 Schweizer Franken) pro Monat, damit sie sich freiwillig zum Reservedienst melden. Das Durchschnittgehalt aller Branchen betrage 14’800 Schekel (rund 3’350 Schweizer Franken). Israel biete also fast das Doppelte eines Durchschnittlohns.

RDD und «open order»

Der RDD sei nichts Neues. Man habe ihn aber in den Details neu gestaltet worden. Die Armee habe eine sogenante «open order» eingeführt, einen neuen Einberufungsbefehl. Die Einberufenen müssten für den vollen monatlichen Sold nur wenige Stunden arbeiten, was ihnen erlaube, gleichzeitig zum Teil einer zivilen Beschäftigung nachzugehen. Dazu kämen Prämien und Sozialleistungen für längere Dienstzeiten hinzu – Zuschläge von 20 bis 30 Prozent.

Goldene Fessel

In diesem Jahr befinden sich in Israel rund 170’000 bis 185’000 reguläre Soldaten im Dienst. Im August 2025 befanden sich zusätzlich insgesamt etwa 130’000 Israelis gleichzeitig im Reservedienst und erhielten somit entsprechende Zahlungen und Boni. Zusätzlich verfügt Israel über einsatzbereite Reservisten, die im Bedarfsfall mobilisiert werden können. Die Zahl der insgesamt verfügbaren Reservisten, die von den finanziellen Anreizen profitieren können, liegt bei etwa 450’000. Das entspricht dem neuen Rekrutierungsmaximum für 2025.

In der Praxis führe dieses System zu einer Art «militärischer Gig-Economy». Sie schaffe ein Netzwerk von Interessen, das wachsende Teile der Bevölkerung erfasse und ein kollektives Mitwirken an der Regierungspolitik intensiviere. Für den gut bezahlten Reservisten werde es immer schwieriger, Kriegsverbrechen zu kritisieren, an denen er beteiligt sei oder die er miterlebt habe. Auch sein Umfeld werde weniger Motivation haben, sich gegen den Krieg zu stellen. Die sozialen Kreise jedes Reservisten – Familie, Freunde und Nachbarn – würden zu indirekten Beteiligten an der Kriegswirtschaft. Dadurch entstehe ein Netz der Komplizenschaft, das weit über die direkte militärische Beteiligung hinausgehe und ganze Gemeinschaften umfasse, deren ökonomische Grundlage von der Fortsetzung des Krieges abhänge.

Das System umfasse auch private Auftragnehmer, die in Gaza zum Beispiel schwere Maschinen bedienen und die für Abrissarbeiten, laut Berichten von Ha’aretz, für jedes abgerissene Haus etwa 1.500 US-Dollar kassierten. Die Regierung erhalte so mehr als nur militärische Arbeitskraft zur Umsetzung ihrer Politik des Gazakrieges. Die Regierung erlange Teilhabe, Unterstützung und gesellschaftliche Legitimität.

Der RDD fungiere sowohl als Währung als auch als Vertrag, die den Einzelnen an die Fortsetzung der Militäroperationen und ihrer Verbrechen binde. Die beiden Autoren zitieren die Historikerin Mary Fulbrook, die von «Prozessen der Komplizenschaft» rede. Der RDD-Mechanismus verändere die israelische Wirtschaft, Gesellschaft und die demokratischen Institutionen.

Red. Adam Raz ist israelischer Historiker, arbeitete am Akevot Institute for Israeli-Palestinian Conflict, derzeit Fellow an der Technischen Universität in Berlin. Assaf Bondy ist Arbeitssoziologie-Professor an der Universität Bristol. Schwerpunkt seiner Forschung: politische Ökonomie von Arbeitsbeziehungen.


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