Kommentar

Ein Superreicher = 20 Arme + hohe Staatsschulden

Werner Vontobel © zvg

Werner Vontobel /  Die Häufung von Milliardenvermögen ist eine fatale Fehlentwicklung. Wir müssen wieder lernen, evolutionär zu denken.

Fast alle bisherigen Menschengenrationen haben ohne Geld gelebt und gewirtschaftet. Ihr Sozialprodukt war das, womit sie ihr Leben fristeten und genossen – die Jagdbeute, die gesammelten Beeren, die Muttermilch und der gemeinsame Gesang am Lagerfeuer – der damals noch nicht als Wertschöpfung der Unterhaltungsbrache verbucht wurde. Dieses Sozialprodukt wurde nach Bedarf verteilt, so dass bei der nächsten Jagd alle wieder fit waren und so leistungsgerecht, dass es keinen Anlass zu Neid und Streitereien gab. Die Arbeitsteilung war auf die Aspekte jung und alt sowie Mann und Frau beschränkt.

Mit der Erfindung des Gelds vor rund 10’000 Jahren wurde dieses alte Wirtschaftssystem von einem neuen be- und weitgehend verdrängt. Man arbeitete nun nicht mehr (nur) für den Bedarf der eigenen kleinen Gemeinschaft, sondern produzierte das, was man gut konnte und was man Fremden zu einem hohen Preis verkaufen konnte. Das hatte den grossen Vorteil, dass man sich spezialisieren und insgesamt viel mehr produzieren konnte. Der Nachteil: Das neue System war sehr viel komplexer und erforderte einen hohen Koordinierungsaufwand.

In der Geldwirtschaft wird das gemeinsame Produkt (BIP genannt) zweimal verteilt: Zunächst finanziell mit Geldgutscheinen (Löhne, Dividenden etc.) mit denen man Anspruch auf Teile des BIP erwerben kann. Zweitens durch den effektiven Konsum. Im Idealfall stimmen die beiden Verteilungen genauso überein wie im alten System: Man verdient, was man konsumiert und alle können davon leben. Doch leider neigt die Marktwirtschaft dazu, das BIP finanziell so einseitig zu verteilen, dass es nicht mehr für alle zum Leben reicht.

Das reichste Prozent verdient über eine Million

Konkret sieht das so aus: Gemäss der gesamtschweizerischen Steuerstatistik haben die rund vier Millionen Steuerzahler gut 350 Milliarden oder durchschnittlich 88’000 Franken steuerbares Einkommen deklariert. Das reichste Zehntel kassiert im Schnitt rund 400’000, das reichste Prozent gar über eine Million Franken. Für 400 Schweizer fallen gar 6,4 Millionen oder mehr an (in diesen Zahlen sind die Topsaläre und die Kapitalerträge nicht oder nur teilweise enthalten – die realen Einkommensunterschiede dürften also noch viel grösser sein).

Und weil für jeden Haushalt, der mehr als der Durchschnitt verdient, ein anderer entsprechend weniger kassiert, bleibt für die ärmere Hälfte deutlich weniger übrig. Die Hälfte der Steuerzahler verdient weniger als 60’000 Franken pro Jahr beziehungsweise 5000 Franken pro Monat. Das ärmste Fünftel kassiert von 3000 Franken an abwärts. 10 Prozent liegen unter 2200 Franken. Auf einen Grossverdiener-Haushalt mit 1,2 Millionen Franken Einkommen kommen rein rechnerisch 20 andere Haushalte mit nur 32’000 Franken Einkommen.

Staatliche Zuschüsse und private Schulden

Wäre der physische Konsum genauso einseitig verteilt, wie die finanziellen Einkommen, würden jedes Jahr 10 bis 20 Prozent der Schweizer verhungern. Doch gemäss der Statistik der Haushaltsausgaben konsumiert das ärmste Fünftel der Paarhaushalte unter 65 nur etwa einen Fünftel weniger als der Durchschnitt und immerhin etwa halb so viel wie das reichste Fünftel. Allerdings wird fast die Hälfte des Konsums des ärmsten Fünftels mit staatlichen Zuschüssen und privaten Schulden (oder Zuwendungen) finanziert. Und weil dieses ärmste Fünftel fast nichts in die Altersvorsorge einzahlen kann, ist es nach der Pensionierung erst recht auf staatliche Zuwendungen angewiesen.

Das Leben an der finanziellen Kante ist purer Stress, zumal meist noch schwierige Arbeitsverhältnisse und lange Arbeitswege dazu kommen. Unter diesen Umständen gesund zu leben oder zu bleiben, gelingt nur den wenigsten. Entsprechend steigen die Gesundheitskosten und häufen sich die Verdienstausfälle. Kinder zu haben, wird zumindest für die ärmere Hälfte der Bevölkerung zum Armutsrisiko. Da verwundert es nicht, dass die Geburtenrate inzwischen unter 1,4 Kinder pro Frau gesunken ist.

Auf der anderen Seite kann das reichste Fünftel der Haushalte gemäss Haushaltsstatistik rund 40 Prozent ihres Einkommens auf die hohe Kante legen und dennoch rund 50 Prozent mehr konsumieren als der Durchschnitt. Für die richtig Reichen oberen 5 Prozent gilt erst recht: Luxuskonsum und dennoch hohe Ersparnisse und immer mehr Guthaben. Dessen Gegenstück sind einerseits steigende Staatsschulden und explodierende Immobilienpreise, mit denen letztlich die Mieter der Mittelklasse und der Unterschicht zur Kasse gebeten werden.

Teure Vermögensverwaltung

Das wiederum hat zwei Nachteile. Einerseits müssen die inzwischen rund 6000 Milliarden Franken Vermögen der privaten Haushalte aufbewahrt und verwaltet werden, und es wird mit ihnen spekuliert. Das verschlingt inzwischen über zehn Prozent des BIP und bringt vor allem junge Leute auf die – leider nicht ganz unrealistische Idee –, dass sie mit Finanzspekulationen mehr und leichter Geld verdienen können als mit produktiver Arbeit.

Und dann ist da noch die Sache mit den sozialen Kosten der grossen Einkommensunterschiede. Inzwischen beweisen tausende von Studien, dass Ungleichheit mit fast allen Übeln verknüpft ist – Kriminalität, Selbstmorden, ausserehelichen Geburten, Depressionen, hohen Ausgaben für Polizei und Gefängnisse. Auch das Glück der Oberschicht leidet in Ländern mit hohen Einkommensunterschieden. Und wie soll die Demokratie noch funktionieren, wenn Multimilliardäre die Medien beherrschen und Regierungen kaufen können?

Die Marktwirtschaft verfehlt ihr Ziel

In ihrer aktuellen Verfassung ist die Marktwirtschaft sehr gut darin, möglichst viel zu tiefen Kosten zu produzieren und möglichst teuer zu verkaufen. Das eigentliche Ziel, allen ein gedeihliches Leben zu ermöglichen, verfehlt sie aber bei weitem. Der wohl wichtigste Grund dafür liegt im Verlust einer Fähigkeit, die für den evolutionären Erfolg der Menschheit entscheidend war – Trittbrettfahrer zu bestrafen, etwa mit sozialer Ächtung. Zu diesem Zweck hat uns die Evolution unter anderem den Neid geschenkt. Für Neider ist er zwar eine Belastung, aber für die Gemeinschaft letztlich sehr nützlich.

Die Globalisierung hat uns diesen Trumpf aus der Hand geschlagen. Wer etwa in Norwegen reich geworden ist, kann sich den hohen Steuern seines Heimatlands durch den Umzug in die Schweiz entziehen und wird hier gar geschätzt. Die neue «Heimat» ist ihm dankbar, weil er hier nicht nur mehr Steuern zahlt, als er den Staat kostet, sondern auch weil er mit seinem Luxuskonsum auch noch Arbeitsplätze schafft. In unserer Diskussion um die zunehmende Ungleichheit dominieren denn auch diese zwei Argumente: Die Superreichen zahlen hier Steuern, und sie beschäftigen hier Menschen, die sonst arbeitslos würden. Mag sein, dass das stimmt. Aber es zeigt auch, dass das System nicht fähig ist, echte Bedürfnisse statt Luxuskonsum zu finanzieren.

Natürlich: Der Standortwettbewerb ist nun mal eine Tatsache, die wir nicht ignorieren sollten. Doch Tatsache ist auch, dass die Siegerländer in diesem Wettkampf jetzt schon von der Evolution bestraft werden mit hohen Mieten, niedrigen Geburtenraten und Dichtestress. Deshalb geht es darum, den intellektuellen Horizont zu erweitern und darüber zu diskutieren, wie wir die Geld- und Marktwirtschaft wieder evolutionstauglich organisieren könnten.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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Reich, arm, ungleich

Grösser werdende soziale Kluften gefährden demokratische Rechtsstaaten.

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Eine Meinung zu

  • am 6.07.2025 um 11:49 Uhr
    Permalink

    Guter Artikel, dieser Satz ist zu optimistisch:
    Und wie soll die Demokratie noch funktionieren, wenn Multimilliardäre die Medien beherrschen und Regierungen kaufen können?
    realistischer:
    Und wie soll die Demokratie noch funktionieren, wenn Multimilliardäre die Medien beherrschen und Regierungen kaufen?

    Mathematisch resp. gesetzlich lässt sich das Problem relativ einfach lösen, politisch ist die Menschheit weit davon entfernt, weil sie glaubt: Auch ich kann reich werden und von dieser Ungerechtigkeit profitieren: Ja, jeder kann reich werden! Aber nicht Alle (gleichzeitig)!

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