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Düstere Zukunftsaussichten: Wandsprayerei in Berlin © Christof Moser

Wann, wenn nicht jetzt?

Christof Moser /  Totale Überwachung, postdemokratische Zustände: Gegenwehr ist nötiger, aber auch schwieriger denn je.

Die Regeln der Gesellschaft brechen, um die Gesellschaft zu verändern – wenn nötig auch mit Gewalt gegen Sachen, mit Blockaden, zivilem Ungehorsam: Dieser Aufruf ist längst nicht mehr nur in den Wandzeitungen linker Splittergruppen zu finden, sondern hat inzwischen auch den Weg in die Buchhandlungen gefunden. «Sabotage» – so heisst ein aktuelles Sachbuch, geschrieben von Jakob Augstein, Herausgeber der Wochenzeitung «Der Freitag» und Sohn von «Spiegel»-Gründer Rudolf Augstein, das offen zum Widerstand aufruft. Auf den ersten Seiten findet sich darin sogar eine praktische Anleitung zum Basteln von Farbbeuteln, um den Worten Taten folgen zu lassen.

«Der Staat, der weder den Wohlstand seiner Bürger schützen kann noch ihre Moral vertritt, verwirkt den Anspruch auf Gehorsam und Loyalität. Ein Staat, der nur wenige Tage braucht, um Milliardenbeträge für die Rettung der Banken bereitzustellen, aber viele Jahre, um die Finanztransaktionssteuer einzuführen, ist dabei, diesen Anspruch zu verwirken», schreibt der Historiker und Publizist, ein Millionenerbe, angesehenes Mitglied der linksliberalen Elite, nie unterwegs ohne gebügeltes Hemd und Jacket. Der Aufruf zur Gegenwehr ist damit definitv in der Mitte der Gesellschaft angekommen, genauer noch: in der Mitte oben links.

Nach geistigem Brandbeschleuniger jetzt die nächste Stufe

«Empört euch!», hatte der frühere französische Widerstandskämpfer und spätere UN-Diplomat Stéphan Hessel uns allen erst 2010 in seiner gleichnamigen Streitschrift zugerufen, die in Millionenauflagen zu so etwas wie dem geistigen Brandbeschleuniger der «Occupy»-Bewegung geworden ist, nur ein Jahr später gefolgt von «Engagiert euch!». Und jetzt bereits die nächste Stufe, von Augstein: «Wehrt euch, nötigenfalls auch mit Gewalt!»

Die Kritik an seinem Buch liess demenstprechend nicht lange auf sich warten: «Die höchste Aufgabe des Staates ist die Sicherung und Durchsetzung des Rechts, hieraus speist sich seine Legitimität – und sicher nicht aus dem Schutz von Wohlstand», schleuderte ihm die Tageszeitung «Die Welt» entgegen, fassungslos über seine «Ungeheuerlichkeit, sozialen Wandel durch physische Nötigung erzwingen zu wollen». Denn Widerstand, so dozierte das Blatt, setze «die Illegitimität eines Regimes voraus», und westliche Demokratien hätten legitime Regierungen, die nur mit demokratischen und rechtsstaatlichen Mitteln bekämpft werden dürften.

Undemokratisches Paralleluniversum

Seit der Veröffentlichung von Augsteins Buch und dieser Kritik daran sind nicht einmal zwei Monate vergangen, und schon liest sich der berechtigte Hinweis auf demokratische Prozesse bereits wie aus einer längst vergangenen Zeit.

In den wenigen Wochen dazwischen verwandelte sich die westliche Welt, die wir als demokratische Rechtsstaaten kennen, in atemberaubendem Tempo in eine Überwachungsdiktatur, die Widerstand nicht nur legitimiert, sondern sogar geradezu erzwingt.

Mit den Enthüllungen von Whistleblower Edward Snowden wurde nicht nur publik, dass die Geheimdienste im Internet alles und jeden von uns in Echtzeit überwachen können, die Jagd nach dem Verräter des geheimen Überwachungssystems legt ausserdem offen, dass sich demokratisch gewählte Regierungen gleich reihenweise keinen Deut um die Verteidigung bürgerlicher Grundrechte wie Meinungsfreiheit und Privatssphäre scheren. Das Konglomerat aus staatlichen Geheimdiensten und kommerziellen IT-Konzernen wie Google «bildet ein politisches Paralleluniversum, in dem die Demokratie keine Rolle mehr spielt», sagt der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, der weiter beunruhigt konstatiert: «Wir leben in postdemokratischen Zuständen».

Angst vor äusserem Feind scheint grösser

Als wäre ein weiterer Beweis für diese bemerkenswerte Aussage nötig gewesen, drangen Mitarbeiter des britischen Geheimdiensts vor einigen Wochen in die Londoner Redaktion der Tageszeitung «The Guardian» ein und verlangten die Vernichtung von Harddiscs, auf denen Journalisten Datenmaterial von Edward Snowden gespeichert hatten – ein nie dagewesener Eingriff in die Pressefreiheit einer Demokratie, der das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit des freien Westens schlagartig beendet hat. Wenn nicht jetzt Widerstand, wann dann?

Nicht minder bedrohlich als das Vorgehen der Behörden ist allerdings der Gleichmut weiter Teile der Bevölkerung über diese tektonischen Verschiebung in der Welt, wie wir sie bisher kannten. Die diffuse Angst vor äusseren Feinden der Freiheit scheint stärker zu sein als die Wut auf die, die sie von innen aushöhlen. Gegenwehr, das muss man dazu sagen, ist tatsächlich auch ziemlich schwierig geworden: Nötig wäre gewissermassen Widerstand gegen uns selbst, die wir alle Social Media wie Facebook und Twitter sowie die Telefon-Apps zum Einkaufen, Orientieren und Vernetzen benutzen und uns damit gleich selber in gläserne und kontrollierbare Konsumenten verwandeln, die den freien, aufgeklärten Bürger ersetzen.

Nötig ist ein radikales Ende der Bequemlichkeit

Das Versprechen auf eine bessere Welt dank Vernetzung und freier Meinungsäusserung, das die Aufstände in Nordafrika und anderen Regionen der Welt mit stimmungsvollen Bildern genährt haben, hat sich in einen Alptraum verwandelt, aus dem es nur mit einem radikalen Ende der Bequemlichkeit ein Aufwachen gibt.

Für die Minderheit, die sich dem Weckrufen verpflichtet sieht, wird die Lage immer ungemütlicher: «Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten»: Dieser häufig gehörte Satz ist das Entsolidarisierungs-Mantra des Mainstreams mit Querdenkern, Unruhestiftern und Widerständlern in der Gesellschaft, mit dem alle verdächtig gemacht werden, die sich der totalen Überwachung entziehen. «Was wir erleben», sagt der deutsche Publizist Frank Schirrmacher, «bestätigt die dunkle Prophezeiung des Philosophen Michel Focault vom Homo Economicus, der nur noch nach Effizienzkategorien und Nutzenoptimierungen funktioniert und damit hervorragend regierbar ist».

Harte Strafen für zivilen Ungehorsam

Augsteins Buch zum Trotz: Dass selbst in Zeiten grösster Unterdrückung gewaltlose Gegenwehr der beste Widerstand ist, zeigte spätestens Mahatma Gandhi, der 1947 mit seinem Aufruf zu zivilem, gewaltfreiem Ungehorsam das Ende der britischen Kolonialherrschaft über Indien erreichte. Gewalt, zumal gegen Personen, setzt eine Spirale in Gang, der nicht selten im Terror endet, wie die Aktionen der linksextremistischen RAF in den 1970er-Jahren in Deutschland zeigten.

Allzu naiv darf man jedoch nicht sein, weshalb ein Diskurs über legitime Formen des Widerstands dringend angezeigt ist. Der Totalüberwachung im Namen der Sicherheit ging nach den Terroranschlägen von 9/11 eine massive Verschärfung der Terrorgesetze voran – nicht nur in den USA, sondern auch in Europa. Ein dunkler Vorbote, was dies für Aktivisten bedeutet, die gewaltfreien Widerstand leisten, zeigte sich schon zwei Jahre nach den Anschlägen in New York: Umweltschützer, die sich im US-Bundesstaat Kalifornien an 120 Meter hohe, über 1500 Jahre alte Mammutbäume ketteten, um sie vor einer Abholzung zu schützen, wurden als «Öko-Terroristen» verurteilt – und wanderten teilweise über 20 Jahre ins Gefängnis. Seither sind in den USA hunderte Umweltschützer von den Justizbehörden mit drakonischen Strafen für zivilen Ungehorsam belegt worden.

Repressionen mussten auch viele Mitglieder der «Occupy Wall Street»-Bewegung hinnehmen, die ab Oktober 2011 nach den so genannten «Bewegung 15. Mai»- oder «Movimiento 15-M»-Demonstrationen in 58 spanischen Städten den Protest für mehr Demokratie ins US-Finanzzentrum in New York trugen. Als sie an den darauffolgenden Weihnachtstagen in einer Protestpause ihre Familien besuchen wollten, wurden sie an den US-Flughäfen als Terroristen festgehalten.

Widerstand ist eine Frage der Haltung

Trotz dieser Repressionen des Staates gegen das Aufmucken seiner Bürger ist der weltweite Protest gegen die Allmacht der globalen Finanzmärkte seit der Initialzündung in Spanien und trotz des Abflauens der weltweiten «Occupy»-Bewegung nie wieder ganz abgerissen. «Occupy» weckte überhaupt erst den Hunger nach Demokratie in Tunesien, Libyen und Ägypten, was im «arabischen Frühling» mündete und leider auch in blutigen Kriegen wie in Syrien oder einer militärischen Konterrevolution wie in Ägypten. In den letzten Wochen und Monaten gingen in Griechenland, Deutschland, der Türkei und zuletzt in auch Brasilien hunderttausende Menschen für ihre Rechte auf die Strasse, und überall glichen sich die Bilder: Schlagstöcke, Gummischrot und Tränengas gegen die Meinungsäusserungsfreiheit.

Überall dort, wo die Proteste aufflammen, stellt sich auch immer wieder aufs Neue die Frage nach legitimen Widerstandsformen. Im Sommer 2012 besetzten in Berlin 300 Rentnerinnen eine Senioren-Begegnungsstätte, um den Verkauf des Gebäudes an Spekulanten zu verhindern. In Madrid besetzten ebenfalls im Sommer des letzten Jahres brave Bürger über 50, die sich «Yayoflautas» nennen, was «Strassenoldies» heisst, Banken und Behördengebäude. «Widerstand ist keine Frage des Alters, sondern der Haltung», liessen die rüstigen Besetzer Medienvertreter wissen.

Was unterscheidet im Kern Istanbul von Zürich?

Selbst in die beschauliche Schweiz schwappte kürzlich der Widerstands-Diskurs. Nachdem die «Weltwoche» versucht hatte, «Tages-Anzeiger»-Chef Res Strehle in die Nähe des Linksterrorismus zu rücken, weil er in den 1980er-Jahren zu den Zürcher Bewegten gehörte, gab Strehle einen bemerkenswerten Satz zu Protokoll: «Es gibt auf die Gewaltfrage nicht nur eine apodiktische Antwort: ja oder nein. Die Skala zwischen der Gewaltfreiheit eines Dalai Lama und dem militärischen Weg der kurdischen Arbeiterpartei PKK oder dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus ist breit. Es wäre interessant zu diskutieren, was in welcher historischen Situation mehr Erfolg verspricht».

Wie dringend notwendig das Aufstarten dieses Diskurses ist, zeigte sich in der unterschiedlichen Bewertung von Protesten diesen Sommer in Istanbul und Zürich. Während den Demonstranten in der türkischen Hauptstadt im Kampf gegen die gewalttätige Polizei der Applaus aus dem linksliberalen Schweizer Milieu sicher war, obwohl danach die halbe Istanbuler Innenstadt in Trümmern lag, führten verschmierte Hausfassaden, zertrümmerte Schaufenster und ein geplünderter Coop am Rande einer Demonstration von Zürcher Hausbesetzern Anfang März zu wortreichen Distanzierungen aus denselben politischen Kreisen.

Keine Frage: Die Randalierer unter den Demonstranten haben die politischen Anliegen eines mehrheitlich kunterbunten Protestzugs mutwillig diskreditiert. Keine Frage auch: Der Polizeieinsatz in Zürich war weit vom Gewaltexzess der türkischen Sicherheitsbehörden entfernt. Aber wenn selbst politisch zugewandte Kreise vor lauter Distanzierungen das Grundanliegen des Protests aus dem öffentlichen Diskurs verdrängen, zeigt dies vor allem, dass die Legitimität von Widerstand und seiner zuweilen unbequemen Ausdrucksformen in der sich dramatisch verändernden Welt neu bewertet werden muss. Entzündet hat sich der Protest in Istanbul wie Zürich nämlich am gleichen Problem: der fortschreitenden Ökonomisierung und Kommerzialisierung des städtischen Raums, die alles, was nicht käuflich ist und alle, die nichts bezahlen können, verdrängen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Text erschien zuerst in der aktuellen Ausgabe des Strassenmagazins «Suprise», erhältlich bis am 19. September beim Strassenverkäufer Ihres Vertrauens.

Zum Infosperber-Dossier:

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