Schweigender Wissenschaftler

Stillschweigen fördert die Karriere – das war die Meinung der meisten Kollegen. © Elnur_ / Depositphotos

Vetterli-Wissenschaft – und (fast) alle schweigen

Martina Frei /  Einflussreiche Wissenschaftler, die sich nicht an die gute Praxis halten, werden von ihren aufstrebenden Kollegen gedeckt.

«Wissenschaft korrigiert sich selbst» – heisst es. Doch seit Jahrzehnten kämpft sie intern mit den immer gleichen Problemen.

Vier Forscherinnen und Forscher in Australien – zwei davon absolvierten einen Teil ihrer Ausbildung in der Schweiz, eine ist Anästhesiologie-Chefärztin am Universitäts-Kinderspital beider Basel – getrauten sich, den Mund aufzumachen. Im «British Journal of Anaesthesia» beschreiben sie das «korrupte System» und die «Hinterzimmer-Verbindungen». 

Der fünfte Mann

Sie wurden von einer Fachzeitschrift eingeladen, einen Fachartikel zu verfassen zu einem Thema, an dem sie schon länger forschten. Veröffentlichungen sind im Wissenschaftsbetrieb für die Karriere wichtig.

Kaum hatten sie das Manuskript abgegeben, kam der Kollege, der die gesamte Ausgabe koordinierte, auf sie zu. Er ist in der Fachwelt sehr angesehen und einflussreich. Er verlangte: Sie sollten einen fünften Autor, der an derselben Einrichtung arbeitete wie er selbst, auf das Manuskript setzen – ein klarer Fall von wissenschaftlichem Fehlverhalten. 

Denn dieser fünfte Autor hatte keinen Strich zu dem Artikel beigetragen. Doch wer nicht massgebend an einer Arbeit mitwirkt, darf nicht als Autor genannt werden. Das sind die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis. Die vier echten Autorinnen und Autoren kannten diesen Mann gar nicht.

Sie weigerten sich. Versuchten ein halbes Jahr lang, das Ganze mit dem angesehenen Kollegen, dem fünften «Autor» und weiteren Beteiligten zu klären. Keiner antwortete. Der Chefredaktor der Zeitschrift wollte es schliesslich damit abtun, dass dem renommierten Kollegen bloss ein «Fehler» unterlaufen sei. 

«Es wird dir helfen, voranzukommen»

Wie sich in Gesprächen mit anderen Kollegen herausstellte, hatten viele ebenfalls zweifelhafte Erfahrungen mit dem mächtigen Wissenschaftler gemacht. Doch sie hielten still. Die Mehrheit gab den vier Autorinnen und Autoren Tipps wie die folgenden. Sie lesen sich wie Offenbarungseide:

  • «Sei vorsichtig, ruiniere nicht deine Karriere!» 
  • «Als Frau solltest du dich nicht gegen den Männerclub stellen, das wird böse für dich enden.»
  • «Du wirst vielleicht nie wieder zu Treffen auf dem Kontinent dieser Person eingeladen.»
  • «Es könnte schwierig werden, internationale Fördermittel zu bekommen, sie können dich ausbremsen.» 
  • «Es ist noch gefährlicher, weil du eine Frau bist; bitte sei wirklich vorsichtig!»
  • «Bitte pass auf dich auf, kämpfe nicht um so einen kleinen Artikel.» 
  • «Zieh das Manuskript einfach zurück, aber gib keinen Grund an.» 
  • «Akzeptiere es einfach; es ist zwar falsch, aber auf lange Sicht wird es dir helfen, voranzukommen, weil diese Person sehr einflussreich ist.»
  • «Denk daran, welche Positionen diese Person innehat.» 
  • «Es gibt Zeiten, in denen man sich zu Wort melden sollte, und Zeiten, in denen man besser schweigen sollte – dies ist keine Zeit, sich zu Wort zu melden.»

«Von innen verrottet»

Im Gegensatz zu ihren Kollegen, die das hinnahmen, legten diese vier offen, was sie erlebt hatten und zogen ihr Manuskript zurück. «Die Reaktion unserer akademischen Kollegen ist besorgniserregend, da sie einerseits die Akzeptanz von ‹normalem Fehlverhalten› zeigt, und andererseits ein vorherrschendes, überwältigendes Gefühl der Hilflosigkeit und Angst, dass wenig oder gar nichts getan werden kann, wenn Macht missbraucht wird», schreiben die drei Autorinnen und der Autor im «British Journal of Anaesthesia».

Dort schildern sie den «redaktionellen Missbrauch» (von dem weitere Wissenschaftler betroffen waren), ohne allerdings den Namen des angesehenen Wissenschaftlers und die Fachzeitschrift zu nennen. «Wir hatten das überwältigende Gefühl, in einem korrupten System gefangen zu sein, das diese Hinterzimmer-Verbindungen stärkt.» Sie glauben, sich das Offenlegen leisten zu können, denn sie hätten genügend Erfahrung und Dienstjahre, so dass sie nicht mehr – wie junge, aufstrebende Kollegen – auf jede Veröffentlichung angewiesen seien.

Das «Laborjournal», das darüber berichtete, schrieb dazu: «Wie sehr das System ‹Wissenschaft› an einigen Stellen von innen verrottet ist, lässt sich bisweilen am besten durch Anekdoten illustrieren.» Immerhin: Der Chefredaktor der nicht genannten Fachzeitschrift teilte den vier Wissenschaftlern mit, dass er plane, dem angesehenen Kollegen die Aufgabe zu entziehen.


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