Kommentar
Die Pille hat Geburtstag
Wir schreiben das Jahr 1960. 15 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird John F. Kennedy zum 35. Präsidenten der USA gewählt. Genf führt als einer der ersten Kantone das Frauenstimmrecht ein. «Psycho» von Alfred Hitchcock kommt in die Kinos. Die Beatles treten an der Grossen Freiheit in Hamburg auf. Muhammad Ali gewinnt in Rom die olympische Goldmedaille im Halbschwergewicht. 18 afrikanische Kolonien erlangen in diesem Jahr die Unabhängigkeit. Und am 23. Juni 1960 erhält die «Pille» in den USA als «Enovid» ihre offizielle Zulassung. Am 18. August kommt sie auf den Markt, ein Jahr später unter dem Namen «Anovlar» auch in Westdeutschland von der Firma Schering.

Die Antibabypille, kurz «die Pille», ist seither – seit 65 Jahren also – ein Synonym für orale Kontrazeptiva, für synthetische hormonelle Ovulationshemmer. Erstmals konnten sich Frauen ohne Angst vor unerwünschter Schwangerschaft auf Sexualität einlassen.
Kaum mehr vorstellbare Sexualmoral
Diese revolutionäre Veränderung traf allerdings auf eine aus heutiger Sicht fast nicht mehr vorstellbare verklemmte Sexualmoral einer Gesellschaft, in der freie Sexualität als Bedrohung und Gefahr für die staatliche Ordnung galt. Daher war auf dem ersten Beipackzettel der Pille nur ganz hinten und versteckt etwas von Schwangerschaftsverhütung zu lesen. Die Pille wurde nur als Medikament gegen Menstruationsbeschwerden und starke Akne beworben.
Widerstand von der katholischen Kirche
Besondere Aufregung und heftiger Widerstand ging von der katholischen Kirche aus, für die Sexualität ohne Fortpflanzung eine Sünde war und ist. Auch die deutsche Ärzteschaft tat noch 1964 in ihrer Ulmer Denkschrift staatstragend hervor: «Die strenge Rezeptpflicht der so genannten Antibabypille muss unter allen Umständen gewahrt werden, um dem Missbrauch zur weiteren Aufweichung unserer Ehe- und Familienordnung vorzubeugen.»
Nur für verheiratete Frauen mit zwei Kindern
Anovlar durfte nur verheirateten Frauen verschrieben werden, die mindestens zwei Kinder hatten, und viele Ärzte verlangten damals sogar eine Einverständniserklärung des Ehemannes. Unter uns Medizinstudenten an der Uniklinik Frankfurt kursierten sogar noch Anfang der siebziger Jahre unter der Hand Namen von Gynäkologen, die ohne Nachfragen und heimlich Rezepte für die Pille ausstellten und sich der Gefahr einer berufspolitischen Ächtung aussetzten.
Schadenersatz-Zahlungen von Bayer
65 Jahre später ist das alles längst vergessen. Die Pille gehört zum Alltag. Unerwünschte Wirkungen der Pille wie Lustlosigkeit, Depression, Zwischenblutungen und ein erhöhtes Risiko für Thrombosen und Embolien haben aber dazu geführt, dass die Pille weltweit nur von 16 Prozent als Verhütungsmethode angewandt wird. Die Firma Schering wurde 2006 von Bayer übernommen, weswegen Bayer inzwischen mehr als zwei Milliarden Dollar an Klägerinnen zahlen musste, die durch Thrombosen und Lungenembolien schwer geschädigt worden waren.
Es begann 1920
Längst vergessen ist es, wie der teilweise grauenhafte Weg zur heutigen Normalität im Umgang mit der Pille war. Die Geschichte beginnt Ende der 1920-er Jahre mit dem Grazer Wissenschaftler Ludwig Haberlandt (1885 bis 1932), der die Idee der hormonellen Verhütung als Erster niederschrieb, nachdem die Strukturformeln von Estrogen und Progesteron entschlüsselt worden waren. Haberlandt konnte in Tierversuchen den Eisprung manipulieren, wurde für diesen Tabubruch aber heftig kritisiert. Er beging 1932 Suizid.
Die Nazis kannten keine Tabus
Den Nationalsozialisten waren solche Tabus völlig gleichgültig. Sie suchten nach einer Methode, um die Fortpflanzung unerwünschter Bevölkerungsgruppen zu manipulieren beziehungsweise zu unterbinden, und sie fanden in dem Kieler Gynäkologen Carl Clauberg (1889 bis 1957) den passenden Vollstrecker. Dieser begann als Günstling Heinrich Himmlers 1942 im Block 10 des Konzentrationslagers Auschwitz mit der Zwangssterilisation von hunderten weiblicher KZ-Häftlinge und arbeitete mit unvorstellbar brutalen Menschenversuchen an hormonellen Verhütungsmethoden. Die eingesetzten Präparate erhielt er von der Firma Schering. Die Frauen starben entweder schon während der Menschenversuche oder wurden danach für Claubergs Sektionen ermordet. Clauberg gilt damit als einer der «Väter» der Antibabypille.
Auf der Flucht vor den Nazis gelangte der Chemiker Carl Djerassi (1923 bis 2015) nach Mexiko und setzte dort die haberlandtschen Versuche fort, nachdem es ihm gelungen war, Gestagen aus der mexikanischen Yamswurzel zu synthetisieren. Damit war er unabhängig von den teuren Gestagenen von Schering.
Versuche führten zu irreversiblen Schäden
Gleichzeitig forschte Gregory Pincus (1903 bis 1967) in den USA über Sexualhormone. Für die Pharmafirma Searle entwickelte Pincus Gestagene, und mit Hilfe einer reichen Amerikanerin gelang es ihm, die nötigen Hormone so weit zu entwickeln, dass sie für klinische Studien verwendet werden konnten. Pincus gilt als einer der Väter der Antibabypille. Auch er arbeitete mit Menschenversuchen, indem er diese Pille unter Probandinnen in den Armenvierteln von Puerto Rico testete. Die anfangs extrem hohen Dosen verursachten Kopfschmerzen, Übelkeit und Schwindelattacken, vieles davon irreversibel.
Die meisten, welch die Pille einnehmen, wissen wohl nichts von alledem. Aber wenigstens einmal, am 65. Geburtstag, sollten die Verbrechen und Menschenopfer erwähnt werden, mit der diese Revolution der sexuellen Freiheit erkauft worden ist.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Dieser Kommentar des Arztes und Autors Bernd Hontschik erschien zuerst in der Frankfurter Rundschau.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Der japanische Folterarzt Shiro Ishii, Kommandant der berüchtigten Einheit 731, ging nach bekannter Manier der us-amerikanischen Sieger nach dem 2. WK straffrei – man wollte seine medizinischen Forschungen weiter nutzen. Hekatomben von Menschen mussten gegen ihren Willen für die moderne Medizin sterben oder wurden schwer geschädigt. In der Nazizeit wurde übrigens kein Arzt gezwungen, unethische Versuche durchzuführen. Moralische Bedenken gab es bei vielen nicht. Im Gegenteil wurde immer wieder und wieder neues Menschenmaterial angefordert. Auch gegen das massenhafte Töten von chronisch Kranken und Behinderten jeder Altersgruppe (Aktion T4) gab es vonseiten der Ärzte keinerlei Bedenken. Wir kommen nicht umhin, die Geschichte der modernen Medizin immer kritischer und skeptischer zu betrachten. Auch die Pille wird trotz ihrer schweren Nebenwirkungen und der hormonell wirksamen Ausscheidungen durch die Einnehmenden immer noch bedenklos verschrieben.