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Kairo, Tahrir-Platz: Die Bewegung macht weiterhin Druck © flickr

Der Kampf am Freiheitsplatz geht weiter

Robert Ruoff /  Schüsse auf dem Tahrir-Platz. Hillary Clinton warnt. Und «Lettre International» widmet sich dem «arabischen Frühling».

Die Signale sind mehrdeutig. Die ägyptische Führung räumt am einen Tag mit Schusswaffen rücksichtslos den Tahrir-Platz und nimmt am anderen Tag Hosni Mubarak und seine beiden Söhne für zwei Wochen in Untersuchungshaft.

Fast gleichzeitig erklärt die amerikanische Aussenministerin Hillary Clinton vor der Jahresversammlung des «U.S.-Islamic World Forum», der «arabische Frühling könnte sich als «Trugbild in der Wüste» erweisen, als Fata Morgana. Sie sieht zunehmend Zeichen eines Rückschlags, auch wenn schon einiges erreicht sei. Aber: «Es wird nicht genügen, einfach die Führungsfiguren auszuwechseln.»

Die Völker wollen Freiheit und Unabhängigkeit

Wie eine Bestätigung wirkt da das Manifest des algerischen Schriftstellers Boualem Sansal über «Afrikas Unabhängigkeit. Wo die Lüge wohnt – fünfzig Jahre nach dem Ende des Kolonialismus», Es ist erschienen in der neuen Ausgabe der «Lettre International», die sich ganz ohne falsche Bescheidenheit «Europas Kultur Zeitung» nennt.

Sansal beginnt mit den Worten: «Es sind allein die Völker, die an die Unabhängigkeit glauben, an die Freiheit, an die Freundschaft und andere Regungen, Sie glauben daran, allen Schwierigkeiten zum Trotz, und gehen so weit zu denken, dass sie sie zu Instrumenten der Weltherrschaft umformen könnten, wenn sie die Macht hätten, selbständig darüber zu verfügen.» Und ans Ende des Manifests setzt er die Feststellung: «Die Unabhängigkeit ist universell, oder es gibt sie nicht.» Damit meint er nicht mehr nur Afrika. Damit meint er auch uns, die Menschen im Norden. Im Westen wie im Osten.

Die Nummer 92 der «Lettre International – Europas Kultur Zeitung» widmet sich zum grossen Teil dem «Arabischen Frühling», von Aegyptens «Generation Tahrir» über die «postislamistischen Zeiten» bis nach Tunesien, auch mit einer Fotoserie über den «Preis der Freiheit». Es sind Bilder von Handyfilmen im Internet von den handelnden Personen, Tätern und Opfern. Und ein ausführliches Gespräch mit dem Ägyptologen Jan Assmann zeichnet schliesslich die «Pharaonendämmerung» nach, den kulturgeschichtlichen Hintergrund zur Gegenwart.

Das kommt zur rechten Zeit, da auf dem Tahrir-Platz in Kairo wieder auf Demonstranten geschossen wird, Hunderte verhaftet werden und das Militär damit beginnt, Blogger wegen Kritik an der Armee zu jahrelanger Haft zu verurteilen. Gerade zwei Monate nach dem Sturz von Hosni Mubarak, der die Hoffnung auf mehr Meinungsfreiheit aufblühen liess. Während gleichzeitig im Jemen die Golfstaaten einem «geordneten Übergang» den Weg bahnen, in Jordanien das Regime wackelt, in Bahrein saudische Truppen für «Ordnung» sorgen und Syriens Assad seine Bewaffneten auf Protestierende und Oppositionelle schiessen lässt. Während in Libyen eine «Koalition der Willigen» mit dem UNO-Mandat zum Schutz der Zivilbevölkerung die schlimmsten Massaker gerade noch zu verhindern vermag. Während an Tunesien sich schon kaum jemand mehr erinnert, wo die arabischen Befreiungsversuche mit der Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers begannen. Und Algerien?

«Generation Tahrir»: Das neue Selbstbewusstsein

Aber die handelnden Völker trieben und treiben ihre Befreiung voran, mit wachsendem Selbstbewusstsein und der Hoffnung auf eine wirkliche Freiheit und Unabhängigkeit. Sie haben bereits, so Hillary Clinton, «den Mythos zertrümmert, dass die arabischen Völker nicht unseren Wunsch nach Freiheit, Würde und Lebensmöglichkeiten teilen.»

Die «Generation Tahrir» will sich diesen Wunsch und diese Hoffnung nicht nehmen lassen; sie macht weiter Druck auf die herrschenden Generäle. Der oberste Armeerat reagiert mit Zuckerbrot und Peitsche. Er droht mit dem Einsatz seiner Truppen und «schenkt» doch am 30. März dem Volk eine Übergangsverfassung für die Zeit bis zu den Wahlen, von der niemand ausser ihren Stiftern weiss, wer sie ausgearbeitet hat. Sie kombiniert die acht neuen Artikel, die das Volk in der Abstimmung vom 19. März angenommen hat, mit 55 anderen Bestimmungen aus der alten Verfassung.

Mit diesen autoritären Methoden stösst die Armeeführung auf den Widerstand einer Generation, die im Befreiungskampf ein neues Selbstbewusstsein gewonnen hat, eine «neue Würde», wie die portugiesische Journalistin Alexandra Lucas Coelho schreibt. Sie hat die entscheidende Woche vor Mubaraks Rücktritt mit den Demonstranten auf dem Tahrir-Platz verbracht und erlebt, wie die «Generation Tahrir» allen Spaltungsversuchen widerstanden und eine neue Einheit geschaffen hat: zwischen Christen und Muslimen, Arm und Reich, Gebildeten und Analphabeten, Frauen und Männern. Die Agitatoren von Al Qaida hatten gegen diese neue, gewaltfreie Einheit so wenig eine Chance wie die Schlägertruppen des alten Regimes.

Die Gewalt kommt vom Staatsapparat

Alexandra Ceolho hat gesehen, wie die Social Media und die Geräte der Informationstechnologie – das Handy vor allem – zu Organisationsmitteln und Waffen einer gewaltfreien Bewegung geworden sind. Und wie die Gewalt des Staatsapparates die Opposition radikalisiert hat, die schon seit 2004 (oder früher) begonnen hatte, sich in intellektuellen Bewegungen oder facebook-Gruppen zu organisieren. «Keine Bewegung löste einen solchen Dominoeffekt aus wie die Gruppe «We Are All Khaled Said», benannt nach dem im Juni 2010 von der Polizei zu Tode geprügelten jungen Blogger.» (in: Lettre International, Nr. 92)

So wurde auch der Aufstand in Libyen ausgelöst. Am Anfang waren es genau dieselben zivilen Proteste wie in Tunesien und in Aegypten, hier im Umfeld des Menschenrechtsanwalts Fatih Tabril. Erst die gewalttätige Reaktion des Regimes hat dazu geführt, dass diejenigen, die konnten, anfingen, sich zu bewaffnen.

«Unabhängigkeit» und Unterdrückung

Boualem Sanal, der algerische Schriftsteller, findet in seinem Manifest über «Afrikas Unabhängigkeit» auch dafür die Worte: Die Kolonisierten sind selber die grössten Kolonisatoren geworden, schreibt er, und erinnert an «die örtlichen Söldner, die Harkis, die ‚Senegalesen’, die Hilfstruppen, die Kapos, die Kaids, die Schergen, die Verwalter, die ‚tonton macoutes’, die Staatsoberhäupter auf Lebenszeit.» Es sind die wechselnden Namen aus der Geschichte für die immer gleichen Gestalten. Heute hiessen oder heissen sie in Tunesien Ben Ali, in Ägypten Hosni Mubarak, in Syrien Baschar al-Assad, in Algerien Abdelaziz Bouteflika in Libyen Muammar Gaddafi – die Liste ist lang.
Auch die Organisationen, die einmal für die Unabhängigkeit des Kontinents standen, wie die Organisation der Afrikanischen Einheit OAU, sind zu Einrichtungen der Machterhaltung geworden. Die Afrikanische Union (AU), wie sie heute heisst, hat vor zwei Jahren Muammar Gaddafi zu ihrem Vorsitzenden gewählt. Eine Delegation dieser Organisation sollte den Grossen «König von Afrika» zu einem glaubwürdigen Waffenstillstand bewegen.

Putschisten sollen Frieden bringen

Geleitet wurde die Delegation vom Präsidenten von Mauretanien, der durch einen Militärputsch an die Macht gekommen ist (und später eine Wahl gewann). Mitglieder seiner Delegation sind:
– der Präsident der Republik Kongo, Sassou-Nguesso, auch ein Mann mit Erfahrungen mit Militärputsch und Wahlmanipulation.
– der Präsident Ugandas, Museveni, der sich seit 20 Jahren an der Macht hält, mal mit der Verhaftung eines Konkurrenten, mal mit einer Verfassungsänderung zur Verlängerung der Amtszeit.
– Malis Präsident Amadou Topumani Touré, der ebenfalls eine Vergangenheit als Putschist hat, sich aber Verdienste um die Demokratie und die Pressefreiheit in seinem armen Land erworben hat. Auch Touré konnte nicht verhindern, dass Muammar Gaddafi sich in Mali bei den Touareg Söldner für den Krieg gegen die libyschen Rebellen besorgte. Es war noch eine alte Schuld zu begleichen.
– Schliesslich Südafrikas Staatspräsident Jacob Zuma. Er ist sofort nach dem Treffen mit Oberst Gaddafi «wegen anderweitiger Verpflichtungen» abgereist.

Die Kolonialgeschichte wirkt nach

Uganda ist Mitglied des britischen Commenwealth, Mali, Mauretanien und die Republik Kongo gehören zum ehemaligen französischen Kolonialreichs, das man heute «Franceafrique» nennt. Es sind post-kolonialistische Beziehungssysteme, mit denen Frankreich und Grossbritannien umzugehen wissen.

Und es ist die alte Interessenlage. Mit Führungsfiguren, die vor allem am Machterhalt interessiert und eingebunden sind in die nachkolonialistischen Beziehungsnetze. Man kann sich schwerlich vorstellen, dass aus diesem Geflecht Unabhängigkeit und Freiheit wachsen kann. Der Schriftsteller Sansal bringt es auf einen sarkastischen Punkt: Gesucht sind «bessere Diktatoren, intelligentere, die stark genug sind, ein für allemal Schluss zu machen mit dem Protest, und geschmeidig genug, damit die Leute die Maskerade für den gelungenen demokratischen Übergang halten.»

Das ist bitter und zornig. Das erinnert an eine Generation vorher, an den karibisch-französischen Schriftsteller, Arzt, Revolutionär und zeitweise Botschafter der provisorischen algerischen Regierung: Frantz Fanon. Und an sein Kultbuch «Die Verdammten dieser Erde». Das Buch erschien vor 50 Jahren, 1961, ein Jahr nachdem 17 afrikanische Staaten aus der französischen, britischen und belgischen Kolonialherrschaft in die «Unabhängigkeit» entlassen wurden. Es untersucht die Beziehungen zwischen den Kolonialherren und den Kolonisierten – und kritisiert schon damals in aller Schärfe die Rolle der neuen Regierungen und ihrer Parteien, ihre Kompromisse und Arrangements mit den ehemaligen Kolonialmächten.

Heute steht für solche Arrangements: Die Intervention der Saudis in Bahrain, die französische Fremdenlegion in der Elfenbeinküste, die führende Rolle von Briten und Franzosen bei der Intervention in Libyen. Was noch nicht heisst, dass der Schutz der Zivilbevölkerung in Libyen nicht berechtigt ist – auch falsche Motive können zu richtigen Entscheidungen führen.

Ein «arabisches Zeichen» für die Welt

Der «arabische Frühling» ist, in dieser historischen Perspektive, nicht nur ein Aufstand gegen die herrschenden Despoten und Diktatoren. Der «arabische Frühling» ist auch ein neuer Kampf um die Unabhängigkeit von den alten Herren. Denn die ehemaligen Protektoren und Kolonialherren mit Briten und Franzosen an der Spitze haben nicht nur Palästina aufgeteilt, sie haben auch die Grenzen der arabischen Staaten gezogen, die neue Herren eingesetzt und wieder gestürzt (manchmal sind sie auch gescheitert) und ihre Einflussgebiete definiert. Die junge Generation, die den Aufstand trägt, schafft sich mit ihrem Kampf auch eine neue, eigene Identität. Und setzt wieder einmal ein arabisches Zeichen für die Welt.

Da fährt nicht nur den Herrschern in Russland und China der Schreck in die Glieder, weil sie fürchten, die Jasminrevolutionen könnte ihre eigenen Völker zum Aufstand anregen. So dass sie ihren Oppositionellen die Medien still legen und Künstler wie Ai Weiwei zum Verschwinden bringen.

Die Angst der christlichen Abendländer

Auch die christlichen Abendländer befällt wieder einmal die Angst vor dem Verlust der politischen Kontrolle. Sie hören «Freiheit», «Demokratie», «Menschenrechte» und denken «Muslimbrüder!» und «Al Qaida!!».
Sie sehen Moslems und denken «Fundamentalismus!», den sie sich doch nur in der christlichen Version zunutze machen wollen.
Sie starren auf die Zentren der Macht (Tunis, Kairo, Damaskus) und werden starr vor Staunen, wenn die Revolte von den Rändern, vom Land oder von Randstädten her kommt.
Sie halten mit ihrem Paternalismus die arabischen Völker für unfähig zur Selbstbestimmung und ringen um Worte (geschweige denn um Taten), wenn am südöstlichen Ufer des Mittelmeers die Menschen ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen.
Sie bewundern die spontane Kraft der Volksbewegung und verlangen gleichzeitig nach organisierten Ansprechpartnern, die die Bewegung berechenbar und daher, aus ihrer Sicht, politisch vertrauenswürdig machen.

Sie sehen Moslems und denken «Islamismus!», wo doch die Freiheitsbewegung erst die Voraussetzung schafft, den Islam in einer vielfältig demokratischen Gesellschaft als die einzige Alternative zu relativieren. Manche arabischen Denker sprechen schon von «Postislamismus».

All das und mehr beschreiben und diskutieren Intellektuelle und Künstler mit Blick auf den Mittelmeer-Halbkreis von Algerien bis Iran in «Lettre International» (Nummer 92): Mohammed Bayeb, Asef Bayat, Rachid Boutayeb, Boualem Sansal, Benjamin Stora und andere mehr. Für uns unwissende Menschen aus dem Norden ist die Lektüre unverzichtbar.

«Festung Europa»: nicht zu halten

Es ist ein historischer Prozess. Er wird auch Europa nicht unberührt lassen. Aber das politische Denken im Norden scheint besetzt von der Angst vor der unübersehbaren Zahl derer, die in zerbrechlichen Boten über das Meer kommen. Die Absicherung der «Festung Europa» erscheint als das vordringliche Anliegen einer zunehmend nationalistischen Politik, von Rom über Zürich bis Brüssel und Berlin.

Und während sich die NATO und ihre Verbündeten streiten über das richtige Mass der Unterstützung für die Rebellen, machen sich die Linken und Grünen hochnotpeinliche Gedanken über den (vielleicht doch nicht?) berechtigten Schutz der Zivilbevölkerung vor Massakern in Libyen, Syrien, Jemen…-

Zur offenen, rückhaltlosen, nicht verklausulierten Unterstützung der Freiheitsbewegungen in den arabischen Ländern hat sich noch keine der demokratisch gewählten Regierungen des Nordens bekannt. Vielleicht beschleicht sie im Anblick der Befreiungsbewegungen ein heimliches Unbehagen. Vielleicht treibt die Regierenden heimlich der Gedanke um, der Duft der Jasminblüten könnte auch in Europa verführerisch wirken. Nicht nur in den Vorstädten von Paris, Rom oder London, sondern überall, wo die Menschen mehr Mitbestimmung verlangen bei der Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft. Die Spannungen in der global vernetzten Gesellschaft werden wachsen – umso mehr, je mehr die Menschen in den benachteiligten Vierteln des globalen Dorfs ihre Rechte einfordern.

Im Augenblick reagieren die Völker des Nordens noch wie ihre Regierenden mit dem Reflex der Abwehr. Die «Festung Europa» ist aber auf Dauer mit Mauerbau und Grenzkontrollen nicht zu halten. Der Druck wird nur abnehmen, wenn die Menschen im Süden das Leben in ihrer Heimat als lebenswert erfahren.

Freiheit und Menschenrechte sind universell

Gegenwärtig nimmt in den arabischen Staaten der Kampf mit den Herrschenden noch alle Kräfte der Opposition in Anspruch. Aber die Rebellen in Libyen werden in sehr kurzer Frist nicht mehr die einzigen sein, die nach entschiedener und stärkerer Unterstützung rufen. Und wenn sie in ihrem Kampf scheitern sollten, wie Hillary Clinton in ihrer Rede in New York befürchtete, werden sie fragen, warum Amerika und Europa im Kampf um Freiheit, Würde und Lebenschancen nicht tatkräftiger an ihrer Seite gestanden sind.

Boualem Sansal beendet sein Manifest über «Afrikas Unabhängigkeit» mit einem dramatischen Aufruf an die westlichen Völker zur Solidarität mit Afrika und zum Aufstand gegen ihre Regierungen: »Ein demokratisch gewählter Präsident, der Diktatoren unterstützt, ist des Hochverrats an seinem Volk schuldig und schuldig des Verbrechens gegen die Menschlichkeit in den Diktaturen, die er unterstützt…Die Unabhängigkeit ist universell oder es gibt sie nicht.»

»Lettre International» ist in guten Buchhandlungen und an grösseren Kiosken zu bekommen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

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