Kommentar
kontertext: Ein fremder Blick auf die Kunstszene Schweiz
Die Schweizer Kultur von aussen zu betrachten erzeugt ein Bild paradiesischer Verhältnisse. Hervorragende Museen mit extrem reichen Sammlungen, nicht nur öffentliche, sondern auch private, manchmal mehrere in einer Stadt; einige der berühmtesten Musikfestivals der Welt, wie das Montreux-Jazz-Festival oder das Lucerne-Festival. Aber wenn man etwas genauer hinschaut, fragt man sich, woher dieser Reichtum kommt, welche Herkunft die Werke aus den Museumssammlungen haben (die seit Jahren geführte Diskussion um die Sammlung Emil Bührle im Kunsthaus Zürich stellt diese Frage, also nicht nur wir) und wer sich den Besuch von Schweizer Festivals bei den exorbitanten Preisen für Tickets, Verkehrsmittel und Hotels leisten kann.
Je öfter wir in der Schweiz sind, desto mehr Fragen stellen sich uns. Welche Funktion erfüllen die Künste hier und heute? Wie sehr greifen sie in das Leben des Landes und der Menschen ein? Und würden wir sie überhaupt wahrnehmen, wenn wir ihr nicht so sehr auf der Spur und mit ihr verquickt wären?
Musik: Der Silbersee
Am leichtesten begegnet man in Basel der Musik. Sommerkonzerte in Parks und am Rhein oder lärmige Blechbläser wie am Militärmusikfestival in der Kaserne heben den Krachpegel in der Stadt auf ein Maximum und lassen uns manchmal unsere Ohren zuhalten. Musik gibt es in Basel reichlich, für jeden Geschmack und jeden Geldbeutel, in allen Stilrichtungen; wir haben nur eine Weile gebraucht, um die Informationskanäle zu finden. Es gibt kaum Aussenwerbung, und es lässt sich nicht immer erahnen, dass das Gebäude, vor dem ich gerade stehe, ein Musikclub oder ein Konzertsaal ist. Am schnellsten noch identifizierten wir das Stadtcasino Basel als Konzerthaus für Klassik und Jazz.
Das Bild, das sich uns dort bot: Zunächst einmal so gut wie kein junges Publikum – in zehn Jahren, so scheint es, wird die klassische Musik samt ihrem Publikum begraben sein. Anerkennung verdienen jene lokalen Orchester, die versuchen, die Situation zu retten, indem sie neue Formate wie offene Proben oder Diskussionskonzerte erfinden; bisher hat das alles jedoch wenig gebracht. Der zweite Trend, den wir festgestellt haben, ist die Kommerzialisierung: Die Tickets für Konzerte mit Stars, manchmal von Jahr zu Jahr dieselben, sind fast immer ausverkauft, während bei anderen Künstlern und Künstlerinnen die Säle halbleer bleiben.
Ein weiterer Trend sind Konzerte mit nationalem Touch. Nun, die gibt es nicht nur in der Schweiz. Auch beim Konzert von Giovanni Allevi in Wien beispielsweise hatten sich augenscheinlich alle Italiener der Stadt versammelt. In der Schweiz aber sind Konzertprogramme, die nach nationalen Kriterien zusammengestellt werden, eine wahre Epidemie. So hörten wir in den letzten Jahren «chinesische», «polnische» und «japanische» Konzerte, an denen auch im Publikum vorwiegend Chinesisch, Polnisch und Japanisch gesprochen wurde. Einerseits ist es schön zu sehen, dass die Diaspora ein intensives kulturelles Leben führt, andererseits mutet es uns fremd und unzeitgemäss an, die Musik nach Nationalitäten aufzuteilen.
Wenn es um die Musikszene im Allgemeinen geht, vermissen wir zwei Dinge am meisten: Erstens leichteren Zugang zu Informationen – wir müssen diese zumeist an verschiedenen Orten, etwa auf Flyern und Websites einzelner Künstler und Veranstaltungsorte zusammensuchen – und zweitens das konzeptionelle Gespräch über Musik, ihre Trends und Entwicklungen, ohne die der Konzertbesuch auf Unterhaltung und Konsum reduziert wird.
Visual Arts: Museen gegen Art Basel
Diesbezüglich gefällt uns die Arbeitsweise der Schweizer Museen viel besser. Sie sind mehr oder weniger echte Kulturzentren, die nicht nur Führungen durch ihre Ausstellungen, sondern auch damit verbundene Veranstaltungen – Diskussionen, Konzerte, Werkstätten – organisieren. Auch wenn wir selbst daran angesichts von Sprachbarrieren kaum teilnehmen können, finden wir solche Formen der Arbeit mit dem Betrachter optimal. Denn sie locken ein möglichst breites Publikum, auch Kinder und Jugendliche, ins Museum. Sie bringen mehr Gleichheit und Gleichberechtigung ins Publikum, es gibt weniger Trennung zwischen teuren und billigen Plätzen, die Billette sind oft für alle gleich teuer oder gar kostenlos. Jeder und jede kann sich äussern und etwas gemeinsam mit anderen tun.
Das Gros der Schweizer Museen und ihre täglichen Bemühungen stehen in krassem Gegensatz zur Art Basel, die als das angesagteste und meistbeachtete Kunstevent der Stadt gilt. Dieser Ruf ist unberechtigt. Die Art Basel ist bewusst elitär, sie wendet sich nicht an ein breiteres Publikum, sondern an professionelle Kunsthändler und vermögende Käufer. Die Stadt versucht mitzuhalten: Einige Anwohner vermieten ihre Wohnungen für die Dauer der Messe zu horrenden Preisen. Der künstlerische Aspekt der Messe interessiert dabei kaum. Grundsätzlich empfinden wir es als Zumutung, dass ein Ort, an dem Kunst ausschliesslich als Handelsware präsentiert ist, zum wichtigsten Kunstereignis des Jahres erklärt wird.
Festivals: Giswil und Aarau
Damit ist nicht gesagt, dass wir Schweizer Kunstevents nicht zu schätzen wüssten. Das Festival Translocal Performance-Art Giswil, das wir im Herbst 2023 besucht haben, schien uns eine tolle Möglichkeit, ein Wochenende im Freien zu verbringen. Es hatte alles, was wir lieben, und schien in der Tat zeitgemäss: Multidisziplinarität (Tanzperformances, partizipative Spaziergänge, Figurentheater et cetera.) war da, es gab ein starkes internationales Programm und Feedback-Sessions mit den Künstlern am Tag nach den Vorführungen. Es ist nicht verwunderlich, dass so viele junge Leute hier teilnahmen, denn es wurden sämtliche Aktualitäten thematisiert, und zwar in sehr zeitgemässen Formen.
Traurig war allerdings das Desinteresse, das die örtliche Gemeinde dem Festival entgegenbrachte. Für die Einheimischen war das Programm vielleicht zu radikal. Ganz anders dagegen Cirqu‘, das Festival für zeitgenössische Zirkuskunst in Aarau! Cirqu‘ war das zentrale Hauptereignis des städtischen Sommers. Zirkus ist eben leichter konsumierbar und lustiger. Die ganze Familie hat Spass daran, die Aufführungen fanden mitten in Aarau statt und viele bekannte Orte der Stadt waren in das Festival eingebunden.
Wir beobachten, wenn wir in der Schweiz sind, und versuchen, die Bewohner dieses wunderbaren Landes zu verstehen. Dabei kam uns, was die Kunst betrifft, der Gedanke, dass hierzulande noch immer weitgehend traditionelle Verhältnisse herrschen.Noch immer werden Kunstgattungen häufig in hoch und niedrig eingeteilt. Theater ist «besser» als Kino, der Besuch der Zürcher Oper gilt als prestigeträchtig. Jazz ist etwas für «Fortgeschrittene», und den Eurovision-Song-Contest verfolgt man höchstens aus patriotischem Interesse. Seltsamerweise scheint es so, als würden die Künste in der Schweiz nicht so sehr die Gemeinsamkeiten unter den Menschen fördern, als vielmehr die Unterschiede unter ihnen betonen, die sozialen wie die Altersunterschiede.
Aus dem Russischen von Elvira Hauschild Horlacher, Redaktion Felix Schneider.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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