Kommentar

Sprache: Kommen da Migranten oder Flüchtlinge?

Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Daniel Goldstein /  Al Jazeera sieht übers Mittelmeer keine «migrants» mehr kommen, nur noch «refugees». Ein Grund, das auf Deutsch ebenso zu halten?

Wer sind sie, die sich an Europas Pforten drängen, sei es übers Mittelmeer oder über den Balkan? Sind es Flüchtlinge, die ihre Heimat aus zwingenden Gründen verlassen mussten, oder sind es Migranten, die vielleicht ebenfalls in Not waren, sich aber auch zum Ausharren hätten entscheiden können? Tun wir den Flüchtlingen unrecht, wenn wir sie «nur» Migranten nennen? Und tun wir ihnen gleichermassen unrecht, wenn wir auch jene Menschen Flüchtlinge nennen, die nach dem genannten Kriterium (oder sonst einem) eher Migranten sind?
Man mag es spitzfindig, angesichts der dramatischen, brutalen Geschehnisse und Bilder auch unangemessen finden, sich solche Fragen zu stellen. Aber die Medien, die Tag für Tag darüber berichten müssen, kommen nicht darum herum, sich bei jeder Meldung für (mindestens) ein Wort zu entscheiden – und das, ohne zu wissen, was die Menschen im Einzelfall dazu gebracht hat, sich auf den beschwerlichen und oft gefährlichen Weg zu machen. Und der Wortgebrauch kann dazu beitragen, dass das Publikum mehr oder weniger Verständnis aufbringt für jene, über die berichtet wird.
Al Jazeeras Sprachregelung
Die freundliche Kollegin bei Radio SRF, die mich in dieser Sache anfragte, wollte in erster Linie ein Interview führen, machte sich aber auch Gedanken über den eigenen Sprachgebrauch. Ausgelöst wurde ihr Anruf durch den Entscheid des arabischen Fernsehsenders al-Jazira, in seinem englischen Dienst (Al Jazeera) jene, die übers Mittelmeer kommen, nicht mehr Migranten zu nennen, sondern – «wo es angebracht ist» – Flüchtlinge. Angebracht ist es, so lässt sich aus der Begründung schliessen, vor allem bei jenen, die ihr Leben aufs Spiel setzen. Die Überlegung dahinter scheint zu sein, dass sie es nicht täten, wenn sie nicht auf der Flucht wären, sondern auf «freiwilliger» Wanderschaft, aus welchen Gründen auch immer.
Migration bedeutet ja eine Wanderungsbewegung. Al Jazeera macht auch geltend, auf Englisch werde «migrant» heute abschätzig gebraucht, wie für eine Belästigung; der britische Aussenminister habe von «marodierenden Migranten» geredet. Wer das Wort für die Bootsflüchtlinge brauche, so findet der Sender, leiste dem Rassismus Vorschub. Das sind happige Vorwürfe, und jedenfalls für den deutschen Wortgebrauch wären sie unhaltbar. Im Gegenteil: «Migration» ist gerade deshalb aus der Fachsprache in die allgemeine Verwendung gerückt, weil man ein unbelastetes, neutrales Wort suchte. Aus «ausländischer Abstammung» wurde «Migrationshintergrund»; aus dem zuständigen Bundesamt jenes für Migration, danach gar zum Staatssekretariat erhoben.
Respekt statt Hintergedanken
Allerdings droht heute die gute Absicht verdreht zu werden, indem manche von Migranten reden, um ihnen die Aufnahme als Flüchtlinge a priori zu verwehren. Dem engen Sinn der Uno-Flüchtlingskonvention und damit auch des Asylrechts entsprechen wohl lange nicht alle, aber genau um das abzuklären, gibt es das Asylverfahren. Und danach gibt es als Zwischenlösung auch die vorläufige Aufnahme. Wer «Migranten» als Sammelbegriff für Ankömmlinge verwendet, unbesehen der Umstände und Motive, kann dafür ehrenwerte Gründe haben, und sei es nur die gebotene Kürze in Nachrichten. Dennoch muss aus dem Zusammenhang klar werden, dass die Notlage der Betroffenen mit dem Begriff nicht kleingeredet wird und dass alle das Recht auf humane Behandlung haben.
Wer in einer Art politischer Korrektheit nur noch von Flüchtlingen redet, zeigt zwar Anteilnahme und wirkt damit vielleicht als Vorbild – ändert aber kaum etwas daran, dass auf Dauer nicht alle werden bleiben dürfen. Weit wichtiger als die Wortwahl ist es, respektvoll über die Betroffenen zu reden und damit ein wenig dazu beizutragen, dass wir auch respektvoll mit ihnen umgehen.
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlust»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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