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Original-Sylter-XXL-Sonnenkörbe auf den «idyllischen Stazersee-Wiesen» © Jürgmeier

Ein Tag im Original-Sylter-XXL-Sonnenkorb: 70 Fr.

Jürgmeier /  Wenn (Medien-)Welten bedrohlicher zu werden scheinen, versprechen Ferien in den Bergen Gemütlichkeit. Engadiner Tagebuch 2.

25. Juli 2016

Der Montag beginnt mit einer guten Nachricht aus dem Unterland. Madame Etoile hat fertig. Nach 25 Jahren ist Schluss mit dem wöchentlichen Mix aus astrologischen Textbausteinen. Jetzt können sich die Hörer*innen von SRF 3 wieder ohne esoterisches Geländer verlieben, bewerben und zoffen, wie immer MerkurVenusMars auch zueinander stehen. S. und ich haben unsere Zukunft nie auf Sternzeichen oder Kaffeesatz gebaut. Gefunden & erkannt, gestritten & versöhnt haben wir uns trotzdem. Immer wieder. Häufig kommt es in den Alpen & Voralpen bei (oder nach übersehenen) Abzweigungen zu Diskussionen der heftigeren Art. Während S. sich mittels Karte vergewissern will, dass wir auf dem richtigen (oder falschen) Weg sind, vertraue ich darauf, dass wir unser Ziel erreichen werden. Irgendwie. Vielleicht auf überraschenden Umwegen. Früher oder später. Womöglich über Geröllhalden & Bäche.

Aber heute fahren wir mit unseren Bikes einträchtig hintereinander Richtung Stazersee. Den Geruch frisch geschlagenen Holzes in der Nase. Warum werden im Deutschen Kinder, Frauen, sportliche Rival*innen, Oppositionelle und Holz allesamt mit dem gleichen Wort geschlagen? Während wir die nicht einmal hundert Höhenmeter – welche die richtigen Biker*innen höchstens zum Ein- oder Ausfahren in ihr Tagesprogramm aufnehmen würden – hochfahren, mustern wir die Räder derer, die uns, scheinbar ohne Anstrengung, überholen, mit verstohlenem Blick. Regelmässig können wir uns schwitzend beruhigen: Modische E-Biker*innen, die tricksen. Wie die Everestbesteiger*innen, die sich mit Sauerstoffmasken von Sherpas, die ihr Gepäck tragen, auf den höchsten Gipfel der von Menschen vermessenen Erde ziehen lassen.

Totenabbitte & Jürg Frischknecht

Oben angekommen registrieren wir stolz – nie angehalten. Besser als vor zwei Jahren. Als ob uns das Altern verschonte, was es natürlich nicht tut. Das Unausweichliche kündigt sich immer mal wieder an, vorerst noch diskret. «Wenn wir nicht mehr Ski fahren können», nimmt S. die absehbare Zukunft mit dem fortschreitenden Verlust von Möglichkeiten voraus, «machen wir auch im Winter Ferien im Engadin.» Auf gemütlichen Winterwanderwegen & Sonnenterrassen. Wenn wir dann noch leben. Die Endlichkeit des Seins ist einem sicherer als die Leichtigkeit. Daran werde ich in diesem Jahr so stark erinnert wie schon lange nicht mehr. In jungen Jahren stand ich mehrmals & hilflos vor dem Grab eines (befreundeten) Menschen meiner eigenen Generation. Nach kurzem Hadern entschied ich mich jedes Mal für das Leben. Als ob nichts geschehen wäre. «Verzeiht, // dass wir // euch verliessen, // den letzten Gang // alleine gehen liessen, // dass wir // uns losrissen // von dem Tau, // das uns verband, // vor eurer Fahrt // über den grossen Jordan.» Schrieb ich unter dem Titel «Totenabbitte».

In den Jahrzehnten, die folgten, wurden die Toten älter, mit wenigen Ausnahmen deutlich älter als ich. Der Tod rückte, für mich, in weite Ferne und erschien «natürlicher». Bis ich beim Aussteigen zu registrieren begann, dass die grosse Mehrheit der in die S-Bahn Drängelnden jünger geworden waren als ich. Ich war, was ich natürlich wusste, alt geworden. Und dann, kurz vor den Ferien, der Tod von Jürg Frischknecht, der, vorläufig, letzte in diesem Jahr von jenen, die ich ein- oder mehrmals getroffen oder die mich, als öffentliche Figuren, ohne dass sie es wussten, durch mein Leben begleitet haben. Einige von ihnen noch deutlich älter, andere in meinem Alter oder gar jünger.

Unheimliche Patrioten

Jürg Frischknecht schickte mir, damals, was sie über mich in den Säcken, die sie aus dem Archiv von Ernst Cincera entwendet, gefunden hatten. Und verschaffte mir so die Möglichkeit, zwei Politiker der Gemeinde – in der ich aufgewachsen, zur Schule gegangen, als Jugendhausleiter gearbeitet und Politik gemacht hatte – öffentlich und im Namen der Sozialdemokratischen Partei Adliswils aufzufordern, mir zu zeigen, welche Unterlagen ihnen der Subversivenjäger über mich zugespielt hatte. Einer von ihnen reagierte, und während er sich in einer anderen Ecke seines Wohnzimmers an SpeckKäseBrot gütlich tat, blätterte ich das Mäppchen durch, das er von dem Mann erhalten hatte, der bei seinen öffentlichen Vorträgen die sowjetische Unterwanderung sämtlicher halbwegs oppositioneller Gruppierungen & Grüppchen per Hellraumprojektor an weisse Saalwände malte. Alles von mir geschriebene & publizierte Artikel. «Das hätten Sie auch direkt von mir haben können», grinste ich und verabschiedete mich an irgendeinem Abend im Kalten Krieg von einem etwas verlegenen Sihltaler Stadtrat.

Mindestens einmal trafen Jürg Frischknecht und ich uns persönlich. Bei einem Gespräch über Rechtsextremismus. Vermutlich hielt der Mit-Autor des Standardwerks über die «unheimlichen Patrioten» – von denen einige später als SVP-Politiker «salonfähig» wurden – meine Überlegungen für naiv. Im Gegensatz zu ihm – der die Akteur*innen der damals noch nicht so genannten rechtskonservativen Bewegung mit Namen & Netzwerk publik machte – versuchte ich zu verstehen und öffentlich darüber nachzudenken, was die Propagandist*innen der einfachen & unheimlichen Lösungen so attraktiv machte und noch immer macht. In den letzten Jahrzehnten habe ich den Journalisten Frischknecht – der einem auf Anfrage immer grosszügig mit Material aus seinem Archiv unterstützte – nur noch selten wahrgenommen. Die eine oder andere Wanderung in einem der Bücher nachgeschlagen, die er mit seiner Partnerin geschrieben und denen mit dem Begriff «Wanderführer» Unrecht getan würde. Die Berge waren ihm, vermute ich, weniger unheimlich als die Patriot*innen. Darin wären wir uns, hätten wir uns irgendwann hier im Engadin getroffen, sicher einig gewesen. Jetzt ist, auch, Jürg Frischknecht tot. Gestorben im 69. Jahr.

In diesen Tagen in den Todesanzeigen gelesen – ein 89-Jähriger ist «überraschend», ein 78-Jähriger «völlig unerwartet» gestorben. Wie viele Lebensjahre halten wir für einklagbar? Bei wem genau?

90 Franken für einen Tag im Sonnenkorb, Grundbedarf für Sozialhilfeempfänger*innen 33 Franken im Tag

Obwohl wir in den Ferien nicht sparen (müssen), «boykottieren» wir das Restaurant am Stazerse, das sich den frischen Fisch (aus dem Lej da Staz?!) von Bianchi per Auto mit Spezialbewilligung liefern lässt. Ich weiss, das ist böse & geschäftsschädigend, aber wer Original-Sylter-XXL-Sonnenkörbe auf die «idyllischen Stazersee-Wiesen» stellt, damit Tourist*innen «bei schönem Wetter» für 50 Franken von 08.00 bis 11.45 Uhr, von 12.00 bis 17.00h für 70 Franken «die Seele baumeln» lassen können, kann nicht sensibel sein.

Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS empfiehlt als Grundbedarf für Sozialhilfeempfänger*innen 986 Franken im Monat. Ohne Wohnungsmiete und medizinische Grundversorgung. Das sind 33 Franken im Tag (*). Das ist einigen zu viel. «Soziale Hängematte», schreien sie. Ein ganzer Tag im Original-Sylter-Sonnenkorb kostet 90 Franken. Inklusive «0.5 L Allegra oder Passugger pro Person, Etagère süss oder salzig.» Das exklusive Lej-da-Staz-Strandtuch, das auch als Kuscheldecke verwendet werden kann, und die täglich frisch bezogenen Kissen werden allerdings nur ausgeliehen. Freie Sicht aufs Meer gibt’s auch beim Abend Special, ab 17.30h, für fünfzig Franken nicht. Und Schwimmen im Stazersee ist gratis. Für alle.

(*) Der von der SKOS empfohlene Grundbedarf umfasst «Nahrungsmittel, Getränke, Tabakwaren, Bekleidung, Schuhe, Energieverbrauch (Elektrizität, Gas etc.) ohne Wohnnebenkosten, laufende Haushaltsführung (Reinigung/Instandhaltung von Kleidern und Wohnung) inkl. Kehrichtgebühren, kleine Haushaltsgegenstände, Gesundheitspflege ohne Selbstbehalte und Franchisen (z.B. selbst bezahlte Medikamente), Verkehrsauslagen, inkl. Halbtaxabo (öffentlicher Nahverkehr, Unterhalt Velo/Mofa), Nachrichtenübermittlung (z.B. Telefon, Post), Unterhaltung und Bildung (z.B. Konzession Radio/TV, Sport, Spielsachen, Zeitungen, Bücher, Schulkosten, Kino, Haustierhaltung), Körperpflege (z.B. Coiffeur, Toilettenartikel), persönliche Ausstattung (z.B. Schreibmaterial), auswärts eingenommene Getränke, Übriges (z.B. Vereinsbeiträge, kleine Geschenke)».


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Infosperber-Redaktor Jürgmeier macht Ferien im Engadin und notiert, was er da von Welten mitbekommt.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Jrgmeier_200

Jürgmeiers Fällander Tagebuch

Im Tagebuch spiegeln sich das Private und das Öffentliche, wird das Subjekt schreibend Teil der Welt.

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