Kommentar
kontertext: Zeit für die Toten
Vom ersten Moment der Mitteilung an, dass jemand verstorben ist (was ja meist sofort gemacht werden muss), braucht es eine Sprache, die leistet, was die Figur der «Pietà» stumm auszudrücken vermag: Trauer. Dabei «ist genau in der Trauer der tiefste Hang zur Sprachlosigkeit», wie der Kulturphilosoph Walter Benjamin einst gültig bemerkt hat, «und das ist unendlich viel mehr als Unfähigkeit oder Unlust zur Mitteilung».
Es kann also sein, dass bereits bei der ersten Mitteilung, es gebe einen «Todesfall in der Familie», einem die Rede stockt. Nie ist die pietätlose Umdeutung eines Verlustes in einen «Fall» unpassender als beim Tod eines geliebten Menschen. Das verweist auf die grundsätzlichere Frage, welche Formen und Sprachen der Trauer wir haben.
Trauerferien, Sonderurlaub oder Kurzabsenz wegen Todesfall?
Arbeitsrechtlich ist die Sache einigermassen klar, wenn auch nicht gesetzlich fixiert. Arbeitnehmer haben gemäss Art. 324a im Obligationenrecht einen Anspruch auf Lohnfortzahlung bei kurzfristiger persönlicher Verhinderung, wozu auch Todesfälle in der Familie zählen. Die genaue Dauer hängt vom Verwandtschaftsgrad, Gesamtarbeitsvertrag, von der Branche und individuellen Arbeitsverträgen ab. Es gelten 1–3 Tage als Zeitrahmen.
Wofür diese Tage genau gelten, ist noch weniger geregelt. Man denkt wohl, dass sie unmittelbar nach dem Tod eines Angehörigen benötigt werden, um die allerersten Dinge zu «erledigen», vorab das Begräbnis oder eine Trauerfeier zu organisieren und die Todesanzeige zu gestalten. Was allein für diese beiden Aufgaben eigentlich schon unmöglich ist in drei Tagen, wenn man nicht vorbereitet ist und die Aufgabe ernst nimmt. Insofern sind diese offiziellen «Kurzabsenzen» symbolische Zeitfenster, die zumindest für den Todestag und den Tag der Bestattung beansprucht werden können.
Die meisten Menschen wissen, die zu leistende Arbeit ist eine ganz andere und die Aufgaben überschlagen sich auch deshalb, weil sie auf komplett unterschiedlichen Ebenen liegen. Entsprechend boomt zur Frage «was tun im Todesfall?» die Ratgeberliteratur mit eindrücklichen Checklists, wo von Arztnotruf bis Erbstreit alles erwähnt wird. Nicht zu erfahren ist auf diesen Seiten, wie sehr die Betriebsamkeit und der Handlungszwang die eigentliche Arbeit zudeckt: die Trauerarbeit, die mit Sonderurlaub wenig zu tun hat. Insbesondere beim Sterben der betagten Mutter kann hier die Frage auftauchen: Warum so viel Trauer, wenn das Leben doch nichts anderes vorsieht und Sterben das Natürlichste ist?
Muttertag ohne Mutter
Wir haben nur den einen Tag in unserer Gesellschaft, der die einzigartige Bedeutung der Mutter würdigt – den kommerziell mit hastigen Blumenkäufen und Pralinen bestückten Muttertag. Viele Mütter der Generation meiner Eltern haben schon länger begonnen, ihn zu verachten, weil ihnen dämmerte, dass diese Alibiübung ihnen nicht gerecht wird. Was der Muttertag nicht leistet, wird oft erst beim Tod der Mutter deutlich. Nicht von ungefähr gibt es einen grossen kulturellen Konsens darüber, dass der Tod der Mutter ein absolut einzigartiges Ereignis ist. Anders als der Tod des Vaters, der auch enorm einschneidend sein kann, ist der Tod der Mutter das Gegenstück zu unserer Geburt. Mütter sind unser Nabel zur Welt – das heisst, sie stehen für das Geheimnis der Geburt, dieses rätselhafte ans-Licht-Kommen aus der dunklen Wärme des Mutterleibs. Es leuchtet deshalb ein, dass die griechische Mythologie in Analogie zum mütterlichen Körper den «Nabel der Welt» als den Ort des Orakels bestimmt hat, ein Ort, wo sich die Erde öffnet und das Überirdische sich mit dem Unterirdischen austauscht. Es ist nicht wichtig, ob wir unsere Mütter feministisch, kindlich oder kultisch verehren, aber ehren müssen wir sie, weil sie schlicht unersetzlich sind. So anerkennt eigentlich jede Kultur die besondere Stellung der Mutter an. Im arabischen Raum etwa fällt der Muttertag auf den Frühlingsbeginn am 21. März; wichtiger ist dort aber das Gebot der täglichen Wertschätzung nach dem schönen Spruch des Propheten: «Das Paradies liegt zu Füssen der Mutter.» Und im katholischen Christentum wird ihre Sonderstellung mit den Gebeten zur «Mutter Gottes» in jedem Gottesdienst erinnert und mit den Marienfesten im Mai und Juni auch ausserhalb der Kirchen gefeiert. Wie also trauern um diese einzigartige Person? Und in welcher Zeit?
Arbeit und Zeit der Trauer
Die Einsicht, dass Trauer Arbeit bedeutet, geht auf Sigmund Freud zurück. Trauer war als Zustand für ihn als Arzt primär interessant in der neurologischen Abgrenzung zu Melancholie und Depression. Sie gilt als normal, denn sie wird nach einer bestimmten Zeit ihre Funktion erfüllt haben. Dennoch bleibt bemerkenswert, wie präzis Freud festhält, woraus denn diese Trauerarbeit besteht: Es geht darum, in und durch die Trauer und den Schmerz alle libidinösen Verknüpfungen mit der verstorbenen Person aufzulösen – «unter grossem Aufwand und Besetzungsenergie». Also zum Beispiel der Wunsch und die Lust, die Stimme der Mutter zu hören, ihre Hände zu halten, ihren Blick zu spüren. Die Komplexität dieser Trauerarbeit liegt also in der täglichen Anerkennung, dass die Person nicht mehr da ist, während man zugleich psychisch an ihrer Existenz festhält. Freud anerkennt damit die Akrobatik dieser Kompromissleistungen, die, so sagt er, so schmerzhaft sind, dass sich «gar keine ökonomische Begründung» dafür angeben lässt. Auch die Aussicht auf ein gestärktes Ende, in welchem das trauernde Ich wieder «frei» sein wird, verdeckt also nicht, dass in der Zeit der Trauer etwas Unbegreifliches und Massloses liegen kann. Etwas, wofür wir eine Sprache suchen müssen und ein Verständnis. Die Ratgeberliteratur hilft hier nicht weiter.
Literarische Totenklagen
Es gibt einige schöne Bücher, die der einzigartigen Bedeutung der Mutterliebe und das Abgründige in der Trauer über ihren Tod in Sprache fassen. Simone de Beauvoir («Ein sanfter Tod»), Nancy Friday («Wie meine Mutter»), Paul Auster («Winterjournal»), Annie Ernaux («Eine Frau») sind Beispiele für solch literarische Totenklagen. Ganz eindringlich auch Hélène Cixous («Meine Homère ist tot») zum Sterben ihrer Mutter Eve, die sie bis ins Alter von 104 Jahren gepflegt hat. Auch Roland Barthes’ «Tagebuch der Trauer» ist ein intimes, stammelndes Requiem, das erst nach seinem eigenen Tod erschienen ist. Er selber hatte seine zum Teil sehr ungelenken Fragmente nicht als Buch gesehen, sie waren für ihn weder Theorie noch Literatur, sondern ein «chaotischer» Versuch, in seinem «Kummer zu wohnen.» Auch wenn Trauer nicht wirklich ausgedrückt werden kann, ist sie doch «sagbar»: Allein, dass die Sprache das Wort «unerträglich» kennt, so Barthes, bewirkt ein gewisses Ertragen.
Alle diese Trauertexte sind also nicht unbedingt Literatur, es sind hochsensible Sprachversuche, die dazu beitragen, das unbegreiflich Traurige des Muttertodes in seinen feinsten Nuancen doch «begreifbar» zu machen. Verallgemeinern lässt sich die Trauer kaum, auch wenn sie viele ähnliche Situationen und Erfahrungen mit sich bringt. Wir trauern wohl so intensiv um einen Menschen, wie wir mit ihm oder ihr gelebt haben, und in der Trauer geben wir den Toten nochmals so viel wir können zurück von ihrer Gestalt. Bewahrt wird also mit dem Schreiben dieser Trauerliteratur das Skandalon, das jeder Tod bedeutet.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Silvia Henke ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und Publizistin. Sie unterrichtet an der Hochschule Luzern Design & Kunst u.a. Kunst und Politik und visuelle Kultur. Forschungsschwerpunkte sind Kunst und Religion, künstlerisches Denken, transkulturelle Kunstpädagogik. Sie interessiert sich grundsätzlich für die Widersprüche der Gegenwart, wie sie auch in der Medienlandschaft auftauchen, und veröffentlicht regelmässig Texte und Kolumnen in Magazinen und Anthologien.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.