Maris_Stella_Wettingensis_20151121

Das 1841 im Rahmen des Kulturkampfes aufgehobene Zisterzienser-Kloster Maris Stella in Wettingen. © Lutz Fischer-Lamprecht / Wikipedia

Schweiz: Als politische Kämpfe noch Tote forderten

Christian Müller /  Eine neue Publikation zum Kulturkampf in der Schweiz im 19. Jahrhundert. Eine lehrreiche, aber auch unterhaltsame Lektüre.

Die Historiker wissen es: Auch die Schweizer Geschichte wird, je nach politischem Umfeld, immer wieder anders geschildert, zumindest unterschiedlich gefärbt. Meistens wird das, was Richtung freie, unabhängige und neutrale Schweiz ging, besonders betont und hervorgehoben, die zahlreichen Verstrickungen in fremde Händel und die Abhängigkeiten von den umliegenden Grossmächten aber werden heruntergespielt. «Man merkt die Absicht, und man ist verstimmt», möchte man mit Goethes «Tasso» dann sagen, wenn man in Schweizer Geschichtsbüchern blättert oder prominenten Politikern an historischen Vorträgen zuhört.

Nun hat der Badener Verlag hier & jetzt, der auch die bereits in fünfter Auflage erschienene Geschichte der Schweiz von Thomas Maissen herausgegeben hat, eine geistreiche Idee umgesetzt: Er hat den sogenannten Kulturkampf in der Schweiz im 19. Jahrhundert von zwei verschiedenen Autoren darstellen lassen und die zwei Texte – Essays genannt – im gleichen Buch herausgegeben. Beide Darstellungen beginnen «vorne», es kommt nur drauf an, wie man das Buch in die Hände nimmt. Die beiden Autoren, beide bewährte Historiker, kommen aus ganz verschiedenen Ecken, Pirmin Meier aus der konservativen, Josef «Jo» Lang aus der progressiven.

Kulturkampf, und wie!

Es geht um die Zeit zwischen etwa 1830 und 1880, also die Zeit, in die – 1848 – die erste und – 1874 – die zweite Bundesverfassung fallen. Es war hierzulande eine Zeit heftigster Konflikte zwischen Städten und Kantonen, zwischen konservativen, ultramontanen (also Vatikan-hörigen) Kreisen und fortschrittlichen, an Öffnung und Industrialisierung interessierten Kreisen. Und es ging nicht nur um hitzige Diskussionen an Versammlungen und in den Zeitungen, es kam auch immer wieder zu Handgreiflichkeiten und auch zu Gefechten – oft mit mehreren Toten!

Wie aber unterscheiden sich die beiden Darstellungen dieses Kulturkampfes? Man hätte, wenn man die beiden Autoren und ihre Aktivitäten kennt, weit grössere Differenzen erwarten können. Im wichtigsten Punkt nämlich sind sie sich einig: Der Kulturkampf war kein Kampf zwischen Katholiken und Protestanten, kein Religionskrieg, es war tatsächlich ein Kampf zwischen unterschiedlichen Ideologien! Auf der einen Seite konservative Katholiken, die sich eine Welt ohne dominante Stellung der katholischen Kirche nicht vorstellen konnten. Auf der anderen Seite ebenfalls Katholiken, wenn auch oft unterstützt von Protestanten, die einen starken, säkularen Staat wollten, in dem die Kirche möglichst wenig Mitspracherecht haben sollte. Besonders interessant dabei war der Aargau, der mit seiner von Augustin Keller 1841 durchgeboxten Klosteraufhebung eine intensive Gegenbewegung auf konservativer Seite heraufbeschwor. Aber auch Solothurn war immer heftig involviert, hatte doch auch dieser Kanton, wie der Aargau, innerhalb der eigenen Grenzen politisch stark auseinander driftende Regionen und kampfbereite – katholische, aber progressive – Reformer. Die grossen Themen waren überall der starke Einfluss der im Bildungsbereich engagierten Jesuiten, 1870 das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit, das zur Abspaltung der Christkatholiken führte, und auch die rechtliche Gleichstellung der Juden, auch dies wieder vor allem ein Aargauer Thema.

Beide Essays, der von Josef Lang wie der von Pirmin Meier, wären ohne den jeweils anderen weniger lesenswert. So aber ist das Buch nicht nur für speziell historisch Interessierte, auch für politisch engagierte Leserinnen und Leser eine Trouvaille. Auf dem Weg zur Confoederatio Helvetica, zur heutigen Schweiz, war der Kulturkampf im 19. Jahrhundert eine eminent wichtige Phase, galt es doch, gewaltige Hindernisse des eifgenössischen Zusammenschlusses zu überwinden.

Der Tipp: mit Lang beginnen!

In seiner äusseren Aufmachung gibt es echt keinen Hinweis, welchen Autor man zuerst lesen sollte. Nach der Lektüre allerdings ist klar: Unbedingt mit Josef Lang beginnen! Der heutige Links-Politiker geht den Kulturkampf systematisch und mehr oder weniger chronologisch an, nach der Lektüre hat man eine Ahnung, wovon die Rede ist. Pirmin Meier – er ist den Leserinnen und Lesern von Infosperber als fleissiger Kommentarschreiber bestens bekannt – bringt sein unendliches Wissen vor allem in der Erzählung von einzelnen Ereignissen ein, er weiss, was wann wo und wie passiert ist, und er erzählt Dutzende von interessanten Geschichten – eine ideale Ergänzung zum Text von Josef Lang, zum Einstieg ins Thema aber weniger geeignet. Josef Langs Essay umfasst 56 Seiten mit 29 Fussnoten. Pirmin Meier begnügt sich mit 48 Seiten, gibt aber Zusatzhinweise in 89 Fussnoten. In der Mitte des Buches geben die beiden Autoren ihre persönlichen Antworten auf Fragen von Bruno Meier, dem Herausgeber des Buches und Verleger von hier & jetzt. Die Grundschrift des Buches ist gross, sehr leicht leserlich, auch für ältere Augen. Der eine Tag, den man zur Lektüre dieses neuen Buches etwa braucht, darf als gute Investition ins historische und politische Verständnis unserer heutigen Welt verbucht werden.

* * * * *

KULTURKAMPF, Die Schweiz des 19. Jahrhunderts im Spiegel von heute. Verlag hier & jetzt, Baden 2016. Preis CHF 39.-


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor ist Historiker, promoviert in den Fächern Allgemeine Geschichte, Schweizer Geschichte und Staatsrecht. In seiner Jugendzeit lebte er zehn Jahre lang im vom Aargau aufgehobenen Zisterzienser-Kloster in Wettingen, wo sein Vater als Seminarlehrer wirkte. Ob der «Genius Loci» des Klosters Maris Stella sich auf seine eigenen Ansichten ausgewirkt hat, ist noch nicht erforscht ... 🙂

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.