Kommentar

Auch von Willy Brandt waren alle enttäuscht – anfangs

Heribert Prantl © Sven Simon

Heribert Prantl /  Der Antrittsrede von Kanzler Merz fehlten die Ideen. Aber auch Adenauer und Brandt galten bei Journalisten anfangs als farblos.

Waren Sie auch so gespannt auf die Regierungserklärung des neuen deutschen Kanzlers? Waren Sie auch so enttäuscht wie ich? Ich fragte mich, woher Friedrich Merz seinen Ruf als grosser Redner hat. Und ich fragte mich auch, wo in dieser Rede die Gedanken und die Ideen waren, die die knisternde Spannung vorher gerechtfertigt hätten.

Es gab diese Gedanken nicht, es gab diese Ideen nicht. Es gibt aber einen Trost: Bei ihrer ersten Rede sind die Kanzler selten so, wie sie angeblich sein sollen. Sie sind «zu karg», «zu lapidar», «zu geschäftsmässig» – so waren einst schon die Kommentare zu den Regierungserklärungen von Konrad Adenauer. «Keine Spannung im Raum», hiess es.

«Glanzvoll war sie bestimmt nicht»

Und über die heute so gerühmte Antrittsrede von Kanzler Willy Brandt nach dem spektakulären Machtwechsel im Jahr 1969 hiess es: «Wer von dieser Regierungserklärung reformerische Sphärenklänge erwartet haben sollte, der wird vielleicht enttäuscht gewesen sein … glanzvoll war sie bestimmt nicht. Im Dickicht der Details und in der Aufzählung auch zweitrangiger Fragen ging das Bemühen oft unter, die grosse Linie der neuen Politik sichtbar zu machen.» So schrieb es damals nicht nur die «Badische Zeitung». Die «Süddeutsche Zeitung» gab ihrem Leitartikel zu Brandts Regierungserklärung eine bescheidene Überschrift: «Mit Vorsicht voran», hiess es da.

Erst viel später wurde die Rede als Manifest des Neubeginns gewertet, als Aufbruch zu neuen Ufern. In der von Karl Dietrich Bracher herausgegebenen vielbändigen Geschichte der Bundesrepublik sinkt der Autor vor ihr fast auf die Knie.

«Die Schule der Nation ist die Schule»

Einzelnen Wörter und Sätzen aus Brandts Regierungserklärung sind in der Tat im Laufe der Jahre Flügel gewachsen. Dazu gehört das Motto «Mehr Demokratie wagen», die angekündigte «Fähigkeit zum Wandel» und auch der Spruch, mit dem Brandt auf Kiesingers «Bundeswehr als Schule der Nation» geantwortet hatte: «Die Schule der Nation ist die Schule». Der Satz «Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, sondern wir fangen erst richtig an» wird heute zitiert wie das Fanal einer neuen Zeit.

Damals jedoch hat dieses Fanal kaum einer gehört. Der Berliner «Tagesspiegel» suchte mit einigem schreiberischen Aufwand das «politische Schlüsselwort»: Keines der jetzt berühmten Zitate war dabei.

Wie ein Provinzdepp

Die Apotheose der Brandtschen Regierungserklärung begann erst, als Helmut Kohl seine erste Regierungserklärung gehalten hatte und die Feuilletons Kübel voller Hohn und Spott ausgeschüttet hatten – so dass Kohl dastand wie ein Provinzdepp.

«Übergangskanzler» wurde er deshalb von der internationalen Presse genannt. Der Übergang dauerte dann bekanntlich 16 Jahre. Und wenn man nach der Bewertung ihrer Regierungserklärungen geht, hätte Kohls Nachfolger Gerhard Schröder länger und Angela Merkel kürzer regieren müssen.

Die Lehren aus alledem lauten also, erstens: Die Regierungserklärung ist nicht unbedingt schon ein Indiz für Qualität und Gehalt einer Amtszeit. Und zweitens: Messen wir Friedrich Merz nicht vorschnell an seiner ersten Kanzlerrede! Es kann auch besser werden.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Dieser Kommentar des Kolumnisten und Autors Heribert Prantl erschien zuerst als «Prantls Blick» in der Süddeutschen Zeitung.
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.

Mit Twint oder Bank-App auch gleich hier:



_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden

2 Meinungen

  • am 21.05.2025 um 11:07 Uhr
    Permalink

    Eine wohdurchdachte rede – und fast möchte man sich entspannt zurücklehnen : «nun wird alles gut».
    wenn da nicht vor allem 2 punkte wären,an denen sichtbar wird,mit welcher nonchalance sich f.merz über die realität hinwegsetzt :
    1.ignoriert er die tatsache,daß ein großteil der bevölkerung keineswegs den schulterschluß mit der ukrainischen politik billigt.
    2.ignoriert er die tatsache,daß ein großteil der bevölkerung keineswegs das verhalten der israelischen regierung aus gründen einer von merkel behauteten staatsraison hinnimmt.
    diese ignoranz relativiert die bedeutung seiner rede bis hin zur schönfärberei – und DAS wäre mein urteil – also nicht «farblos»,sondern » ziemlich grell».

  • am 21.05.2025 um 13:00 Uhr
    Permalink

    Höchst interessante Aussage im Artikel: «Der Antrittsrede von Kanzler Merz fehlten die Ideen.» Könnte wohl theoretisch möglich sein, dass Friedrich Merz wohl erkannt haben könnte, dass durch seine ehemaligen Mandate für einen Schweizer und einem US-amerikanischen Konzern, er von Rücksichtnahme-Entwicklungen-Berücksichtigen-Handlungen politisch-wirtschaftlich geformt werden könnte und so sind seine Zukunfts-Ideen möglicherweise etwas begrenzt, wie die politische Zukunft Deutschlands aussehen könnte, weil zu viele Grossmanager ständig neue Ideen entwickeln könnten, wie Deutschland in eine profitable Zukunft gemanagt werden könnte, und die nicht verstehen könnten, dass er er einen kleinen Koalitionspartner hofieren muss, damit er regieren kann und so gibt wohl zu wenig Merz-Zukunfts-Ideen für Deutschland und Europa, weil die Politik kompliziert ist.
    Gunther Kropp, Basel

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...