Kommentar

kontertext: Die Welt des Eurovision-Song-Contest

Nika Parkhomovskaia, Inna Rozova © zvg

Nika Parkhomovskaia / Inna Rozova /  Wir untersuchen die Songs des Eurovision-Song-Contest in Basel. Heute Teil 1: Geschlechterrollen und Patriotismus.

Fast siebzig Jahre nach dem allerersten Wettbewerb (Lugano 1956) kehrt der Song-Contest in die Schweiz zurück. In dieser Zeit hat sich die Show von einem kleinen Musikwettbewerb zu einem einflussreichen Fernsehereignis entwickelt, das in der ganzen Welt verfolgt wird. Die Popularität des ESC kann man heute nur noch mit den Übertragungen von Sportereignissen vergleichen – laut Statistik wurde der Eurovision-Song-Contest 2024 von 163 Millionen Zuschauern aus 37 europäischen Ländern live verfolgt (und weitere 7,3 Millionen Nutzer schalteten sich online zu).

Ganz gleich, was wir vom ESC halten, sein Einfluss auf die Menschen in aller Welt ist unbestreitbar. Dieses Happening ist ein Hochglanzbild, ein farbenfrohes Spektakel und eine sehr eigentümliche Brechung der Realität, die nach wie vor gesellschaftliche Trends widerspiegelt. Es kann daher interessant sein zu schauen, wie die Welt von heute aussieht, wenn man sie durch das Prisma der Eurovision betrachtet.

Engels- und Cartoonstimmen

Es ist ermutigend: Die Frauen in der Welt der Eurovision stehen nicht im Schatten der Männer, sondern sind ganz im Gegenteil sichtbarer als diese. Die Interpretinnen sind sehr unterschiedlichen Alters (22 bis 53) und die von ihnen geäusserten Vorstellungen über Liebe, Beziehungen und den Platz der modernen Frau in der Gesellschaft sind sehr unterschiedlich. Einige spielen in der traditionellen Liga, wie die junge Baslerin Zoë Më, die uns mit ihrer Engelsstimme das Bild einer naiven Kindfrau vorspielt, die leicht zu kränken ist, aber trotz Misshandlungen ihrem Täter treu bleibt. Die beschriebenen Bindungen sind erniedrigend, was aber wohl den weitverbreiteten männlich-konservativen Wertvorstellungen von heute entspricht. 

Das komplette Gegenteil ist Erika Vikman aus Finnland, schrill, energisch, feurig, hypersexualisiert und anmacherisch, in einem freizügigen Outfit mit nacktem Po, das suggeriert, ihr falle sowieso alles zu und ihr Leben sei darum eine einzige Party. Der Song heisst «Ich komme» und die Sängerin erregt sich an ihrem Mikrofonständer.

Zoë Më und Erika Vikman verkörpern die alten Klischees von der Femme fragile und der Femme fatale. Zwischen diesen beiden Polen ist fast das gesamte Spektrum von möglichen anderen weiblichen Verhaltensweisen zu sehen und zu hören. EMMY, eine Norwegerin, tritt für Irland auf und singt mit einer «Cartoonstimme» vom Schicksal der Weltraum-Hündin Laika. Nina Žižić aus Montenegro entwirft das Bild einer freundlichen, fürsorglichen Frau, die für «alles Gute gegen alles Schlechte» eintritt. Die starke Lesbe Miriana Conte aus Malta verkündet den Kampf für Unabhängigkeit und für das Recht der Frauen, selbst zu bestimmen, wie sie leben wollen. Eine besondere Erwähnung verdient das Bild einer Frau und Mutter, das die französische Sängerin Louane in der ergreifenden Ballade «Maman» entwirft. In dem Lied «Asteromata» der griechischen Sängerin Klavdia gibt es zwei Bilder: Mutter und Tochter.

Die Männer leiden und wollen Spass

Bei den Männern ist es anders. Zunächst einmal gibt es weniger von ihnen. Und obwohl ihre Altersspanne fast gleich ist, von 19 bis 51 nämlich, bieten sie ihren Zuschauern im Wesentlichen drei Hauptmuster männlichen Verhaltens: «Du hast mich verlassen, und jetzt leide ich» (JJ aus Österreich); «Du hast mich verlassen, alle lügen, die Welt ist schrecklich, aber ich werde mich an allen rächen» (Kyle Alessandro aus Norwegen; PARG aus Armenien) und «Komm, wir wollen Spass haben und uns durch nichts dabei stören lassen» (VÆB aus Island). 

Während in den Liedern der Frauen die Rollen der Töchter und der Mütter thematisiert werden, fühlen sich die Männer offenbar nicht als Väter oder Söhne. Und wenn sie sich an ihre Eltern erinnern, dann eher an Papi als an Mami. 

Aber sie formieren sich gern in Boygroups, wie die Schweden, die Ukrainer, die Litauer und die Portugiesen, oder zumindest in Duos. Solche können dann auch gemischtgeschlechtlich sein (Abor & Tynna aus Deutschland und Shkodra Elektronike aus Albanien), wobei die Frauen in solchen Duos die Hauptrolle spielen. Gemischte Bands allerdings sind fast verschwunden: Warum bloss?

Zwischen Patriotismus und Internationalismus 

Die Popularität der Eurovision hatte bisher auch mit der Möglichkeit zu tun, Patriotismus zu zeigen und die eigene Nation zu bejubeln. Heute sind in den Songs jedoch ganz unterschiedliche Positionen zur «nationalen Frage» zu finden. Es gibt Interpreten und Interpretinnen, die sich als internationale Stars positionieren, auf Englisch singen und inhaltlich wie strukturell darauf verzichten, auf das Land zu verweisen, das sie repräsentieren. So zum Beispiel Adonxs, die für die Tschechische Republik mit der Glam-Pop-Komposition «Kiss Kiss Goodbye» antritt. Für andere Interpretierende ist Englisch ohnehin die Muttersprache. Während einerseits Remember Monday aus dem Vereinigten Königreich die Tradition britischer Girlgroups wie der Spice Girls explizit fortsetzt, ist es andererseits bei Go-Jo kaum zu erraten, dass er Australier ist.

Es gibt eine grosse Anzahl von Songs, deren Bezüge zum Herkunftsland zwar vorhanden sind, aber eher formal bleiben. Das kann die Sprache sein, wie bei Justyna Steczkowska aus Polen oder Mariam Shengelia aus Georgien, oder das können auch charakteristische «orientalische» Melodik und Rhythmen, wie bei Mamagama aus Aserbaidschan, sein. Viel interessanter sind allerdings diejenigen, die nicht nur formal und «neutral» auf ihre Herkunft verweisen, sondern sich tatsächlich mit typischen Besonderheiten der nationalen Kultur auseinandersetzen oder mit nationalen Mythen spielen. An erster Stelle ist hier die lettische Folkloregruppe Tautumeitas mit einer Komposition zu nennen, die auf ostinaten Schwingungen ruht und an Meditation erinnert. Man mag es mögen oder nicht, so oder so bleibt ihr Lied «Bur man laimi» im Gedächtnis. 

Lustig ist da wenig

Eine andere, ergiebige Möglichkeit besteht darin, die Bezüge zum repräsentierten Land gar nicht explizit zu machen, sondern lediglich Assoziationen zu wecken, die möglicherweise auf das Herkunftsland hinweisen. Counter-Tenor JJ bringt mit der Pop-Oper «Wasted Love» vielleicht Erinnerungen an Wien auf die Bühne, und in der Komposition von Louane scheint unverkennbar französisches Chanson auf. Die perfekteste Verkörperung eines nationalen Gedankens ist aus unserer Sicht die lustige und aufrührerische finnische Band KAJ, die Schweden repräsentiert. Entgegen kommt ihnen, dass sie nicht einfach nur Finnen sind, sondern schwedischsprachige Finnen, und obwohl sie in ihrer Muttersprache singen, spielen KAJ im Lied «Bara Bada Bastu» auf die finnische Tradition an, bei jeder Gelegenheit in der Sauna zu dampfen. Entstanden ist so ein strahlender Song mit viel Humor, wofür wir uns ganz besonders bedanken möchten, denn die Eurovisions-Show ist immer noch zu glamourös, und das Lachen kommt bei dieser Feier des Lebens immer noch schmerzlich zu kurz.

vintage
Kaj: Die finnische Band tritt für Schweden an.

Aus dem Russischen von Elvira Hauschild Horlacher, Redaktion Felix Schneider.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.

Mit Twint oder Bank-App auch gleich hier:



_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

_____________________
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

Zum Infosperber-Dossier:

GegenStrom_2_ProDirectFinance_XX_heller

kontertext: Alle Beiträge

kontertext widerspricht Beiträgen anderer Medien aus politischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden

Eine Meinung zu

  • am 2.05.2025 um 13:23 Uhr
    Permalink

    «einflussreichen Fernsehereignis entwickelt, das in der ganzen Welt verfolgt wird.»

    «laut Statistik wurde der Eurovision-Song-Contest 2024 von 163 Millionen Zuschauern aus 37 europäischen Ländern live verfolgt (und weitere 7,3 Millionen Nutzer schalteten sich online zu).»

    Wenn die Europäer glauben, dass die ganze Welt dieses Ereignis verfolge, dann leiden sie an Realitätsverweigerung. Die Welt besteht aus mehr als 37 Ländern!!! Die Welt hat nicht nur 170 Mio TV Zuschauer, sondern weit über 5 Milliarden.

    Ist dieser Infosperber-Artikel eigentlich eine Werbeanzeige?

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...