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Politologe Michael Hermann erklärt die Welt © Flickr

Sprechbläser zur Lage der Nation

Christof Moser /  Seit Journalisten keine Zeit mehr haben, selber zu denken, lagern sie das Denken aus. Gefragt sind vor allem Politologen.

Wenn der Mann mit der Fliege auf dem TV-Bildschirm auftaucht, wissen selbst Polit-Muffel, was das zu bedeuten hat: Es wurde gewählt, abgestimmt, die Demokratie hat zugeschlagen und unser Land politisch neu justiert. Und Claude Longchamp, der Hauspolitologe des Schweizer Fernsehens, der Mann mit der Fliege, analysiert und kommentiert die neue Lage der Nation. Jede noch so kleine Verschiebung von Wählerprozenten wird durch seinen berufenen Mund zum lauten Knirschen im Staatsgebälk.

Lange war Longchamp, ein Zögling der Politologie-Eminenzen Hanspeter Kriesi (Universität Zürich) und Wolf Linder (Universität Bern), der Einzige seines Fachs, der den heiklen Spagat zwischen medialen Auftritten und universitärer Würde wagte. Auch in der Politologie, also der «Wissenschaft von der Politik», gilt die Regel: Je präsenter jemand in Publikumsmedien, desto kleiner seine akademische Reputation. Die SRG dankt ihm diesen Mut bis heute mit Aufträgen in der Höhe von 300’000 Franken pro Jahr, was zehn Prozent des Umsatzes seiner Firma GfS ausmacht. In Wahljahren wie 2011 wird daraus das Doppelte. Weshalb sich Longchamp immer seltener in die Niederungen von Privatradios und Onlineportalen zu begeben braucht, um mit medialer Aufmerksamkeit neue Kunden für sich zu akquirieren.

Dort buhlen inzwischen Heerscharen anderer Politologen um die Aufmerksamkeit des Publikums. Sie heissen Michael Hermann, Regula Stämpfli, Adrian Vatter, Hans Hirter, Andreas Ladner oder Georg Lutz und profitieren vom Vakuum, das Longchamp mit seiner zunehmenden Verweigerung von Kurzinterviews und Instant-Analysen in den Medien hinterlassen hat. Gezielt haben Verlagshäuser deshalb neue Namen aufgebaut. Hermann ist – nicht ausschliesslich, aber vor allem – Politologe des Tamedia-Onlineportals «Newsnetz», Stämpfli kommentiert für das Zürcher «Radio 1», Vatter hält sich an «TeleBärn» und «Der Bund», und auch Hirter, Ladner und Lutz sind regelmässig für Medien tätig. Und immer öfter hat man als Beobachter das Gefühl, die Politologen hätten sich in den letzten Jahren nicht nur vervielfältigt, sondern sich in ihrem Tun auch verselbständigt.

Täglich 120 Expertenmeinungen

Die Konkurrenz um Schlagzeilen und Sendezeit führt zu Gekeife, und das Gekeife zwischen den zu Promis hoch geschriebenen Politologen wiederum zu Schlagzeilen. So geschehen, als Regula Stämpfli vergangenen Herbst in ihrer Kolumne auf «Radio 1» Kollege Michael Hermann als «Wahlvermesser mit dem Reflektionsgrad eines Planktons» beschimpfte, der «alle 48 Stunden Stunden via Onlineportale von Tamedia huste». Der Hintergrund dieser Beschimpfung sei ja vielleicht, keifte Hermann zurück, dass Stämpfli auf diesen Onlineportalen nicht so oft zitiert werde wie er. Kaum ein Medium hat auf eine Berichterstattung über diesen Streit verzichtet.

In einer Expertokratie, wie wir sie heute haben, werden die Politologen zu den Royals der Demokratie. Das Rückgrat der Medienindustrie sind sie schon längst. «Journalisten haben heute keine Zeit mehr, Themen und Ereignisse einzuordnen», sagt Lukas Golder, Politologe und Mitarbeiter im GfS-Institut von Claude Longchamp. «Weil aber Einordnungen in der Informationsflut immer wichtiger werden, lagern sie die Medien an Politologen und andere Experten aus.» Allein in der Deutschschweiz drucken die Zeitungen pro Tag im Schnitt 120 Expertenmeinungen ab – «von Polit- und Finanzfachleuten bis zu Schafzucht- und Thermoskannenspezialisten», wie Kurt W. Zimmermann, Medienkritiker der «Weltwoche», treffend festhielt. «Da viele Journalisten ihre Konkurrenz nicht konkurrenzieren, sondern lieber kopieren, vermehrt sich die Medienpräsenz der Experten wie im Schneeballsystem», so Zimmermann weiter. Dass sie ihre Auskünfte meist gratis anbieten und so unschlagbar billige Content-Lieferanten für Medienkonzerne sind, darf nicht unerwähnt bleiben.

Dieser Logik des Mediensystems verdankt Michael Hermann seinen Aufstieg zum Star-Politologen Nummer zwei hinter Longchamp. Hermann ist genau genommen gar nicht Politologe, sondern Geograf, hat aber die beiden wissenschaftlichen Disziplinen mit der kartografischen Darstellung der Politik in seinem Buch «Atlas der politischen Landschaften» zu einem Medienschlager verbunden. Und mit den Spinnennetz-Grafiken für «Smartvote», mittels derer Wähler ihre politische Positionierung mit jener von Kandidaten vergleichen können, seine Position als Medienstar gefestigt. Mit seiner Firma «Sotomo» arbeitet er auf eigene Rechnung und betreut Mandate wie jenes des Wirtschafts-Think-Thanks «Avenir Suisse», der von ihm Vorschläge haben will, wie der Bundesrat reformiert werden könnte. Inzwischen rufen ihn an politisch hektischen Tagen nach eigenen Angaben bis zu zehn Journalisten an. In der Mediendatenbank SMD tauchte Hermann im letzten Jahr 382 Mal auf – so oft wie kein anderer Politexperte im Land.

«Michael Hermann besitzt die Fähigkeit, politische Situationen einzuschätzen und sie in kurzer Redezeit zu erklären», sagt Georg Lutz über seinen erfolgreichen Kollegen. Hinter dieser neutral-wohlwollenden Aussage verbirgt sich eine Grundsatzfrage, die sich Lutz auch selber stellt: Wo betreiben Politologen tatsächlich noch Aufklärung und wo bewirtschaften sie mit zugespitzten Aussagen einfach nur die Erwartungshaltung der Massenmedien?

Politologische Rating-Methoden

Genau darauf zielte Regula Stämpflis markige Kritik an Hermann, die sich an dessen Aussage entzündete, die SVP werde mit ihrer Politik bei den Wahlen 2011 erneut zu den grossen Gewinnern gehören. Im gleichen Zeitraum kritisierte Hermann das neue Programm der SP als «abstraktes, blutleeres Bekenntnis zu alten Grundsätzen», mit dem «die Mitte der Gesellschaft nicht zu gewinnen» sei.

Stämpfli, deren inhaltliche Kritik an Hermann im medial aufgebauschten Plankton-Geplänkel erwartungsgemäss total unterging, bezichtigt ihren Kollegen, mit seinem Fokus auf die Beurteilung von Wählerpotenzialen die Politik zu einem reinen Kampf um Macht zu degradieren, völlig losgelöst von Inhalten. «Wer nur über Wähleranteile redet, redet nie über das, was für die Allgemeinheit wichtig ist, sondern nur über den Erfolg einer Partei», sagt sie. «Der Vermessung verpflichtete Politologen betreiben mit der Demokratie, was die Rating-Agenturen mit dem freien Markt machen: Sie verpacken Nichts in eine mathematisch sauberes Modell und verkaufen dieses als spannende Aussage.» Die Tendenz, so Regula Stämpfli, für die Medien den politischen Showdown um Sieg und Niederlage zu zelebrieren, gehorche ganz automatisch der SVP-Logik des permanenten Wahlkampfs: «Hinter meiner Methodenkritik steckt ein grosses Unbehagen über das, was vor unseren Augen passiert.»

Hermann wiederum kontert diese Kritik, in dem er sich seinerseits von Stämpfli abgrenzt. Er betreibe «technische Beurteilungen des politischen Handwerks», analysiere, ob eine Partei mit ihren Positionen und ihrem Vorgehen die Diskurshoheit in einem Thema übernehmen könne. «Es ist nicht meine Aufgabe, zu beurteilen, ob die von einer Partei vertretenen Werte erstrebenswert sind», so Hermann. Er sieht Regula Stämpfli als «kritische Intellektuelle» und kritisiert, dass sie diese an sich legitime Rolle und ihre «klaren Positionsbezüge, zum Beispiel gegen die SVP», oft hinter politologischer Neutralität zu verbergen suche. Allerdings gibt Hermann zu, dass in seinen Expertenbeurteilungen durchaus auch seine persönliche Meinung einfliesst: «Mich hat das SP-Programm ganz einfach enttäuscht.» Einig ist sich Hermann mit Stämpfli darin, dass die Omnipräsenz von Experten in den Medien eine Folge des journalistischen Niedergangs ist: «Was wir Politologen in unserer Expertenrolle machen, kann auch jeder gute Inlandjournalist. Heute gibt es jedoch fast nur noch Allround-Newsjournalisten, die mit der politischen Einschätzung eines Themas überfordert sind.»

Wie spannend Politologie abseits von Jagdanleitungen nach ungenutzten Wählerpotenzialen sein kann, bewies einmal mehr die kürzlich erschienene Selects-Studie zu den Wahlen 2007, eine umfassende, regelmässig durchgeführte Untersuchung des Wählerverhaltens in der Schweiz, finanziert vom Schweizerischen Nationalfonds. Demnach neigen die Stimmbürger immer stärker zum «strategischen Übersteuern», das heisst, sie wählen radikaler, als sie eigentlich sind, um die Politik in die von ihnen gewünschte Richtung zu bewegen. Wahlen werden, so das Fazit der Politologen, zunehmend zu sachpolitischen Plebisziten.

Dieser Befund böte Stoff für spannende Medienberichte. Spannender jedenfalls, als die Instant-Plattitüde, die SVP werde mit der Lancierung von Ausländerinitiativen den Nerv der Bevölkerung treffen und deshalb 2011 zu den Wahlgewinnern gehören. Für diese Prognose braucht es keine studierten Politologen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Bundeshausredaktor der Zeitung "Der Sonntag". Der Artikel erschien zuerst im Strassenmagazin "Surprise".

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3 Meinungen

  • Portrait.Hanspeter Guggenbühl.2020
    am 25.05.2011 um 11:56 Uhr
    Permalink

    Ich kann nicht beurteilen, ob alle Details in diesem Text stimmen (der Vorname des Politologen ist Andreas, Anton Ladner ist der Journalist). Jedenfalls liefert er eine ausgezeichnete Analyse der realen Medienentwicklung – und müsste in jeder Inland-Redaktion an die Wand gepinnt werden.
    Hanspeter Guggenbühl
    (bin ein Journalist, der noch nie einen Politologen um eine Stellungnahme bat)

  • am 26.05.2011 um 09:40 Uhr
    Permalink

    Bissoguet, Christof, der Wirtschaftsdachverband heisst immer noch Economiesuisse. Avenir Suisse ist ein Think-Tank, der selber denkt und andere gescheite Köpfe denken lässt. So zum Beispiel Michael Hermann, der wirklich ein eigenständiger gescheiter Kopf ist, wie sich zum Beispiel in jeder seiner TA-Kolumnen nachlesen lässt. (Regula Stämpfli hat verglichen mit ihm das Reflexionsniveau eines Bakteriums.)

  • INFOsperberIcon200px
    am 26.05.2011 um 10:55 Uhr
    Permalink

    Besten Dank für die Hinweise. Die beiden Fehler sind korrigiert. @Markus: Wenn wir schon bei bissoguet sind: finde beleidigende Betitelungen wie Bakterium (sowie auch Plankton) eher unnötig.

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