Arzneimittelbehörden bewilligen unwirksame Medikamente
mfr. – Zwei Jahre überprüften die beiden Autorinnen Jeanne Lenzer und Shannon Brownlee zusammen mit Fachleuten 429 Arzneimittel, welche die US-Arzneimittelbehörde FDA zwischen 2013 uns 2022 zuliess. Zulassungen der FDA haben grossen Einfluss auf die Zulassungen in anderen Ländern. Im Folgenden das bei «The Lever» veröffentlichte, brisante Ergebnis (Titel, Vorspann und Zwischentitel von der Redaktion).
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Die Patientin, die still vor ihm sass, gab Nieraj Jain Rätsel auf. Diese Frau, in ihren 60ern, verlor ihr Augenlicht. So viel war klar. Sie sah verschwommen und sie hatte zunehmend Schwierigkeiten, nachts und bei hellem Sonnenlicht zu sehen. Weniger klar war die Ursache. Als Netzhautspezialist und -chirurg an der Emory University in Georgia studierte Jain spezielle Aufnahmen ihres Auges und sah seltsame Pigmentflecken auf ihrer Augennetzhaut – Flecken, die zu keiner bekannten Diagnose passten.
Eine flüchtige Erinnerung kam in ihm hoch: Hatte er nicht ein paar Monate zuvor einen anderen Patienten mit einem ähnlichen Befund gesehen? Jain durchkämmte die Patientenakten und grub fünf weitere Patienten in Emory mit den gleichen rätselhaften Netzhautveränderungen aus. Alle erblindeten – und alle nahmen zufällig Elmiron, ein Medikament gegen eine Blasenerkrankung namens interstitielle Zystitis. Im Jahr 2018 veröffentlichten Jain und seine Kollegen ihre Erkenntnisse über diese neue Ursache der Blindheit und bezeichneten sie als «pigmentäre Makulopathie».
In der Zwischenzeit deckten Gastroenterologen in Emory und anderen Einrichtungen einen weiteren beunruhigenden Befund bei Elmiron auf: Bei einigen Patienten, die dieses Medikamente erhielten, wurde Kolitis diagnostiziert, eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung mit potenziell lebensbedrohlichen Komplikationen.
Die Autorinnen
Die Investigativjournalistin und Buchautorin Jeanne Lenzer recherchiert seit Jahrzehnten, wie finanzielle Anreize die Medizin korrumpieren. Sie schreibt u.a. für die «New York Times», «The Atlantic», «Mother Jones» und das «British Medical Journal». In ihrem Buch «The Danger Within Us» (Die Gefahr in uns) beleuchtet sie die Schattenseiten der Medizinprodukte-Industrie.
Shannon Brownlee veröffentlichte Beiträge u.a. in «Time», der «Washington Post» und dem «New York Times Sunday Magazine». In ihrem Buch «Overtreated: Why Too Much Medicine is Making Us Sicker and Poorer» beschreibt sie, wie Überbehandlung Menschen kränker macht anstatt gesünder. Brownlee arbeitet auch für das vom Nobelpreisträger und Kardiologen Bernard Lown gegründete Lown-Institut, das sich für eine menschlichere und bessere Medizin und für ein sozialeres Gesundheitssystem in den USA einsetzt.
Hunderte von Menschen erblindeten
«The Lever» und das McGraw Center for Business Journalism an der Newmark Graduate School of Journalism der City University von New York analysierten eine Datenbank der Regierung. Demnach litten bis Ende 2024 Hunderte von Patienten, die mit Elmiron behandelt wurden, an Sehverlust oder Blindheit. Andere, die das Medikament nahmen, hatten noch mehr Pech. Der Food and Drug Administration (FDA [die US-Arzneimittelbhörde – Red.]) wurden im Zusammenhang mit Elmiron Dutzende von Todesfällen von Patienten gemeldet, und 45 Patienten wurden mit schwerer Kolitis ins Spital eingeliefert.
Ein weiteres Problem gefällig? Es gibt keine guten Beweise dafür, dass Elmiron wirkt.
Als die Regierung Elmiron 1996 zuliess, lieferte der Hersteller nahezu Null Daten, dass das Medikament wirksam gegen interstitielle Zystitis half. Die Aufsichtsbehörden liessen Elmiron nur unter der Bedingung zu, dass das Unternehmen eine zweite Studie durchführt, um festzustellen, ob es wirkt. Es dauerte 18 Jahre, bis die verschiedenen Unternehmen, welche die Lizenz des Medikaments gekauft und verkauft haben, diese Studie erstellten – und sie erwies sich als totale Pleite. Den Patienten, die Elmiron nahmen, ging es nicht besser, als denjenigen, die eine Zuckerpille erhielten. (Die Firma Janssen, die Elmiron herstellt, reagierte auf wiederholte Bitten um Stellungnahme nicht.)
All das wirft eine Frage auf: Wie konnte ein Medikament mit so schwerwiegenden Nebenwirkungen überhaupt auf den Markt kommen? Und wie konnte es fast drei Jahrzehnte lang auf dem Markt bleiben, selbst nachdem nachfolgende Studien nicht zeigen konnten, dass es wirksam war? Die Antwort auf beide Fragen trifft den Kern dessen, woran die FDA heute leidet. [Elmiron ist auch in der Schweiz zugelassen – Red.]
Zugelassen, obwohl Wirksamkeitsbeweise fehlten
Elmiron ist nur eines von Hunderten von Medikamenten, die in den letzten Jahrzehnten von der FDA auf der Grundlage fadenscheiniger oder nicht vorhandener Beweise zugelassen wurden. Pharmaunternehmen durften Hunderte von verschreibungspflichtigen Medikamenten an Ärzte vermarkten und sie an ahnungslose Patienten verkaufen, trotz eklatant unzureichender Beweise dafür, dass sie irgendeinen Nutzen bieten – und in vielen Fällen trotz klarer Anzeichen dafür, dass sie ein Risiko für einen schweren, oft irreparablen Schaden bergen.
Von Januar 2013 bis zum 31. Dezember 2022 liess die FDA 429 Medikamente zu, von denen die meisten auf der Grundlage unzureichender Beweise dafür zugelassen waren, dass sie wirken. Das geht aus einer Datenbank mit staatlichen Berichten hervor, die für die hier vorliegende Recherche erstellt wurden. Basierend auf einer Analyse dieser Berichte liess die Behörde zu, dass Dutzende von Behandlungen wie Elmiron auf dem Markt bleiben, selbst wenn nachfolgende Studien nicht zeigen konnten, dass sie wirksam sind. Die vorliegende Recherche ergab, dass von 2013 bis 2022:
- 73 Prozent der von der FDA zugelassenen Medikamente nicht die vier grundlegenden Anforderungen der Behörde erfüllten, die zeigen, dass sie wie erwartet wirken.
- Mehr als die Hälfte der Arzneimittelzulassungen auf vorläufigen Daten basierte und nicht auf soliden Beweisen dafür, dass Patienten weniger Symptome hatten oder besser oder länger lebten.
- 55 der 429 zugelassenen Medikamente erfüllten nur eine der vier Anforderungen, die nötig sind, um zu zeigen, dass ein Medikament sicher und wirksam ist; 39 Medikamente erfüllten keine davon.
Viele Probleme mit der Arzneimittelzulassung, die bei dieser Recherche aufgedeckt wurden, sind besonders besorgniserregend in Bezug auf Krebsbehandlungen.
- Nur 2,4 Prozent der 123 Krebsmedikamente, die von 2013 bis 2022 zugelassen wurden, erfüllten alle vier wissenschaftlichen Kriterien der FDA. 29 Arzneimittel – 23 Prozent – erfüllten keines.
- 81 Prozent der Krebsmedikamente wurden auf der Grundlage vorläufiger Daten zugelassen und nicht aufgrund von Beweisen, dass die Patienten damit länger leben. Studien zu Krebsmedikamenten, die aufgrund vorläufiger Erkenntnisse zugelassen wurden, konnten nicht zeigen, dass diese Medikamente das Überleben in der überwiegenden Mehrheit der Fälle verbessern.
Diese Statistiken liegen nun vor – nachdem die Pharmaindustrie jahrelang mit Milliarden von Dollar lobbyierte und Patienteninteressensgruppen den Kongress unter Druck setzten, damit er die wissenschaftlichen Standards der FDA lockerte.
Pharmafirmen wälzen die Kosten auf Versicherte ab
Musste früher der Wirksamkeitsbeweis vor der Zulassung erbracht werden, so muss das nun erst nach der Zulassung – wenn überhaupt – geschehen. Dies ist eine erdbebenartige Verwerfung, stillschweigend vorgenommen und praktisch ohne, dass dies den Ärzten oder der Öffentlichkeit bewusst war. Während Pharmaunternehmen die Gewinne einstreichen, zahlen effektiv die Krankenversicherungen und Steuerzahler für die Forschung, nachdem die Medikamente auf den Markt kommen. Patienten dienen dabei als unwissende Versuchskaninchen – mit sehr realen Folgen.
Allein in den USA werden jedes Jahr schätzungsweise 128’000 Menschen durch Nebenwirkungen von verschreibungspflichtigen Medikamenten getötet, die ordnungsgemäss verschrieben wurden. Das sind mehr als die Todesfälle durch alle illegalen Drogen zusammen. Opioid-Überdosierungen sind in diese Zahl gar nicht eingerechnet. Und die Rate, mit der die Arzneibehörde unbewiesene Medikamente genehmigte, hat sich in den letzten zehn Jahren dramatisch beschleunigt.
Dies sind nur einige der Ergebnisse einer zweijährigen Recherche von «The Lever» und dem McGraw Center zu allen 429 neuen Medikamenten, die von 2013 bis 2022 zugelassen wurden. Ein Team von vier Experten, darunter drei Ärzte und eine Postdoktorand in Harvard, bewertete die von der FDA in ihren Genehmigungsentscheidungen zitierten wissenschaftlichen Studien.
FDA: «Die letzten Jahre waren die schlimmsten»
Darüber hinaus verwendeten die Autorinnen Regierungsberichte, interne FDA-Dokumente, Notizen von Ermittlern, Aussagen vor dem Kongress, Gerichtsakten und Interviews mit mehr als 100 Forschern, Rechtswissenschaftlern, aktuellen und ehemaligen Bundesbeamten, Patienten und ihren Familien.
Ein 14-köpfiger Beirat mit Ärzten, Epidemiologen, Biostatistikern, einem Patientenanwalt, einem FDA-Insider und einem FDA-Berater, gab Tipps für die Untersuchung. Mehrere der Berater haben die Ergebnisse auf Korrektheit geprüft. Diese Experten waren schockiert über einige der Ergebnisse dieser Recherche.
«Ich war schon zuvor von der FDA enttäuscht, aber die letzten Jahre waren die schlimmsten», sagte eine dieser Beraterinnen, Diana Zuckerman, Gründerin und Präsidentin des in Washington D.C. ansässigen, gemeinnützigen «National Center for Health Research». «Die wissenschaftliche Messlatte ist oft so niedrig, dass es unmöglich wäre, sie noch viel weiter zu senken.»
«Wir brauchen eine Behörde, die unabhängig von der Branche ist, die sie reguliert»
Den Arzneimittelzulassungsprozess der Nation zu untersuchen, wurde umso dringlicher, als Präsident Donald Trump im Zuge seiner Verordnungen die Bundesbehörden aufforderte, zahlreiche Branchen zu deregulieren. Und während Martin Makary, Trumps Wahl als Leiter der FDA, ausführlich über medizinische Fehler und die Notwendigkeit einer strengeren medizinischen Wissenschaft geschrieben hat, ist der Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. für seine unbelegten Behauptungen über Medikamente und Impfstoffe bekannt.
Experten sagen, dass die aktuellen politischen Gegebenheiten nichts Gutes für den Zulassungsprozess von Medikamenten verheissen, der bereits jetzt mangelhaft ist.
«Wir brauchen eine Behörde, die unabhängig von der Branche ist, die sie reguliert, und die hochwertige Wissenschaft einsetzt, um die Sicherheit und Wirksamkeit neuer Medikamente zu bewerten», sagt Reshma Ramachandran, Co-Direktorin der «Yale Collaboration for Regulatory Rigor, Integrity, and Transparency» und Expertin für die Analyse klinischer Studien, «Andernfalls könnten wir genauso gut in die Tage von Schlangenöl und unbewiesenen, fragwürdigen Elixieren zurückkehren.»
Eine der mächtigsten Behörden der USA
Mit Medikamenten, Lebensmitteln, Nahrungsergänzungsmitteln, Tabak und Medizinprodukten reguliert die FDA jedes Jahr Produkte im Wert von 3,9 Billionen US-Dollar, das macht etwa ein Achtel der gesamten US-Wirtschaft aus. Mit einem Budget von rund 6,9 Milliarden US-Dollar im Jahr 2024, Hunderten von Büros in den USA und im Ausland und mehr als 19’000 Vollzeitmitarbeitern (vor den jüngsten Entlassungen) machen die Ressourcen und der Geltungsbereich die FDA zu einer der weltweit mächtigsten Behörden des Landes – und weltweit sehr einflussreich.
Ihr Ruf gründete auf hart erkämpften wissenschaftlichen Standards, die der Kongress 1938 und 1962 nach einer Reihe von medizinischen Tragödien eingeführt hatte. Diese neuen Gesetze, manchmal als «Superstatuten» bezeichnet, weil sie so weitreichend sind, ermächtigten die Behörde, von den Pharmaunternehmen zu verlangen, dass sie nachweisen müssen, dass ihre Medikamente sicher und wirksam sind, bevor diese auf den Markt kommen konnten.
Dann kam AIDS. 1988 war die Epidemie in vollem Gange: 46’000 Menschen waren bereits daran gestorben und weitere 37’000 lebten in den USA mit der Krankheit, über die man kaum etwas wusste. AIDS-Aktivistengruppen wollten Zugang zu neuen Medikamenten – und das schnell. Während die Nachrichtenkameras liefen, blockierten Aktivisten den Eingang zum FDA-Hauptquartier in Rockville, Maryland, mit Plakaten mit der Aufschrift «Federal Death Administration». Sie legten sich auf die Strasse und hielten Grabsteine aus Pappe mit der Aufschrift «Von der FDA getötet» in der Hand.
Die Aktivisten fanden bereitwillige Partner bei den Arzneimittelherstellern, die begierig darauf waren, ihre Produkte auf den Markt zu bringen. Zusammen argumentierten die Aktivisten und Unternehmen gegenüber der FDA, dass die mitfühlende, lebensrettende Strategie darin bestehe, wissenschaftliche Standards zur Beurteilung der Wirksamkeit von Medikamenten zu lockern.
Aufwändige Studien mit Ersatz-Messungen umgehen
Zu diesen bestehenden Standards gehörte die starke Empfehlung, dass Unternehmen zwei oder mehr randomisierte, kontrollierte klinische Studien einreichen sollten, die zeigen, dass ein Medikament wirksam ist, um die Zulassung zu erhalten. Der Grund für diese Forderung war, dass einzelne Studien, egal wie gut sie durchgeführt sind, oft Ergebnisse liefern, die allein durch Zufall auftreten können, und sich bei der späteren Prüfung dann nicht bestätigen.
Aber diese Studien können teuer und zeitaufwändig sein. Dazu kam ein Mangel an FDA-Gutachtern. Neue Behandlungen für AIDS flossen deshalb mit einer Geschwindigkeit zäh wie gekühlte Melasse durch die chronisch unterfinanzierte Agentur. Es dauerte durchschnittlich sieben bis zwölf Jahre, um ein Medikament durch die Entwicklungspipeline zu bringen, drei davon konnte der Datensatz des Unternehmens auf dem Schreibtisch eines FDA-Gutachters liegen.
Unter dem Druck von Patientengruppen und Arzneimittelherstellern schuf die FDA 1992 einen «beschleunigten Weg», der es Unternehmen erlaubte, vorläufige Beweise einzureichen, dass ihre AIDS-Medikamente wirksam waren. Die neuen Regeln gestatteten es diesen Firmen, Studien mit nicht verlässlichen Patientenparametern durchzuführen, die als «Surrogate» [Ersatz – Red. ] bekannt sind. Dies in der Erwartung, dass Arzneimittelhersteller substanzielle Beweise für den tatsächlichen Patientennutzen nachliefern würden, wenn die Medikamente auf dem Markt sind.
Solche Surrogat-Ergebnisse sind etwa Labortests oder bildgebende Methoden wie CT-Aufnahmen, die selbst nicht die Lebensqualität oder -länge messen, aber nach üblichem Dafürhalten wahrscheinlich einen sogenannten «klinischen Nutzen» vorhersagen. Klinische Ergebnisse hingegen sind diejenigen, die für Patienten wichtig sind, zum Beispiel ob sie sich besser fühlen und länger leben. Sich auf Surrogat-Ergebnisse zu verlassen bedeutet, dass Pharmaunternehmen auf der Grundlage kürzerer und billigerer Studien die Zulassung für ein Medikament erhalten können.
Trotz enttäuschender Behandlungsergebnisse …
Das Problem ist, dass Verbesserungen bei einem Surrogat-Ergebnis oft nicht widerspiegeln, ob das Medikament das Leben der Patienten tatsächlich verbessert. Darüber hinaus kann ein Surrogat-Ergebnis nicht den Schaden aufzeigen, den ein Medikament verursachen kann. Dieses Manko wurde wiederholt bestätigt.
Einige externe Experten äusserten daher Bedenken, auf der Grundlage von Ersatzergebnissen zuzulassen – und diese Bedenken wurden durch das AIDS-Medikament AZT bestätigt.
Als AZT 1987 zugelassen wurde, erwarteten viele, dass es ein überwältigender Erfolg werden würde. Diese Annahme basierte auf Forschungen, die T-Zellen mass, sowie auf anderen Studien, die erste Überlebensdaten erhoben. T-Zellen sind krankheitsbekämpfende Zellen, welche das AIDS-Virus angreift.
Doch weniger als zwei Jahre später veröffentlichten Forscher des Claude Bernard Hospitals in Paris ihre Ergebnisse zu 365 AIDS-Patienten, die mit AZT behandelt wurden. Sie kamen zum Schluss, dass die Ergebnisse «enttäuschend» waren. Das Medikament war giftig für Blutzellen, nach sechs Monaten kehrten die Patienten «zu ihren Werten vor der Behandlung [von T-Zellen] zurück, und es kam zu mehreren opportunistischen Infektionen, bösartigen Erkrankungen und Todesfällen». (AZT erwies sich in späteren Jahren als nützlich, als es in niedrigeren Dosen als Teil eines dreifachen AIDS-Medikamenten-Cocktails verwendet wurde.)
… erfolgreiches Lobbying bei Politikern
Dennoch förderte die Pharmaindustrie diese Behandlung aktiv. Mit einem Listenpreis von 21’000 US-Dollar pro Jahr und Patient (inflationsbereinigt für das Jahr 2025) brachte AZT seinem Arzneimittelhersteller Burroughs Wellcome 1989 Gewinne in Höhe von zwei Milliarden US-Dollar ein. Als die Unternehmen ihre Pfründe schwinden sahen, begannen sie im Kongress zu lobbyieren, um die FDA zu zwingen, die gelockerten AIDS-Standards auf alle Arten von Medikamenten anzuwenden.
Laut dem «Federal Election Committee» und «Open Secrets», einer unabhängigen Forschungsgruppe, stiegen die Wahlkampfbeiträge von Big Pharma von 1,9 Millionen Dollar im Jahr 1990 auf 3,6 Millionen US-Dollar im Jahr 1992. Im selben Jahr verabschiedete der Kongress den Prescription User Fee Act, der die FDA ausdrücklich anwies, Medikamente auf der Grundlage niedrigerer Standards zuzulassen.
Der Abgeordnete Henry Waxman (er gehört den Demokraten in Kalifornien an) kritisierte das Gesetz und sagte, dass es zwar «gut klingt … aber es ist ein Witz anzunehmen, dass es mehr erreichen wird, als die FDA bereits tut, um wirksame AIDS-Medikamente auf den Markt zu bringen.»
«Wir haben die Büchse der Pandora geöffnet»
Das Gesetz verlangte auch, dass die Pharmaunternehmen «Nutzergebühren» bezahlen, mit denen die FDA fast 600 neue Mitarbeiter einstellte. Kritiker wenden ein, dass solche Gebühren einige hochrangige Beamte der Behörde dazu veranlasst hätten, die Branche als «Partner» zu betrachten. In der Folge lancierte die FDA mehrere «öffentlich-private Partnerschaften» mit den Unternehmen, die sie regulieren soll.
Nachfolgende Gesetze wiesen die FDA an, die Zulassung von Arzneimitteln zu beschleunigen, indem sie die Beweisstandards weiter senkte.
«Wir haben die Büchse der Pandora geöffnet und Pharma hat das ausgenutzt», sagt Gregg Gonsalves, ein AIDS-Aktivist und Professor für Epidemiologie an der Yale School of Public Health. 1993 sagte er einem FDA-Beirat, dass AIDS-Aktivisten mit den besten Absichten und angesichts einer schrecklichen Gesundheitskrise dazu beigetragen hätten, «Medikamente mit gut dokumentierten Toxizitäten auf den Markt zu bringen, ohne strenge Daten über ihre klinische Wirksamkeit zu erhalten».
Das Ergebnis, sagte Gonsalves, ist: «Wir sind in der Hölle angekommen».
Die fehlenden Beweise
Inzwischen wurden Hunderte von Medikamenten zur Behandlung vieler Krankheiten von der FDA zugelassen, ohne dass klare Beweise ihre Wirksamkeit belegen.
Laut der für diese Recherche erstellten Datenbank wurden fast drei Viertel – 311– der 429 von 2013 bis 2022 zugelassenen Medikamente trotz unzureichender Beweise für ihre Wirksamkeit auf den Markt gebracht.
Diese Analyse basierte auf den vier wesentlichen Kriterien um zu beurteilen, ob Medikamente wirken und sicher sind. Sie werden in den eigenen Vorgaben und der Rechtsprechung der FDA genannt:
- Kontrollgruppe: Patienten, die das Medikament einnahmen, wurden mit einer Kontrollgruppe verglichen, die ein Placebo oder ein Vergleichsmedikament erhielt.
- Replikation: Mindestens zwei «gut kontrollierte» Studien zeigten, dass das Medikament wirksam war.
- Verblindung: Die Probanden in den Studien und die Ärzte, die sich um sie gekümmert haben, wissen nicht, welche Patienten das Medikament nehmen und welche in der Kontrollgruppe sind.
- Klinischer Endpunkt: Die Studien untersuchten die Wirkung des Medikaments auf das Überleben oder wie gut der Patient damit lebt und nicht einen Surrogat-Parameter.
Diese Kriterien sind keineswegs eine vollständige Liste solider wissenschaftlicher Beweise, sondern Mindestkriterien, die nötig sind, um festzustellen, ob Arzneimittelhersteller «substanzielle Beweise» vorgelegt haben, welche die behauptete Wirksamkeit neuer Medikamente stützen.
Nur 28 Prozent erfüllten die Vorgaben
Doch nur 118 der 429 in diesem Zeitraum zugelassenen Medikamente, also bloss 28 Prozent, erfüllten die vier Kriterien. 123 Medikamente (29 Prozent) erfüllten drei der Kriterien, während 39 Medikamente, über 9 Prozent der Gesamtzahl, kein einziges dieser Kriterien erfüllte. Das bedeutet nicht automatisch, dass diese Medikamente nicht wirken, aber es bedeutet, dass die FDA sie zugelassen hat, ohne zu wissen, ob sie den Patienten eher helfen als schaden.
Über ein Viertel der im Studienzeitraum zugelassenen Medikamente, 123, richteten sich gegen verschiedene Krebsarten. Dies mag als gute Nachricht im Kampf gegen den Krebs erscheinen, aber nur 3 dieser Medikamente erfüllten alle vier Mindestkriterien, und 29 Krebsmedikamente erfüllten kein einziges Kriterium. Mit anderen Worten, eines von vier Krebsmedikamenten wurde aufgrund von Studien ohne Vergleichsgruppe, ohne Verblindung, ohne Replikation und ohne klinisches Ergebnis zugelassen.
Die häufigste Art und Weise, wie Arzneimittelunternehmen solche Krebsmedikamente zugelassen bekommen, besteht darin, ein Surrogat-Ergebnis in ihren klinischen Studien zu verwenden, anstatt den tatsächlichen klinischen Nutzen zu messen. Pharmaunternehmen untersuchen routinemässig Labormessungen, ob etwa ein Tumor als Reaktion auf ein Medikament schrumpft, anstatt die Sterblichkeit oder die Symptomlinderung zu messen.
Die FDA sollte sich keinen Illusionen über die Unzuverlässigkeit solcher Surrogat-Ergebnisse hingeben, sagen Fachleute. Zumal diese Ergebnisse die Schäden, die ein Medikament verursachen kann, wie Leberversagen und Blutarmut, nicht berücksichtigen. Als die FDA Avastin zur Behandlung von metastasiertem Brustkrebs zuliess, zeigte sich das klar und deutlich.
Das Beispiel Avastin: Fünf Studien ohne Beweis
Avastin, das ursprünglich für zwei andere Krebsarten zugelassen war, kam 2008 gegen Brustkrebs auf den Markt. Damals hatten Frauen mit metastasiertem Brustkrebs eine schlimme Prognose: Die meisten würden innerhalb von fünf Jahren sterben, selbst nach mehreren Runden Chemotherapie. Avastin wurde als Durchbruch gefeiert, weil es Krebszellen nicht wie die Chemotherapie abtötet, sondern stattdessen das Wachstum von Blutgefässen hemmt, die Tumore brauchen, um wachsen zu können.
Avastin wurde auf der Grundlage eines Surrogat-Ergebnisses namens «progressionsfreies Überleben» zugelassen. Dabei geht es nicht wirklich um das Überleben der Patientin, sondern es wird gemessen, wie lange ein Krebsmedikament einen Tumor in Schach hält. Aber nur, weil ein Tumor nicht wächst oder sogar schrumpft, heisst das nicht, dass der Patient länger leben oder sich einer besseren Lebensqualität erfreuen wird.
Im Jahr 2010 erreichte der weltweite Umsatz von Avastin 6,8 Milliarden US-Dollar. Die Zulassung für Brustkrebs war an die Forderung geknüpft, dass der Hersteller Genentech eine weitere Studie durchführt, um festzustellen, ob das Medikament tatsächlich wirkt. Zwei Jahre später brachte das Unternehmen zwei Studien hervor, die auf das Gegenteil hindeuteten: Das Medikament half den Menschen nicht, länger zu leben.
Insgesamt hatte das Unternehmen fünf klinische Studien durchgeführt, von denen keine bewies, dass Avastin Brustkrebspatientinnen zu längerem Leben oder zu weniger Einschränkungen verhalf. Die neuen Studien belegten auch die schwerwiegenderen Nebenwirkungen des Medikaments, darunter Blutgerinnsel, perforierter Darm, Schlaganfall, Herzprobleme und Nierenfunktionsstörungen. Genentech reagierte nicht auf wiederholte Bitten um Stellungnahmen. [Avastin ist in der Schweiz zur Behandlung eines bestimmten Typs von metastasierendem Brustkrebs zugelassen – Red.]
Die Macht der Patientenorganisationen
Aber als die FDA vorschlug, Avastin die Zulassung gegen Brustkrebs zu entziehen, wehrten sich Genentech und mehrere Patientenorganisationen, manchmal heftig. Bei einer zweitägigen öffentlichen Anhörung 2011 kam eine der wenigen Patientinnenvertreterinnen, die für die Entscheidung der FDA aussagten, mit einem Leibwächter, nachdem sie von anderen, die Avastin unterstützten, verbal bedroht worden war. FDA-Mitarbeiter erhielten heftige Drohungen und die Polizei war vor dem Gebäude stationiert.
Die FDA zog ihre Zulassung von Avastin gegen Brustkrebs schliesslich zurück, aber die Episode, von einigen Mitarbeitern immer noch als «Armageddon» bezeichnet, wirkte abschreckend. Angesichts des Widerstands des Unternehmens verlangte die Arzneimittelbehörde über zwei Jahrzehnte lang keine weiteren Arzneimittel-Rückzüge.
Heutzutage ist das progressionsfreie Überleben, zusammen mit einem halben Dutzend anderer Surrogat-Ergebnisse, zur Norm bei der Zulassung von Krebsmedikamenten geworden. Diese Recherche ergab, dass 81 Prozent der 123 Krebsmedikamente, die von 2013 bis 2022 zugelassen wurden, auf Studien beruhten, die nicht das Gesamtüberleben untersuchten, sondern stattdessen über ein progressionsfreies Überleben oder ein anderes Ersatzüberleben berichteten.
Schwere Komplikationen, höhere Sterblichkeit
Solche Medikamenten-Zulassungen haben Konsequenzen für die Patienten. Ein Beispiel ist Copiktra, ein von «Secura Bio Inc.» hergestelltes Krebsmedikament, das 2018 von der FDA aufgrund eines verbesserten progressionsfreien Überlebens und anderer Surrogat-Ergebnisse zugelassen wurde. Laut einer «Lever«-Durchsicht der FDA-Berichte entwickelten zwei Drittel der Leukämie- und Lymphompatienten, die das Medikament einnahmen, schwere Komplikationen. Patienten, die mit Copiktra behandelt wurden, starben auch 11 Monate früher als Patienten, die mit dem Vergleichsmedikament behandelt wurden.
Im Dezember 2021 kündigte der Hersteller an, das Medikament für follikuläre Lymphome nicht mehr zu vermarkten. Sechs Monate später warnte die FDA vor «möglicherweise erhöhtem Todesrisiko und schwerwiegenden Nebenwirkungen». Aber es dauerte bis Juli 2024 – also sechs Jahre, nachdem Studien gezeigt hatten, dass das Medikament das Leben der Patienten um Monate reduzierte – als die FDA bekannt gab, dass Copiktra nicht als Erst- oder Zweitlinienbehandlung für bestimmte Arten von Leukämie und Lymphomen verwendet werden sollte, «aufgrund eines erhöhten Risikos einer mit der Behandlung zusammenhängenden Sterblichkeit».
Ein Mediensprecher von Copiktras Hersteller, «Secura Bio», sagte gegenüber «The Lever», dass das Unternehmen im Mai 2022 einen «Rote Hand»-Brief an die Ärzte verschickt habe, um sie über die Ergebnisse der Studien nach der Zulassung zu informieren, «in Übereinstimmung mit den FDA-Anforderungen». Das Unternehmen sagte auch, dass Copiktra für bestimmte Bedingungen immer noch verschrieben werden könne, wenn zwei andere medikamentöse Behandlungen fehlgeschlagen seien. [Copiktra ist in der EU zugelassen, nicht aber in der Schweiz – Red.]
24’000 Dollar pro Monat
Copiktra ist kaum eine Ausnahme. Laut einer Studie aus dem Jahr 2015 verbesserten nur 14 Prozent der Krebsmedikamente, die zwischen 2008 und 2012 auf der Basis eines Surrogat-Ergebnisses, wie z. B.dem progressionsfreies Überleben, zugelassen wurden, tatsächlich das Überleben. Mit anderen Worten: Bei 86 Prozent dieser Medikamente gab es keine Beweise, dass sie Patienten halfen, um länger zu leben. Was die Medikamente jedoch verursachten, waren zahlreiche schwerwiegende Nebenwirkungen. Und sie kosteten Patienten, Steuerzahler und Versicherer Milliarden von Dollar pro Jahr.
Eine andere, jüngere Studie untersuchte 147 Krebsmedikamente, die zwischen Januar 2006 und Dezember 2023 auf der Grundlage eines Surrogat-Ergebnisses zugelassen worden waren. Etwa drei Viertel führten nicht dazu, dass die Patienten dank dieser Medikamente länger lebten.
Und selbst wenn Krebsmedikamente das Überleben verbessern, kann der Nutzen gering sein. aus dem Jahr 2022 von Forscher des «National Cancer Institute» untersuchten 2022 insgesamt 124 Krebsmedikamente, die von 2003 bis 2021 zur Tumor-Behandlung zugelassen wurden. Ihre Studie ergab, dass die mittlere Überlebenszeit damit nur um 2,8 Monate stieg. Die durchschnittlichen Kosten solcher Medikamente betragen mehr als 24’000 Dollar pro Monat.
Mit anderen Worten: Nachdem Patienten und ihre Familien sich finanziell an den Rand gebracht haben und Nebenwirkungen von Übelkeit bis zum Tod durchmachten, sind die Ergebnisse kaum besser – und könnten sogar schlechter sein – als ohne diese Behandlung.
Die allermeisten Ärzte wissen nicht, worauf Medikamenten-Zulassungen basieren
Dieses Resultat ist nicht das, was die meisten Krebspatienten erwarten, wenn ihr Arzt ein Rezept ausstellt. Es steht auch im Widerspruch zu dem, was Ärzte zu FDA-Arzneimittelzulassungen glauben. Im Jahr 2016 veröffentlichten Forscher die Ergebnisse einer Umfrage bei Ärzten. Sie enthielt die folgende Frage: «Damit [die] FDA ein Medikament genehmigen kann, müssen die Studien Folgendes zeigen: a) ein klinisch wichtiges Ergebnis; b) ein statistisch signifikantes Ergebnis; c) beides; d.) Nichts davon.» Die richtige Antwort war «nichts davon».
Nur sechs Prozent der Ärzte gaben die richtige Antwort. Aaron Kesselheim, ein Forscher an der Harvard Medical School und Co-Autor der Studie, sagte, das Ergebnis sei «enttäuschend, aber nicht ganz überraschend. Ärzten wird nicht beigebracht, wie das Genehmigungsverfahren funktioniert.»
➞ Lesen Sie demnächst die Fortsetzung.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Zitat: «81 Prozent der Krebsmedikamente wurden auf der Grundlage vorläufiger Daten zugelassen und nicht aufgrund von Beweisen, dass die Patienten damit länger leben.»
Eine verwirrende Tatsache. Bis bewiesen ist, dass die Medikamente hätten zugelassen werden sollen, sind die Krebs Patienten eben schon tod. Desshalb weren Krebsmedikamente auch in der Schweiz zum Glück schon vorzeitig zugelassen, was eben erst wenn sie überleben bewiesen werden kann.
Ein Überlebender.