Kommentar

kontertext: Schützt den Artenschutz – jetzt!

Johannes Kaiser © zvg

Johannes Kaiser /  Artenvielfalt ist überlebenswichtig Eine reduzierte Natur bedroht unsere Lebensmittelversorgung, unsere Medizin, unsere Zukunft.

Der Artenschutz ist aus den Schlagzeilen weitgehend verschwunden. Dabei ist die Situation der Natur dramatisch, und wenn wir uns nicht einschalten, wird sie sich nicht von alleine einrenken oder ihr Sterben verlangsamen. Der Artenschutz braucht unseren Schutz! 

Europas Artenschutz – in äusserst kritischem Zustand

Den miserablen Zustand der Natur konstatiert jetzt selbst mit seltener Klarsicht die Europäische Kommission in ihrem Bericht zur Umsetzung des EU-Umweltrechts. Ihre Statistik ist gruselig: Weil sich die Staaten nicht an das Umweltrecht halten, summieren sich die Zerstörungen der Natur, der Verlust an Pflanzen und Tieren sowie die Wasser- und Luftverschmutzungen derzeit auf enorme Summen, die besser für die biologische Vielfalt ausgegeben werden sollten.

Insgesamt 60 Prozent der Flüsse und Seen Europas sind «in einem äusserst kritischen Zustand». Für Deutschland listet der Bericht nur Verschlechterungen auf: 63 Prozent der Arten und 69 Prozent der wichtigsten Ökosysteme sind in ihrem Status «ungünstig bis unzureichend».

Angesichts der für die Zukunft vorgesehenen Ausgabenplanungen ab 2027, in denen der Green Deal, also der Schutz naturbelassener Landschaft und die Förderung grüner Landwirtschaft, gar nicht mehr vorgesehen ist, muss mit einer weiteren Verschlechterung des Naturschutzes gerechnet werden.

Falsch verstandener Rehschutz

Schon jetzt sieht man überall Verluste durch menschliche Eingriffe in die Natur. Förster und Waldbesitzer klagen seit Jahren über starken Verbiss ihrer Wälder durch eine übergrosse Zahl an Rehen, weil viele Jäger aus ihrer Sucht nach kapitalen Geweihen die Rehbestände haben zu stark anwachsen lassen und ihre natürlichen Feinde wie Bären, Wölfe oder Luchse und Füchse ausgerottet wurden. Dass sie sich in den Wäldern verstecken und nachtaktiv sind, liegt am Glauben der Landwirte, sie würden ihre aufgehende Getreidesaat fressen. Also verscheuchte man sie tagsüber von den Äckern. Dabei weiss man heute, dass abgefressene Saat sogar kräftiger und stärker nachwächst. 

Beim klimaresistenten Umbau der Wälder müssen Neuanpflanzungen mit Drahtgittern vor den Rehmäulern geschützt werden. Auch wenn sie den übergrossen Rehbestand nur geringfügig verringern (das könnte heute nur noch gute Jagd), ist die Rückkehr der Raubtiere wichtig, denn ihnen fallen vor allem alte, kranke und geschwächte Tiere zum Opfer. Sie beseitigen ausserdem Aas, so dass sich keine Krankheiten unter den Waldbewohnern ausbreiten. Eine konkrete und nützliche Artenschutzmassnahme wäre also die Wiederansiedelung von Wölfen, Luchsen und Bären. 

Anderes Beispiel: Im Biosphärenreservat Rhön in den Bundesländern Bayern, Hessen und Thüringen gibt es Fuchstreibjagden, weil sich die Rotröcke ohne ihre natürlichen Feinde, die ausgelöscht wurden, so stark vermehrt haben, dass ihre Beute vom Hasen bis zur Feldmaus ohne Dezimierung der Füchse keine Chance mehr hätte aufzuwachsen.

Fatale Wiesenmahd

In mehreren EU-Ländern und in der Schweiz werden viele Wiesen fünfmal im Jahr für Silagefutter gemäht. Damit verschwinden viele seltene Wiesenblüher, die nicht mehr wachsen und ihre Samen verbreiten können. Die aber sind die Futterquelle zahlreicher Insekten und deren Kinderstube, weil sie dort normalerweise ihre Eier ablegen. Resultat: ein dramatischer Rückgang der Insektenvielfalt und damit des Futters für Vögel oder Fledermäuse. Auch kleine Tiere wie Schnecken, Blindschleichen, Salamander, Mäuse, Hamster verschwinden und fehlen den Greifvögeln, Füchsen, Dachsen oder Igeln als Nahrung. Werden Büsche und Bäume am Rande der Felder und Wiesen nicht mehr bestäubt, leiden darunter die Singvögel, die von Sämereien, Nüssen oder Obst leben. Die Wieseninsekten fehlen zudem als Bestäuber von Gemüse und Obstpflanzen. Rund 70 Prozent des Gemüses in Deutschland ist auf ihre Hilfe angewiesen. 

Teurer Insektenersatz

Fehlen die zahlreichen bestäubenden Insekten, wird ihr Ersatz ein kostspieliges Vergnügen, wie die USA zeigen. In der industrialisierten amerikanischen Landwirtschaft hat das massive Spritzen von Pestiziden und das Ausbringen von Kunstdünger auf Blaubeer- und anderen Obstplantagen vielerorts zum grossen Insektensterben geführt. Die Plantagenbesitzer heuern jetzt Imker mit hunderten Bienenkästen zur Blütezeit an. Pro Volk kostet das über 180 Dollar. Grossimker fahren mit riesigen Trucks mit hunderten Bienenkästen von einer industrialisierten Obstplantage zur anderen. Ohne ihre Hilfe gäbe es in Kalifornien auch keine Mandelernte, denn die Böden dort sind totgedüngt und totgespritzt. 

Der Naturschutzbund Deutschland schreibt über diesen Zustand: «Von den 107 weltweit am häufigsten angebauten Kulturpflanzen werden 91 in unterschiedlichem Ausmass bestäubt. Erdbeeren und Kirschen, Raps, Kaffee oder Wassermelonen bringen besonders reiche Erträge, wenn sie von Wildbienen oder anderen Insekten bestäubt werden. Schätzungen zufolge würde ein Totalverlust an Bestäubern dazu führen, dass Ernteeinbrüche um bis zu 90 Prozent zu befürchten wären.» 

Artenreichtum wiedergewonnen

Ein Beispiel zeigt, dass Natur auch wieder zurückgewonnen werden kann, wenn man den Ursprungsfehler beseitigt. So hatte die Bejagung des Seeotters katastrophale Auswirkungen auf das Artenleben vor der pazifischen Küste Nordamerikas. Der Fischotter frisst vor allem Seeigel. Als er verschwand, führte das zur Massenvermehrung der Seeigel. Die weideten fortan ungehindert die Braunalgenkelpwälder ab und zerstörten sie. Damit aber fehlten zahlreichen Meerestieren ein geschützter Ort zum Aufwachsen und ein Schutzraum vor Feinden. Auch diese Meerestiere starben aus. Ein enormer Verlust auch für die Fischerei. Nach dem Verbot der Bejagung erholten sich die Kelpwälder wieder. Das ökologische Gleichgewicht stellte sich wieder her.

Das ändert allerdings nichts an der grundsätzlichen Situation. Der Weltbiodiversitätsrat schätzt, dass von rund acht Milliarden Arten rund eine Million vom Aussterben bedroht ist. Dabei beruhen all diese Zahlen auf Schätzungen. Wir wissen noch nicht einmal, wie viele Arten es überhaupt gibt, denn ständig werden neue entdeckt.

Artenschutz und Medikamente

Das hat auch auf ganz anderem Gebiet schwerwiegende Folgen. Schon heute basieren Medikamente auf Wirkstoffen aus Pflanzen, Tieren, Mikroorganismen, wie das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung schreibt:

«Die potentesten Arzneimittel, die wir kennen, basieren auf Naturstoffen (…) Und heute noch werden Digitalis-Glykoside aus Fingerhut als Medikamente verwendet und Aspirin, das erfolgreichste Medikament aller Zeiten, basiert auf der Salicylsäure aus Weidenrinde. … Wir verwenden sie als Antibiotika, Krebsmedikamente, Cholesterinsenker, Immunsuppressiva, und auch die Entwicklung von Pflanzenschutzmitteln haben die Stoffe aus der Natur maßgeblich geprägt … Etwa 12’000 Antibiotika haben Wissenschaftler:innen bislang aus Bakterien und Pilzen isoliert.»

Wir machen uns zu Nutze, was die Natur selbst in Jahrtausenden zur Abwehr von Schädlingen, von Viren, Bakterien, Pilzen entwickelt hat. Je mehr Arten jetzt unentdeckt und unerforscht sterben, desto mehr möglicherweise hochpotente chemische Verbindungen verschwinden. 

Hintergrundwissen

Dass der Schutz der Arten heute so wichtig ist wie nie zuvor, belegen eindrücklich drei neuerschienene Bücher. Am ausführlichsten und umfassendsten ist das Sachbuch «Rettet die Vielfalt – Manifest für eine biodiverse Gesellschaft». Geschrieben haben es die Wissenschaftliche Geschäftsführerin des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung Katrin Böhning-Gaese, der Professor für Öffentliches Recht an der Maximilians-Universität München, Jens Kersten, und Helmut Tritschler, dort Professor für Neuere und jüngste Geschichte. Sie diskutieren, wie sich Artenschutz in unsere Gesellschaft integrieren liesse.  

Verantwortlich für die Verluste sind ihrer Ansicht nach fünf Faktoren: die Landnutzung, worunter der Verlust bislang unberührter Lebensräume wie Wälder, Graslandschaften oder Feuchtgebiete fällt, die in Weide- oder Ackerland verwandelt werden. Dazu kommt die Ausbeutung der Arten wie zum Beispiel die Überfischung der Meere. Die Umweltverschmutzung und die Invasion exotischer, fremder Arten bedrohen ebenfalls die Artenvielfalt. Zunehmend verhängnisvoll wirkt auch der Klimawandel, der die Lebensräume von Tieren und Pflanzen verändert und schädigt.

Ausführlich gehen sie auf alle damit verbundenen Themen ein, indem sie weit in die Industrialisierungsgeschichte zurückgreifen. Sie zeigen, wie wir uns die Natur unterwerfen, sie ausbeuten, ihre Ressourcen hemmungslos verbrauchen. Sie plädieren dafür, Artenschutz in die Gesetze und die Rechtsprechung, in Wirtschaft und Politik, Technik und Wissenschaft mit aufzunehmen. Das ist bislang nicht der Fall: «Es geht um soziale und technische Infrastrukturen, deren Konzept und Realität die ökologische Dimension vollkommen ausblenden.»

Für sie hat die Natur ein eigenes einklagbares Recht, wie es eine Reihe von Staaten bereits in ihre Gesetzgebung aufgenommen hat. Sie fordern eine «sozial-ökologische Transformation des Eigentums», was unter anderem heisst, dass Eigentümer zum Beispiel von Wäldern diese dann nur noch nachhaltig nutzen dürfen. Altbekannte Forderungen finden sich wie eine Änderung der Ernährung weg vom Fleisch hin zu Pflanzen. Ausserdem soll den indigenen Völkern, die ein ganz anderes Naturverständnis als die kapitalistischen Gesellschaften haben, ein Recht auf den Erhalt ihrer Natur zugesprochen werden. 

Viele der Vorschläge für eine ökologische Transformation unserer demokratischen Gesellschaften wirken utopisch, denn sie verlangen Verzicht und Verhaltensänderungen. Das stösst schon beim Klimaschutz auf massive Gegenwehr. Wer das Buch liest, wird es allerdings verstehen. Es ist die derzeit wohl gründlichste philosophische, politische, technische und ethische Auseinandersetzung mit unserer naturfeindlichen Gesellschaft, für die Naturschutz keine Priorität hat, obwohl sie sich selbst damit massiv schadet. Leider fehlt dem Werk die emotionale Dimension. Ihm fehlen sofort begreifbare Beispiele dafür, was Artenverlust konkret bedeutet. Es ist eine sehr theoretische, kühl wissenschaftliche Erörterung. Sie wirkt ein bisschen so, als ob das Thema die Autoren persönlich gar nichts anginge, dabei beklagen sie ja gerade den Verlust der von ihnen durchaus geschätzten Natur. 

Das unerforschte Meer  

Erheblich lebendiger ist das Buch «Ozeane» des inzwischen 99-jährigen britischen Journalisten David Attenborough, der sich vor allem durch seine BBC-Naturfilme weltweit einen Namen gemacht hat. Diesmal nimmt er uns mit auf eine Fahrt mit einem Unterseeboot bis in grosse Tiefen, um einige der dort lebenden Meerestiere zu entdecken und zu filmen. Wie in seinen aussergewöhnlichen Filmen verbindet er seine persönlichen Eindrücke und Erfahrungen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, die er souverän in eine Sprache übersetzt, die jeder versteht. Seine Begeisterung ist ansteckend. Man möchte eigentlich sofort in ein Tauchboot steigen, um diese bislang grösstenteils unerschlossene Welt zu entdecken.

Im Mittelteil des Buches zeigen brillante Farbaufnahmen die kuriosen, luminösen Tiefseebewohner, von denen wir, so Attenborough, bislang nur einen winzigen Bruchteil kennen. Jeder wissenschaftliche Tauchgang entdeckt neue Wesen. 


Die Meere bedecken immerhin 80 Prozent der Erde und sind, so der Autor, für das ökologische Gleichgewicht unseres Planeten von entscheidender Bedeutung. Sie bremsen zwar bislang den Klimawandel, erwärmen sich dabei aber. Dadurch verdunsten grosse Mengen Wasser, die sich dann sturzartig über dem Festland entladen. So beeinflussen die Meere die Regenverteilung auf den Kontinenten. Zugleich versauern sie immer stärker durch die enorme Menge an Kohlendioxid, die sie aufnehmen müssen. Das wiederum gefährdet die Korallenriffe, die Kinderstube zahlloser Fische, massiv. Die zunehmende Versauerung wirkt sich auch negativ auf die Kleinstlebewesen, das Phytoplankton, aus. 

Eines macht uns Attenborough nachdrücklich klar: Die Tiefsee mit ihren zahllosen faszinierenden Gebirgslandschaften bleibt weiterhin ein grosses Geheimnis, das seiner Entdeckung harrt. Niemand weiss, wie viele medizinische Wirkstoffe sich in seinen Pflanzen und Tieren verbergen. 

Artengeschichte  im Naturkundemuseum

Ein drittes Buch, «Das Parlament der Natur – Was uns Farne, Finken und ihre Verwandten zu sagen haben», ist eine sehr persönliche und emotionale Reise in Darwins Evolutionstheorie. Seine Urenkelin, die Wissenschaftlerin Sarah Darwin, und der Generaldirektor des Berliner Museums für Naturkunde, Johannes Vogel, erzählen im Gespräch mit dem Journalisten Boris Herrmann, wie sie den Artenschutz in ihrem Bereich zu verwirklichen suchen.

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«Das Parlament der Natur» – eine emotionale Reise in Darwins Evolutionstheorie.

Zahlreiche Farbfotos verdeutlichen ihre Beispiele. Ein bisschen ärgerlich: Der Journalist ist oft nur der Stichwortgeber für Erklärungen. Das wirkt abgesprochen und gekünstelt. 

Es geht oft darum, wie die beiden Interviewten, übrigens ein Ehepaar, überhaupt zu ihrem Beruf gekommen sind und was sie an ihrer Wissenschaft fasziniert. Immer wieder wird auf die riesige Sammlung des Berliner Naturkundemuseums hingewiesen, die viele bereits ausgestorbene Pflanzen und Tiere aufbewahrt. Sie bestätigt die Väter der Evolutionstheorie, also Darwin und Wallace, zeigt, wie und warum es zur Artenvielfalt kam. Eingeflochten wird immer wieder, wie wir leben sollten, um sie zu retten. Ein amüsantes, leicht lesbares Werk, über 200 Seiten im Hochformat mit zahllosen faszinierenden Fotos und kleinen Zeichnungen, die verdeutlichen, was die beiden Wissenschaftler erklären. Die beiden Autoren zeigen uns, dass Wissenschaft auch Spass machen kann.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

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