Gegen Umweltgifte ist auch ein gesunder Lebensstil machtlos
Was Luftverschmutzung ganz unmittelbar anrichten kann, weiss man von den Menschen, die sich früher in industriellen Ballungsgebieten oder in Städten mit ihren schwarzen Rauchschwaden aus ungefilterten Kaminen durch den Tag und durch die Nacht husteten. Die Lebenserwartung war niedrig. Lungen-, Herz- und Hautkrankheiten waren Alltag.
Mit strengeren Umweltgesetzen hat der Westen die akuten Gefahren industrieller Produktionsweisen stark reduziert und auch mit Kohle wird nicht mehr geheizt.
Unterdessen lauert jedoch eine schleichende Gefahr: In winzigen Mengen gelangen neue unsichtbare Schadstoffe über Nase und Haut in unser Blut und in unsere Lunge. «Dieser Umweltbelastung kann heute niemand mehr entgehen», warnte Umweltredaktor David Wallace-Wells in der «New York Times».
Vielleicht töte eine neuartige Schadstoffexposition nur ganz wenige der Belasteten. Doch wenn mehrere Milliarden Menschen exponiert sind, würden sich die Fälle summieren. Das Risiko auf individueller Ebene könne das Gesamtrisiko für die Menschheit nicht realistisch beschreiben. Dieses werde kollektiv, vielleicht ungleich verteilt getragen.
Die neuen Risiken in Kürze.
Fossiler Feinstaub
Menschen pumpen sich täglich mehr als 11’000 Liter Luft in die Lunge – voller Sporen und Mikroben. Das war immer so. Aber heute stecken in dieser Luftsuppe jede Menge industrielle Abfälle. Der als Feinstaub bekannte Dreck, der in erster Linie durch die Verbrennung fossiler Stoffe und den Reifenabrieb verursacht wird, tötet weltweit jedes Jahr Millionen von Menschen. In der Schweiz sterben laut Bundesamt für Umwelt 2300 Menschen vorzeitig daran, in Deutschland laut EU-Umweltagentur 32’000 Menschen.
Bei noch viel mehr Menschen beeinträchtigt Feinstaub die Gesundheit. Es geht um Atemwegserkrankungen, Herzbeschwerden, Entwicklungsstörungen und verschiedene Krebsarten, Demenz und Alzheimer sowie Frühgeburten und niedriges Geburtsgewicht.
Pestizide aus der Landwirtschaft
Von hormonaktiven Pestiziden und anderen hormonaktiven Substanzen sind in erster Linie die Arbeitenden in den Feldern und Weinbergen betroffen. (Siehe Infosperber vom 1. Oktober: «SVP und Bauernverband kastrieren ihre eigenen Söhne».)
In geringerem Mass können auch Wanderer und Jogger Pestiziden ausgesetzt sein. Wallace-Wells schildert die Situation in verschiedenen US-Bundesstaaten:
«Iowa meldet die zweithöchsten Krebsraten des Landes, was einige Forscher und Einwohner dem Einsatz von Pestiziden, Insektiziden und Düngemitteln zuschreiben.
Eine kürzlich durchgeführte Studie hat gezeigt, dass das Leben in der Nähe eines Golfplatzes das Parkinson-Risiko mehr als verdoppeln kann, wahrscheinlich durch die Exposition gegenüber Pestiziden, die auf den Rasen gesprüht werden und in die örtlichen Gewässer sickern.»
Besonders perfide: In den globalen Süden exportieren Chemiekonzerne Pestizide, die in der EU und der Schweiz längst verboten sind, weil sie als krebsfördernd, erbgutverändernd und fortpflanzungsgefährdend gelten. In südlichen Ländern vergiften sie Menschen, Böden und Gewässer.
Über Rückstände in Lebensmitteln landen einige bei uns verbotene Chemikalien wieder auf unseren Tellern. Fast jede zehnte von EU-Behörden untersuchte Lebensmittelprobe enthält Rückstände von Pestiziden, die in Europa nicht mehr zugelassen sind. Das hat die Verbraucherorganisation foodwatch bei der Auswertung der Daten der Europäischen Lebensmittelbehörde festgestellt.
Plastik mit all seinen Chemikalien
Der Giftcocktail, unter dem die Menschheit leidet, im Norden wie im Süden, enthält seit einigen Jahrzehnten zunehmend Plastik. Wallace-Wells in der «New York Times»:
«Kleinste Plastikteile finden sich im salzigen Meerschaum, der frisch von den brechenden Wellen aufgesprüht wird, in den traumhaften Wolken auf den japanischen Berggipfeln und im Atem der Delfine. Als ein Forscher 2019 die grösste Tiefe des Ozeans im ausserirdisch anmutenden Marianengraben erreichte, stellte er fest, dass Plastik ihn dort bereits erwartete, weit ausserhalb der Reichweite des natürlichen Lichts.»
Plastikreste mit der Ewigkeitschemikalie PFAS und anderen Chemikalien stecken heute im Fleisch von Fischen, in den Stängeln von Pflanzen, im menschlichen Speichel und im Blut, in menschlichen Herzen, Nieren und anderen Organen, in der Milch von Müttern und in der Plazenta, in den Eierstöcken, im Hodengewebe und in menschlichen Spermien.
Beispielsweise finde man heute in den USA in vier von fünf Blutproben kleinste Plastikteile. Über die Langzeitfolgen gebe es enorme Wissenslücken.
Möglicherweise sei es sicherer, Lebensmittel aus industrieller Landwirtschaft zu essen, als neben einem Bauernbetrieb zu leben. Doch es gelte die Regel der kleinen Zahlen in einer grossen Welt: Selbst kleine Effekte würden sich schnell summieren. Entscheidend seien die langfristige Dosis und die Zahl der Belasteten.
Nach drei Jahren Verhandlungsmarathon zwischen 184 Staaten ist das UN-Abkommen gegen Plastikmüll im August 2025 gescheitert. Der Deutschlandfunk meldete: «Ein Abkommen blockiert haben vor allem die erdölexportierenden arabischen Staaten, unterstützt von den USA. Sie lehnten geforderte Produktionsbeschränkungen für Kunststoffe aus Erdöl, Kohle und Gas ab.»
Nach dem Scheitern des Plastikabkommen wird sich die Plastikproduktion in den nächsten Jahrzehnten voraussichtlich verdoppeln oder sogar verdreifachen.
Rückstände von Arzneimitteln
Schliesslich seien Flüsse, Bäche, Seen und Wasserwege zunehmend auch mit pharmakologischen Abwässern durchsetzt: Antidepressiva und Medikamente gegen Angstzustände, Kokain und Methamphetamin, Herzmedikamente und Schmerzmittel. Bis zu 80 Prozent der untersuchten Flüsse in den USA sind positiv auf eine chemische oder medikamentöse Verunreinigung getestet worden.
Forscher schätzen, dass derzeit jährlich mehr als 8000 Tonnen Antibiotika in die Flusssysteme der Welt gelangen, wobei 750 Millionen Menschen in einem Umkreis von 10 Kilometern um Flüsse leben, in denen die Antibiotikakonzentrationen zulässige Grenzwerte überschreiten.
Als Einzelne ausgeliefert
Wallace-Wells zitiert den irischen Autor und Journalisten Mark O’Connell, der im Jahr 2023 schrieb: «Vielleicht war das schon immer unser Schicksal, in unserem eigenen Müll zu versinken.»
Das Problem lasse sich nicht so leicht lösen, indem man beispielsweise ein Kind nur auf Spielplätzen mit Holzschnitzeln spielen lasse oder auf Kunststoff-Röhrchen verzichte. Mit individuellen Optimierungsstrategien könne man das bessere, gesündere Leben heute kaum mehr erreichen, meint Wallace-Wells: «Dieser Umweltbelastung können wir als Einzelne nicht mehr ausweichen.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Die ganzen Folgen der übertriebenen Reiserei sollten nicht ausser Acht gelassen werden.
Warum reicht es nicht, ein Reiseziel einmal in seinem Leben zu besuchen?
Warum gibt es Menschen, welche mehr als einmal im Jahr in die Ferien fahren?
Manchmal kann weniger auch mehr sein…
Und was sagt uns das, außer dass wir dem Ganzen hilflos ausgeliefert sind? «Dieser Umweltbelastung können wir als Einzelne nicht mehr ausweichen». Na toll! Ich interpretiere den Beitrag so, dass der point of no return längst überschritten ist. Was einmal in der Luft, im Wasser, in Böden, Pflanzen, Lebewesen ist, wird in absehbarer Zeit nicht abgebaut, auch wenn wir unsere Produktions- und Lebensweise sofort ändern würden (da sei der Gott der Gewinnsucht und des Wachstums vor!). Also müssen wir mit der vom Profitstreben katalysierten Umweltsauerei leben. Ich schreibe und sage es immer wieder: nur ein Systemwechsel könnte Abhilfe schaffen. Aber das wollen die Menschen nicht, und dann müssen wir auch mit den Folgen unseres unüberlegten und konsumgierigen Handelns leben. Da wir alle Warnungen in den Wind schlagen, wird wohl in absehbarer Zeit eine weitere Spezies vom Planeten verschwinden, und es ist nicht einmal schade darum. Aber der Weg wird schmerzhaft sein.
Unglaublich, wie die Menschheit diesen düsteren und wahren Tatsachen wissend ins Auge schaut! Noch unglaublicher, dass Bestrebungen, daran etwas zu ändern so dreist von lobbyierenden Staaten und Industriezweigen torpediert werden (können). Wie lange lassen wir das noch mit uns machen?