Kommentar

Sprachlust: Das Privileg des Totschlags

Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Daniel Goldstein /  Um Juristenworte richtig zu verstehen, braucht es oft Juristenohren: von unvermuteten Vermutungen und unverdienten Privilegien.

Wer in einem Zeitungsbericht liest, für einen Verhafteten oder eine Angeklagte gelte die Unschuldsvermutung, weiss vermutlich, was gemeint ist: Nämlich nicht das, was das Wort vermuten lässt, wenn man es ohne Vorkenntnisse vorgesetzt bekommt. Beim Wort genommen, müsste «Unschuldsvermutung» ja bedeuten, dass jemand – die zuständige Behörde oder der Berichterstatter – vermutet, die betroffene Person sei unschuldig. Aber dann gäbe es kaum einen Grund, sie der Justiz zuzuführen bzw. darüber zu berichten, was ihr zur Last gelegt wird.
Oft sind solche Berichte recht drastisch und ausführlich, und irgendwo steht noch das Sätzchen mit der Unschuldsvermutung – wahrscheinlich auf Anraten der Rechtsabteilung des Verlags, damit man der Zeitung nicht vorwerfen kann, sie habe den mutmasslichen Täter vorverurteilt. Denn die Mutmassung oder eben Vermutung auch der Leserschaft geht in der Regel dahin, dass «er es war». Aber in der Juristensprache gilt die Unschuldsvermutung in einem ganz bestimmten Sinn, der im englischen Ausdruck präziser gefasst ist: «innocent until proven guilty». Oder deutsch und andersherum gesagt: Schuldig ist nur, wem man das (rechtskräftig) nachgewiesen hat.
Kein Fall für Bond
In der Rechtsprechung, in der es um ganze Schicksale gehen kann, ist präzise Sprache besonders wichtig. Das bringt es mit sich, dass Fachausdrücke verwendet werden, die für Laien nicht ohne Weiteres verständlich sind oder sie gar auf eine falsche Fährte führen. Wer vom «Privileg des Totschlags» hört, könnte an den Kinohelden James Bond und seine berühmt-berüchtigte «Licence to kill» denken – an die Ermächtigung, zu töten, die einem der Filme den Titel gab.
Aber das kann ja nicht gemeint sein, wenn ein Gerichtspräsident so zitiert wird: «Das Privileg des Totschlags kommt dann zur Anwendung, wenn die Tat unter einer entschuldbaren heftigen Gemütsregung geschieht.» Aus dem Zusammenhang des Prozessberichts wurde klar, was es mit diesem Privileg auf sich hat: Für das Gericht war zwar der (strenger zu ahndende) «Tatbestand der vorsätzlichen Tötung vollumfänglich erfüllt», als ein Hanfbauer einen flüchtenden mutmasslichen Dieb erschossen hatte. Aber es hielt ihm die genannte Gemütsregung zugute, und damit gehörte er unter den Urhebern einer «materiellen» vorsätzlichen Tötung zu jenen Privilegierten, die nur wegen Totschlags verurteilt werden.
Privilegien für alle!
Das «privilegium» ist nach dem lateinischen Wortsinn entweder ein Gesetz, das nicht für alle gilt, oder eben das Vorrecht, das ein solches Gesetz bestimmten Personen gewährt. Genau so verwenden die Juristen das Wort; zum Totschlag präzisiert das Strafgesetzbuch noch, die heftige Gemütsregung müsse «nach den Umständen entschuldbar» gewesen sein. Festzulegen, was das nun wieder bedeutet, ist Aufgabe der Rechtsprechung, dank der das fragliche Privileg mit der Zeit immer fester umrissen wird.
Im allgemeinen Sprachgebrauch freilich hat ein Privileg nicht unbedingt etwas mit dem Gesetz zu tun; in den meisten Fällen wohl nicht. Man kann sich privilegiert fühlen, in der Schweiz geboren worden zu sein, eine harmonische Familie zu haben, einen erfüllenden Beruf auszuüben oder vieles andere mehr – kurzum, wenn es einem besser geht als andern. Und diese andern sind dann «unterprivilegiert» – ein aus dem Englischen übernommener Euphemismus für arm, benachteiligt. Nach dem Wortsinn gälte die Bezeichnung jemandem, der mit weniger als dem gebührenden Mass an Vorrechten ausgestattet ist. Man ahnt Juristenfutter – aber zum Glück ist «unterprivilegiert» kein rechtlicher Begriff.
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlust»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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Eine Meinung zu

  • am 9.02.2013 um 18:43 Uhr
    Permalink

    Man darf löschen, sollte diese Meinungsäusserung unpassend sein. Vielleicht wirkt dieses mir spontan aufgestossene Beispiel zum Thema: „Unschuldsvermutung» hier zu sehr wie ein „Knallfrosch“ …?

    „Unschuldsvermutung» wäre aber auch hier in verschiedener Hinsicht ein Diskussions-Thema, wenn durch alle Kontrollinstanzen des Bundes der Titel einer Initiative gehen konnte, der in nächster Zeit und bis zur Volksabstimmung noch einige Male in den Medien zu lesen und zu hören sein wird.

    Wohlverstanden: es ist einzig der Titel der Initiative den ich an dieser Stelle anführen möchte!

    Die fragliche Initiative heisst: „Pädophile sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen“. – Punkt.-

    Im Text dazu wird dann schon erklärt, was genau gemeint ist.

    Was aber geschähe, würden offiziell anderen Minderheiten oder Ethnien durch ein solches „Schlagwort“ pauschal als eine potentielle Gefahr gebrandmarkt?
    Z.B. „ Lesben sollen nicht mehr … dürfen“, oder Juden sollen nicht mehr … dürfen, usw.usw.

    Ich habe es kompetent abklären lassen: Juristisch kann dagegen nichts eingewendet werden, weil eine Erklärung folgt, wer genau gemeint ist.
    Darf man also wirklich eine Minderheit so pauschal als eine potentielle Gefahr für Kinder verdächtigen? Man darf! Erst recht nach Volksmeinung, weil es ja um Kinderschutz geht! „Pädophile“ werden aber erst als solche „entlarvt“, wenn sie in „Verdacht“ geraten. Ein solcher kann aber schon unabsehbar vernichtende Folgen haben. Unschuldsvermutungs-Fristen gibt es da keine. Aber das ist ein noch hinterfragwürdigeres Kapitel.

    Ist es echtem Kinderschutz dienlich, wenn „Pädophile“ mit einem unbedachten Initiativtitel pauschal diskreditiert, ja vorsorglich kriminalisiert und dadurch noch mehr in den Untergrund verdrängt werden? Wer liest denn schon genauer, dass nur straffällig gewordene gemeint sind! Nach meiner Meinung verstösst dieser Text genau gegen das Recht auf Unschuldsvermutung, bzw. Menschenwürde, wenn zu schnell der Eindruck entstehen könnte es seien alle Pädophilen gemeint, die von Kindern fern gehalten werden sollen. Ich erachte es als kontraproduktiv und gefährlich, wenn als „potentielle Täter“ Geltende sich noch mehr verstecken müssen und sich peinlichst hüten werden, je irgendwo offen über sich selbst und ihre Probleme zu sprechen!

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