Kommentar

Der Spieler: Spielen macht hellhörig und wach

Synes Ernst ©

Synes Ernst. Der Spieler /  Wer spielt, widersetzt sich dem Trend zur Oberflächlichkeit. Man muss sich nämlich intensiv mit anderen Menschen auseinandersetzen.

In ihrer regelmässigen Kolumne in der »Süddeutschen Zeitung« beschrieb die Berliner Philosophin und Publizistin Carolin Emcke unlängst, was sie in einem Solo-Konzert des russischen Pianisten Grigorij Sokolov erlebt hatte. »Was so berührte an diesem Abend, war nicht allein die Musikalität des Pianisten, sondern auch seine konzentrierte Versunkenheit«, schrieb sie und fuhr fort: »Es war fast beschämend, im selben Raum sein zu dürfen, so intim wirkte Sokolovs Auseinandersetzung mit der Musik. Vielleicht war das der Grund, warum es sich wie eine Aufforderung anfühlte, mindestens im Zuhören eine ähnliche Hingabe an den Tag zu legen wie der Künstler.« In diesem Moment sei ihr auch bewusst geworden, wie selten das geworden sei: »Die gemeinsame Konzentration auf jemand anderen. Das stille Zuhören. Ohne Unterbrechung und Ablenkung.«

Damit sprach die auch für ihre Kriegsreportagen bekannte Carolin Emcke ihr Kernthema an, das Zuhören. »Das Zuhören verlangt ein Sich-Einlassen auf das, was zu hören ist, was gespielt oder gesagt wird, und es verlangt, das Gehörte gedanklich mit nachzuvollziehen. … Das Zuhören impliziert die Bereitschaft, sich auf die Gedanken, die Interpretation, die Perspektive eines anderen einzulassen«, heisst es in der SZ-Kolumne weiter.

Sich auf andere Menschen einlassen

Zuhören als eine wichtige, wenn nicht gar die wichtigste Voraussetzung dafür, um sich auf andere Menschen einzulassen – die Botschaft Carolin Emckes hat mich sehr angesprochen. Nicht nur, weil ich in klassischen Konzerten Ähnliches erlebe. Sondern auch, weil die Autorin, die im kommenden Oktober den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhält, etwas thematisiert, das beim Spielen ganz zentral ist – die intensive Auseinandersetzung mit den Menschen, mit denen wir gemeinsam am Tisch sitzen und »Eile mit Weile«, »Risiko«, »Siedler von Catan«, »Carcassonne« oder das eben mit dem Titel »Spiel des Jahres« ausgezeichnete »Codenames« spielen.

Spielen (ich spreche der Einfachheit halber nur vom Zweier- oder Mehrpersonenspiel) ist im Grunde genommen etwas ganz Banales: Man einigt sich darauf, für einen definierten Zeitraum das miteinander zu tun, was in irgendeiner Spielanleitung beschrieben wird. Es sind die Regeln, die ein Spiel konstituieren, und funktionieren kann ein Spiel nur, wenn sich alle, die an diesem Spiel teilnehmen, an das halten, was in den Regeln vorgegeben wird. Beschrieben wird in den Regeln der Ort, wo das Spielgeschehen stattfindet, das uns zur Verfügung stehende Material und wie wir es verwenden können, sowie Spielziel, Spielzeit und die Siegbedingungen.

Spielregeln als Partitur

Auch wenn es viele Menschen gibt, die einen Horror davor haben – Spielregeln müssen sein. Sie sind für uns Spieler was die Partitur für die Musiker: Ausgangspunkt für tolle und eindrückliche Erlebnisse. Dazu müssen sie allerdings interpretiert, oder anders gesagt, im wahrsten Sinn des Wortes mit Leben erfüllt werden.

Beim Spielen begeben wir uns in die eigene Welt mit eigenem Ort und eigener Zeit. Beim Wechsel vom realen Alltag in diese fiktive Welt bleiben wir uns selber. Wir legen unsere Persönlichkeit nicht ab, selbst wenn es uns freisteht, mit Spielbeginn in bestimmte Rollen schlüpfen und auch unbekannte Seiten von uns aufzudecken. Wir behalten jedoch im Grossen und Ganzen unseren Charakter. Es gibt die Schnelldenker, die kurz analysieren und dann rasch entscheiden, aber auch die Grübler und Bedächtigen, die sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Die Zielstrebigen haben nur den Sieg im Kopf. Manche befinden sich dauernd im Angriffs-Modus. Schliesslich kenne ich Spielerinnen und Spieler, die eher auf Ausgleich und Kooperation bedacht sind, denen es fast weh tut, wenn sie die Figur eines Mitspielenden schlagen müssen …

Die Erkenntnis des griechischen Philosophen

Als Spieler stelle ich mich auf meine Mitspielenden und Gegner ein. Ich analysiere ihre Züge, um herauszufinden, weshalb sie die Regeln so und nicht anders interpretieren. Welche Pläne und Absichten sie haben könnten. Ich denke mich in sie hinein, lese ihr Verhalten, höre ihnen zu. Ich setze mich mehr oder weniger direkt mit ihrer Persönlichkeit auseinander. »Beim Spiel kann man einen Menschen in einer Stunde besser kennenlernen, als im Gespräch in einem Jahr«, fasste der griechische Philosoph Platon diese Ur-Erfahrung zusammen.

Das von Carolin Emcke geforderte »Ethos des Zuhörens« wird in jedem Spiel umgesetzt, bei dem die Teilnehmenden ernsthaft bei der Sache sind. Und vielleicht macht Spielen, bei dem man sich mit den unterschiedlichsten Charaktereigenschaften und Denkweisen auseinandersetzt, Menschen wacher und hellhöriger für das, was in ihrer Umgebung abläuft. Das wäre dann so etwas wie die politische Implikation des Zuhörens, wie es Emcke für sich beansprucht.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Als solches nicht an der aktuellen Wahl beteiligt.

Zum Infosperber-Dossier:

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Der Spieler: Alle Beiträge

Spielen macht Spass. Und man lernt so vieles. Ohne Zwang. Einfach so.

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