Jedem seine Diagnose – ein Irrweg der Medizin
Darcie* ist Anfang 20 und hat bereits neun Diagnosen: ADHS, Autismus, Depression, Angststörung, Migräne, Anorexie, Reizdarm, Ehlers-Danlos-Syndrom (übermässig bewegliche Gelenke), posturales Tachykardiesyndrom (unangemessen schneller Herzschlag beim Stehen). Neu dazu gesellen sich Krampfanfälle, für welche die Ärzte keine andere Erklärung finden als psychisch bedingt.
Patienten wie Darcie erfüllen die britische Neurologin Suzanne O’Sullivan mit «wachsender Sorge». «In den letzten 10 bis 15 Jahren ist mir aufgefallen, dass mehr und mehr junge Patienten mit langen Diagnose-Listen kommen», sagte die seit 1991 berufstätige Ärztin in einem Interview mit dem «British Medical Journal» (BMJ). Sie hat diesen Patientinnen und Patienten ein Buch gewidmet: «Das Zeitalter der Diagnose: Krankheit, Gesundheit und warum die Medizin zu weit ging», heisst der Titel übersetzt. Darin hinterfragt die Ärztin die explosionsartige Zunahme von medizinischen Diagnosen insbesondere bei jungen Menschen.
Diagnose im Internet gefunden
Beispiele dafür gibt es auch in der Schweiz zuhauf. Da ist etwa Felix. Er hat die Matura gemacht, kommt im Studium gut voran – und erscheint eines Tages mit einer Selbstdiagnose in der Arztpraxis: Er leide an ADHS. Das ergab seine Recherche im Internet. Den Hinweis, dass Felix sein Leben bisher doch erfolgreich meistere, schmettert er ab. Der junge Mann ist von seiner Diagnose nicht abzubringen. Er wird sie später von einem Facharzt bestätigt erhalten.
In Grossbritannien gab es von 2000 bis 2018 bei den ADHS-Diagnosen bei jungen Männern einen 50-fachen Anstieg. In der Schweiz verläuft die Entwicklung ähnlich. In ihrem Arzneimittelreport 2020 schätzte die Krankenversicherung Helsana, dass die Verordnungen von Medikamenten gegen ADHS bei jungen Erwachsenen seit 2013 um 36 Prozent stiegen. Bei den über 26-Jährigen sogar um 70 Prozent. Wie der Schweizer Versorgungsatlas zeigt, nahmen diese Verordnungen seit der Pandemie weiter zu, auch bei Kindern und Jugendlichen.
Früher 1von 1000, heute 1 von 80
Auch Andrea schloss ihr Studium erfolgreich ab. Sie lebt in einer Partnerschaft, arbeitet als Teamleiterin, pflegt ihren Freundeskreis und ihre Hobbies – und erkennt plötzlich, dass sie Autistin ist. Niemand in ihrem Umfeld hätte das vermutet. Aber die Psychiaterin bestätigt die Diagnose.
«In den 1980er Jahren betraf die Diagnose Autismus 1 von 1000 Personen, heute soll es je nach Datenquelle 1 von 80 sein», berichtet das Magazin «Fritz+Fränzi» in seiner aktuellen Ausgabe. «An der Psychiatrischen Uniklinik in Zürich haben sich Autismus-Abklärungen bei Kindern und Jugendlichen in der vergangenen vier Jahren verdoppelt, an der Uniklinik Basel häuften sich die damit verbundenen Anfragen in ähnlichem Mass.»
Die meisten Autismus-Diagnosen würden heutzutage Personen mit leicht ausgeprägten Symptomen erhalten, bei denen bis vor kurzem niemand Autismus vermutet hätte – Richard Smith, der frühere Chefredaktor des «British Medical Journal», sieht hier einen wesentlichen Grund für die Diagnose-Flut. Mit der Überarbeitung des DSM – das Diagnose-Handbuch der Psychiater – seien die Diagnosekriterien für verschiedene Erkrankungen wie ADHS und Autismus ausgeweitet worden.
Medizinische Diagnose als «Pflaster»
Für ihr Buch führte Suzanne O’Sullivan viele Gespräche mit Menschen. Dabei stellte sie fest: Fast jeder, bei dem eine leichte Form einer Erkrankung diagnostiziert wurde, war erleichtert darüber. «Die Menschen tun sich schwer, mit Unsicherheit zu leben. Wir wollen Antworten. Wir möchten unsere Misserfolge erklärt haben. Wir erwarten zu viel von uns und unseren Kindern. Die Erwartung, dass wir immer gesund bleiben, erfolgreich sind und ein reibungsloses Leben führen, führt zu Enttäuschung, wenn es nicht so läuft. Medizinische Erklärungen sind zu einem Pflaster geworden, mit dem wir diese Enttäuschung bewältigen können.»
«Eine Diagnose kann für die eigene Identität zentral werden», warnt auch Richard Smith in seinem Artikel über O’Sullivans Buch. «Die Patientin sieht sich selbst als ‹autistische Person›, weil Autismus ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität ist. Long Covid, Lyme-Borreliose oder ADHS können definieren, wer und was man ist, und einen zum Teil einer Gemeinschaft werden lassen. Es kann einem sogar eine Aufgabe geben – zum Beispiel, sich für mehr Forschung zu dieser Erkrankung einzusetzen oder an der Entwicklung von Leitlinien zu dieser Krankheit mitzuwirken.»
Bei «Long Covid» zog O’Sullivan Kritik auf sich. Sie behauptet, die Mehrzahl der Long Covid-Erkrankungen – fast 3 Prozent der Bevölkerung in Grossbritannien sind davon betroffen – sei psychosomatisch bedingt.
Mit einem pathologisierenden Etikett leben
Die Neurologin bläst aber nicht ins Horn derer, die finden, die Jungen seien zu verwöhnt, zu mimosenhaft, zu wenig selbstverantwortlich. Sie ist überzeugt, dass diese Menschen soziale, psychologische oder informierende Unterstützung brauchen – aber kein unnötiges «medizinisches Label». Denn eine Diagnose zu erhalten, verändere das Leben und das Verhältnis zum eigenen Körper. «Wir müssen verstehen, was es bedeutet, mit einem Etikett zu leben, das vielleicht nie nötig gewesen wäre.»
Selbst wenn dieses «Etikett» nur in der Vorstellung eines Menschen existiert, kann es unglaubliche Folgen haben. In einem Podcast des «British Medical Journal» (BMJ) schildert O’Sullivan die Geschichte einer jungen Frau, deren Mutter an der schweren neurologischen Erkrankung Chorea Huntington erkrankte. Die junge Frau wollte lieber nicht wissen, ob sie später im Leben ebenfalls an dieser unheilbaren Krankheit leiden werde und entschied sich darum bewusst gegen einen Gentest.
Im Verlauf von 20 Jahren bekam die Tochter jedoch immer mehr Symptome, die auf Chorea Huntington hindeuteten – genau wie einst ihre Mutter. Die Tochter veränderte sich in ihrer Persönlichkeit, sie war nervös, sie lief sogar in Gegenstände. Überzeugt, an der furchtbaren Krankheit zu leiden, liess sie schliesslich den Gentest machen.
Er war negativ. Keine Chorea Huntington. Allein ihre Befürchtung, sie könnte daran leiden, hatte all die Symptome hervorgerufen. Ähnliches könne bei medizinischen Diagnosen passieren, warnt O’Sullivan. «In dem Moment, in dem Sie ein positives Testergebnis erhalten, verändert sich Ihr Leben», sagt sie im Interview mit dem «BMJ».
Drei Punkte sollten Laien wie Ärzte im Auge behalten, rät die Buchautorin O’Sullivan:
- Übererkennung, dass also kleine Krankheitszeichen gefunden werden, die aber gar nicht zwangsläufig in einer Krankheit enden würden.
- Überdiagnosen, bei denen etwas behandelt wird, das nicht hätte behandelt werden müssen.
- Übermedikalisierung, wenn etwa Verhaltensweisen zum Pharmageschäft für Ärzte werden.
Diagnose kann das Leben erschweren
Was den jungen Menschen ebenfalls zu wenig bewusst sei: Die Diagnosen können sich auch in anderer Hinsicht nachteilig für sie auswirken, etwa, wenn sie eine Versicherung abschliessen wollen oder sich um eine Arbeitsstelle bewerben. Leider gebe es andererseits kaum Anzeichen dafür, dass die Diagnosen das Leben, die Beziehungen oder die Arbeit der Betroffenen verbessern würden.
Die inflationäre Zunahme an Diagnosen könne überdies zur Umverteilung der begrenzten Gelder und Ressourcen führen: Weg von Menschen mit schweren Formen von Autismus oder anderen Erkrankungen hin zu Menschen mit leichten Erkrankungen. In Grossbritannien etwa nahmen die Zahlungen an behinderte Menschen im Lauf der Jahre stark zu, von rund 1,1 Milliarde britische Pfund Mitte der 1980er Jahre auf 39,1 Milliarden im Jahr 2024. Mehr als die Hälfte davon erhalte die Unterstützung aufgrund einer psychischen Erkrankung.
Schätzungen würden davon ausgehen, dass diese Zahlungen 2030 über 100 Milliarden Pfund betragen werden. Bereits jetzt sei das staatliche Gesundheitssystem der grösste Arbeitgeber in Grossbritannien, gibt der ehemalige Chefredaktor des «BMJ» zu bedenken und zitiert den Professor für Gesundheitsökonomie Uwe Reinhardt. Dieser habe einst gespottet, dass am Ende «jeder entweder in einem Spital arbeitet oder liegt».
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*Alle Namen geändert.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
«Leider gebe es andererseits kaum Anzeichen dafür, dass die Diagnosen das Leben, die Beziehungen oder die Arbeit der Betroffenen verbessern würden.» Das mag im Grossen und Ganzen stimmen, aber in meinem Fall glaube ich nicht daran. Ich war aufgrund meiner Andersartigkeit etwa 25 Jahre lang depressiv, und erst viel später entdeckte ich, dass ich (früher sogenannt) Asperger habe. Ich bin überzeugt, dass dieses Wissen, hätte ich es schon damals gehabt, mir eine bessere Lebensperspektive beschert hätte.