Kaczynski

Jaroslaw Kaczynski, heimlich-unheimlicher Regisseur des polnischen Nationalismus © Sputnik

Hier gedeiht Nationalismus besonders gut

Christian Müller /  Nicht alle Länder sind in gleichem Masse von nationalistischen Bewegungen bedroht. Ein Blick in die Geschichte liefert Erklärungen.

Auch wir in der Schweiz wissen es: Patriotismus – oder eben Nationalismus, was so ziemlich das gleiche ist – gedeiht dort am besten, wo der politische Acker mit Helden-Mythen gedüngt wird. Es ist kein Zufall, dass SVP-Vordenker Christoph Blocher sich immer wieder die Zeit nimmt, vor seinen Verehrern und Geistesverwandten Vorträge über bekannte – manchmal auch weniger bekannte – Persönlichkeiten der Schweizer Geschichte zu halten. Das hilft ihm, unser Land als Verwirklichung einer siebenhundert Jahre alten Unabhängigkeitsidee erscheinen zu lassen und verherrlichen zu können – unbeachtet der Tatsache, dass die Schweiz meist total fremdbestimmt war. Es sind nicht zuletzt Geschichtsmythen und daraus abgeleitete Gebiets- und/oder Unabhängigkeitsansprüche, die im harmloseren Fall zu Nationalismus, im dramatischeren Fall zu kriegerischen Auseinandersetzungen führen. Die Ukraine etwa, China und auch Israel sind anschauliche Beispiele.

Besonders anfällig für Nationalismus sind jene Länder, die einmal gross und mächtig waren, jetzt aber geopolitisch kaum mehr eine Rolle spielen. Polen zum Beispiel war in guten Zeiten ein grosses Reich, ein echtes Imperium.

Karte: Polen-Litauen um 1618, im Vergleich mit den heutigen Landesgrenzen in Mitteleuropa. Fast das ganze Gebiet der heutigen Ukraine unterstand damals der polnischen Krone.

Und was ist Polen heute?

Oder Ungarn. Das Königreich Ungarn war innerhalb der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn bis 1914 gut und gerne dreimal grösser als das heutige Ungarn.

Karte: Das Königreich Ungarn umfasste noch 1914 im Norden grosse Gebiete der heutigen Slowakei, im Osten des heutigen Rumäniens und im Süden des heutigen Kroatiens.

Und was ist Ungarn heute? Nur gut doppelt so gross wie die Schweiz, knapp 10 Millionen Einwohner und eine Wirtschaft, die vor allem dank AUDI, Mercedes und Opel und einer massiven Abwertung des Forint noch einigermassen funktioniert.

Oder noch ein Beispiel: die Türkei! Das Osmanische Reich reichte einmal von Wiens Stadtrand im Westen bis nach Persien im Osten, von Podolien in der Ukraine im Norden bis zur heutigen Grenze Ägypten/Sudan im Süden.

Karte: Das Osmanische Reich zur Zeit seiner grössten Ausdehnung im 17. Jahrhundert.

Und was ist die Türkei heute? Selbst die der Türkei direkt vorgelagerten Inseln Lesbos, Chios, Samos, Kos und Rhodos gehören heute zu Griechenland. Ein geeignetes Thema für einen Autokraten, um nationalistisch Stimmung zu machen!

Der Blick zurück hilft

Dass vergangene Zeiten, vor allem Zeiten der kulturellen Hochblüte und der maximalen politisch-geographischen Ausdehnung, nicht so leicht vergessen gehen und zumindest im kollektiven Unterbewusstsein der Bevölkerung noch über Jahrhunderte nachwirken können, wird gerade heute wieder offensichtlich. Dass Europas Länder seit mehr als einem halben Jahrhundert fixe Grenzen haben, ist denn auch ein recht neues Phänomen.

Der historische Blick zurück hilft, das Entstehen von nationalistischen Strömungen besser zu verstehen. Wobei «verstehen» nicht heisst, dass diese nationalistischen Strömungen damit auch gutgeheissen werden müssen. Sie basieren vielerorts auf dem Treiben machthungriger Politiker, sind oft hoch emotional und gefährden gerade deshalb das friedliche Miteinander innerhalb des Landes, aber auch den Frieden mit den Nachbarländern. Der jetzige Friede in Europa ist keine Selbstverständlichkeit!

WIE sich Europa in den letzten Jahrhunderten verändert hat, WIE sich die Grenzen verschoben haben, das zeigt (seit dem Jahr 700 n.Chr.) diese lebendige Karte. Eine höchst anschauliche, informative und kurze Lektion (Zeitaufwand weniger als 200 Sekunden)!


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

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10 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 7.05.2017 um 11:53 Uhr
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    Dass Nationalismus und Patriotismus nicht das Gleiche sind, gehört zu den Unterscheidungen, die zum Beispiel für die vielsprachige (weniger multikulturelle) Schweiz wichtig sind, hier kommt es eben auf die für C.M. in der Regel wichtige Differenzierung an. Real existiert nun mal fast nirgends ein sogenannter Verfassungspatriotismus, es geht um ein von Generationen gemeinsam erlebtes Vermächtnis, sei das in den USA oder gemäss der hervorragenden Ansprache vor Wochenfrist zum Bruderklausjubiläum von Peter von Matt in der Schweiz. Es lässt sich freilich leicht nachweisen, dass beispielsweise selbst eine im Prinzip heiligmässige Symbolfigur wie Jeanne d’Arc einen nationalistischen Gehalt hat, was man vom realen Bruder Klaus von Flüe klar weniger sagen kann. Er rettete das Land, weil er es vielleicht als einziger nicht retten wollte. Aber natürlich war die Schweiz sogar nicht erst seit der Helvetik, aber seither ganz sicher, und zumal um 1848 und noch später auf Patriotismus angewiesen. Es kann sich dabei, obgleich alles Übertriebene schädlich ist, unmöglich um eine für das Gemeinwesen überflüssige emotionale Eigenschaft handeln. Selbst noch ein Autor wie Peter Bichsel, der den Begriff Patriotismus wegen seinen möglichen giftigen Abfallprodukten für sich nicht beanspruchen will, wirkt gerade in seiner lokalen Bezüglichkeit schweizerischer und in vielem patriotischer als solche, die sich pathetisch mit diesem Wort schmücken, er beschrieb wohl so etwas wie den identitären Haushalt.

  • am 8.05.2017 um 14:00 Uhr
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    Darüber wie der Artikel gegen SVP-Vordenker Christoph Blocher aufgebaut ist, kann ich nur den Kopf schütteln!

  • am 8.05.2017 um 16:10 Uhr
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    Patriotismus und Nationalismus werden immer dann wieder hochgespühlt, wenn der Klassenkampf besonders heftig tobt (zur Zeit allerdings mehrheitlich von oben nach unten). Steuergeschenke und -schlupflöcher für Kapitalbesitzer, Abbau beim Service Public. Die Reichen werden reicher, die Armen zahlreicher. Da muss man schon die wirkungsvollen Waffen hervorholen. um die Massen zu täuschen, auszutricksen und zu verwirren. Patriotismus geht dazu ideal, ebenso die Religion. Dann kommen noch Verschwörungstheorien dazu, oder etwa sportliche Massenveranstaltungen (Olympiaden, Fussball-WM etc.). Abgerundet wird das scheussliche Waffenarsenal mit den Fersehsendungen à la Musikantenstadel, Eurovisionssong-Contest, Big Brother und der Bachelor usw. und sofort. Als Angehöriger der arbeitenden Klasse habe ich kein Vaterland, höchstens eine Heimatliebe (zu meiner Vaterstadt Basel). Ganz anders als der Milliardär Blocher.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 8.05.2017 um 16:25 Uhr
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    "Als Angehöriger der arbeitenden Klasse habe ich kein Vaterland.» Lesen Sie mal die Werk der einzigen Arbeiterschriftsteller der Schweiz, Jakob Bührer und Karl Kloter, dann sehen Sie anderes Perspektiven.. Kloter wurde übrigens zur Zeit des 2. Weltkrieges sehr bewusst und er stand dazu, dass er ein Vaterland hatte. Er lebte zeitlebens mit seiner Frau in einer Einzimmerwohnung, war Vegetarier und Pazifist und wie viele andere Sozialisten ein äusserst glaubwürdiger Patriot, letzteres schweizergeschichtlich ein revolutionärer Ausdruck vor allem von 1798, als Tell Symbol der Helvetischen Republik wurde. Sie leiden offenbar an Ressentiments, Blocher ist in der Schweiz ein Bürger wie jeder andere, hatte keine Aussicht, Bundesrat zu bleiben, das ist nun mal bei uns so, Ihre psychischen Probleme mit Blocher sollten sie nicht mit der Frage nach der schweizerischen Identität vermengen, da könnten Sie sich auch bei Dürrenmatt näher erkundigen. Die Schweiz, vermerkte er, ist kein Experiment, das abgebrochen werden müsste. Das mit Ihrer Zugehörigkeit als Angehöriger der arbeitenden Klasse, der deswegen kein Patriot sein könne, macht mir einen sektiererischen Eindruck und müsste sowieso bei vertiefter Analyse der Geschichte des Sozialismus mit Sicherheit noch differenziert werden.

  • am 8.05.2017 um 16:31 Uhr
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    Ihresgleichen hängt den politischen Gegnern psychische Probleme an, um sie anschliessend in der Psychiatrie versenken zu können. Diese Form des Klassenkampfes habe zu erwähnen vergessen. Danke für Ihren Beitrag, Herr Meier!

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 8.05.2017 um 17:35 Uhr
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    Es geht um Analyse. Befassen Sie sich mal mit Kuba usw.im Zusammenhang mit Patriotismus. Dass Patriotismus in der Schweiz mit Blocher identifiziert wird und man deswegen dagegen sein muss, halte ich aber für ein Problem der politischen Psychologie im Zusammenhang mit Projektion. Mit dieser These wird niemand psychiatrisiert. Politische Identitätsbildung durch Patriotismus gehört zur Politologie. Heute am 8. Mai wird es in Moskau eine patriotische Parade geben im Anschluss an den Grossen Vaterländischen Krieg, bei dem es zwar kaum um die Verteidigung des Sozialismus ging. Wollen Sie sich aus linker Sicht mit Patriotismus befassen, lesen Sie die Bücher von Mittelamerikanern wie Marti u. Fidel Castro. ev. Frei Bettos Nachtgespräche mit Fidel. Selber war ich Herausgeber von Werken des Arbeiters Karl Kloter war. Für 2018 befasse ich mich mit Robert Grimm, dessen Schweizer Geschichte in Klassenkämpfen zur Geschichte des Schweizer Patriotismus gehört und ein Beitrag dazu ist, dass Sozialismus in der Schweiz wenig diktaturorientiert sein sollte. Ich weiss nicht, was Sie, wenn Sie mich ansprechen, unter «Ihresgleichen» verstehen. Ich freue mich, im Juni in Bern und St. Gallen mit Prof Tanner und dem Gewerkschafter Rechsteiner im Zusammenhang mit den Wirkungen und Fernwirkungen des Kulturkampfes in der Schweiz über Fragen wie Patriotismus und Radikalismus vorurteilsfrei diskutieren zu können. Für die linke Variante von Patriotismus scheint mir Hans Mühlestein von Bedeutung zu sein.

  • am 8.05.2017 um 23:08 Uhr
    Permalink

    Gibt es auch einen EU-Patriotismus? Der liesse sich mit gutdosierter Geschichtsklitterung wohl auf Karl den Grossen zurūck fūhren?
    Es gibt auch einen USA-Patriotismus. Der macht sich aber nicht an der Vernichtung der indigenen Bevōlkerung fest.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 8.05.2017 um 23:45 Uhr
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    @Obrist. Das wäre eine gefährliche Geschichtsklitterung, beruhend auf dem Sieg von Karl Martell gegen die Muslime und noch verbunden mit den bekannten Zwangstaufen. Patriotismus kann im übrigen nicht gezüchtet werden, er wächst historisch und natürlich erzeugt er auch Sumpfblüten. Hingegen kann man niemandem ausreden, seine Heimat bzw. sein «Vaterland», Peter von Matt gebrauchte vor 10 Tagen den Begriff bei seiner Festansprache in Sarnen, zu lieben. Das ändert nichts daran, dass einem im Sinne der Menschheit die Fidschi-Inseln auch sympathisch sein können.

  • am 10.05.2017 um 02:00 Uhr
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    herr meier verstehen sie das nicht falsch, aber jede Bibliothekarin kann Bücher zu einem Thema aufzählen. selbst Quellenangabe in einer Doktorarbeit bedeutet nur, dass man die Arbeit nicht selbst gemacht hat. ich weiss, viele finden das wichtig. ich werde kaum das Wissen über Bücher oder Schriftsteller haben wie sie, aber das macht sie nicht besser als alle anderen. kennen sie die Bücher von Newton oder bernoulli? macht das jetzt meine Meinung besser als ihre? wie gesagt, offene Meinung, kein bashing, wie es neudeutsch heisst.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 10.05.2017 um 07:06 Uhr
    Permalink

    @Baur. Das mit dem Lesen der Originale ist ein Nebenschauplatz, bin aber dankbar, dass Sie das Thema «Bücher» ansprechen. Selber halte ich mich an den Grundsatz von Canetti, nur solche Bücher zu zitieren, die ich zumindest konsultiert habe, z.B. die Ausführungen Newtons und Bernoullis über das Thermometer z.B. in der Biographie des Schweizer Physikers und Kartographen Micheli du Crest (1999). Man kann Bücher, nicht nur die Bibel und den Koran, durchaus als heilig ansehen, einschliesslich des Respekts vor den Autoren. Gegenüber Newton und Bernoulli gilt das in aussergewöhnlichem Ausmass. Dabei bestätigte mir der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker, wie schwierig es sei, Newton im Original zu lesen. Übrigens will man das Latein, also Newtons Originalsprache, jetzt nach vielen hundert Jahren im Kanton Luzern auf der Gymnasialunterstufe abschaffen, auch ein Zeichen dafür, dass man Bildung, die man nicht hat, natürlich nicht vermisst. Der bedeutendste historisch-kritische Schriftsteller der Schweiz, Josef Eutych Kopp (1793 – 1866), der allerdings noch ohne Kenntnis des Weissen Buches von Sarnen mit der Tell-Legende aufgeräumt hat und generell die traditionelle ältere Schweizer Geschichte wie keiner kritisiert, war Lateiner und Handschriftenkenner, nicht Historiker. Richtig ist wohl: Man hat nie genug gelesen und es lohnt sich immer, den Originalen nachzugehen. So handhabte es der kritische Humanist Erasmus von Rotterdam, den man als bedeutendsten Reformator schätzen sollte.

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