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Pho vom Feinsten: Reisnudeln mit Rindfleisch aus der Küche von Frau Lam © Peter Achten

Nudelsuppe zum Frühstück

Peter G. Achten /  Ein Highlight der vietnamesischen Küche ist die Nudelsuppe Pho. Besonders gut schmeckt sie in Hanoi, wenn Frau Lam am Herd steht.

Wer je in der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi war, weiss, was Pho ist und bedeutet. Es ist ein traditionelles Reisnudelgericht, das zum Frühstück verzehrt wird. Ohne Pho ist für jede Vietnamesin und jeden Vietnamesen in Hanoi und in Nordvietnam ein Tageswerk, ja das Leben schlechthin, nicht vorstellbar. Bei jeder Rückkehr Ihres Asien-Korrespondenten nach Hanoi, wo er drei wundervolle Jahre verbracht hat, bekommt er unbändige Lust auf eine himmlisch duftende Schale Pho. Dabei war es keineswegs eine kulinarische Liebe auf den ersten Blick.
Kulinarischer Einfluss der Franzosen
Das Frühstück, sagt man, präge die Essgewohnheiten fürs Leben. Da ist ein Europäer in Vietnam gut dran. Denn französisches Weissbrot hat sich aus der Kolonialzeit nahtlos hinübergerettet in die Sozialistische Republik Vietnam. Baguettes werden täglich frisch gebacken, und Strassenverkäufer bieten Baguette-Sandwiches als preiswerte Mahlzeit in allen Varianten an – zum Beispiel Banh Pate, Baguette mit Pâté.
In Hanoi eine frische Baguette zum Frühstück, das ist für den Europäer Courant normal. So war es auch an der Tran-Quoc-Toan-Strasse im Zentrum von Hanoi, wo Ihr Korrespondent in einer kleinen französischen Kolonialvilla lebte. Geweckt wurde er jeden Morgen pünktlich um sechs Uhr. Ein Lautsprecher am Strassenrand direkt vor dem Haus verbreitete in ohrenbetäubender Lautstärke die neuesten Nachrichten aus dem Quartier, den Provinzen, der Nation. Dazwischen patriotische Musik. Das ist übrigens auch heute im digitalen Zeitalter noch so, wo auf 95 Millionen Einwohner 135 Millionen Mobiltelefone kommen.
Die Bekehrung eines Europäers
Auf dem Markt entlang der Strasse von Tran Quoc Toan boten Bauern aus der Umgebung jeden Morgen ihre Waren an – Gemüse, Reis, Fleisch, glückliche Hühner und wohl weniger glückliche Fische. Bio und Fair Trade pur, sozusagen. Dazwischen balancierten Frauen auf ihren Köpfen Körbe voller frischer, knuspriger Baguettes. So ging das ein Jahr lang mit dem Baguette-Frühstück. Eines Tages allerdings wollte der europäische Journalist herausfinden, was am kleinen Restaurant gleich um die Ecke am frühen Morgen so anziehend war, denn davor bildeten sich stets lange Warteschlangen. Bald wusste ich warum. Frau Nguyen Sen Lam bereitete in aller Ruhe und bedächtig ihre Reisnudelgerichte zu. Jung und Alt warteten geduldig, bis ihre Schale mit Pho Bo (Reisnudeln mit Rind) oder Pho Gai (mit Hühnerfleisch) zubereitet war. Fortan gehörte jeden Morgen auch Ihr Korrespondent zu Frau Lams Kunden.
Bei Frau Lam schmeckt’s am besten
Das Zubereiten von Pho ist eine Kunst. Und mit grossem Abstand das beste gibt es in Hanoi. In Da Nang oder Saigon (Ho-Chi-Minh-Stadt) und erst recht in Paris oder New York ist Pho nur ein müder Abklatsch des Originals. Das Rezept scheint einfach. Die Brühe wird mit Rindsknochen mit mehr oder weniger Fleisch stundenlang geköchelt. Die Mischung und Dosierung der Beigaben und Gewürze machen den grossen Unterschied aus: Lauch, Zwiebeln, Knoblauch, Karotten, weisser Pfeffer, Chili, Ingwer, Zimt, Anis, Koriander, Minze, Limetten und vieles mehr. Ganz am Schluss wird die heisse Brühe – wir sind schliesslich in Vietnam – mit etwas Fischsauce abgeschmeckt. Danach kommen feine Scheibchen geschnittenes Rind- oder Hühnerfleisch in die Brühe, und zum Schluss werden dünnste Reisnudeln, à la minute sozusagen, darin gegart.
So köstlich wie bei Frau Lam in der Tran Quoc Toan hat mir das Gericht an keinem andern Ort der Welt geschmeckt. Sogar in Hanoi nicht. Noch immer rührt Frau Lam ihren Pho an. Am gleichen Ort. Der Preis für eine Schale Pho hat sich in den letzten zwanzig Jahren von 15‘000-20‘000 Dong auf 30‘000 bis 40‘000 Dong (umgerechnet Fr. 1.40 bis 1.80) verdoppelt, und das bei viel höherer Inflation. Die Warteschlangen früh morgens sind deswegen nicht kleiner geworden. Und Ihr Korrespondent wird von Frau Lam jedes Jahr wie ein alter Bekannter begrüsst, wenn er nach Hanoi zurückkehrt.
Geschichten und Geschichte
Wer das vietnamesische Nudelgericht erfunden hat, ist nicht eindeutig geklärt. Zwei Dörfer in der Provinz Nam Dinh unweit von Hanoi – Van Cu und Dao Cu – beanspruchen die Urheberschaft für das Rezept. Schon lange vor der französischen Kolonialzeit (1858-1954) habe man dort das Nudelgericht gegessen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts boten in Hanoi Strassenverkäufer mit mobilen Küchen – eine Tragestange aus Bambus mit einem kleinen Holzherd am einen Ende, Nudeln, Fleisch und Zutaten am andern Ende – Pho an. Die ersten Strassenrestaurants sollen Anfang des 20. Jahrhunderts in Hanoi entstanden sein. Nach dem Ende der französischen Kolonialzeit 1954 kannte man Pho in ganz Vietnam in verschiedenen lokalen Varianten. In Saigon assen im Januar 1968 amerikanische Soldaten im bekannten Pho-Restaurant «Pho Binh» köstlich duftenden Pho, während in der oberen Etage des Hauses Vietkong-Partisanen bei ebenso köstlich duftendem Pho die Tet-Offensive gegen die amerikanischen Imperialisten planten.
Nach dem Vietnamkrieg – den die Vietnamesen den amerikanischen Krieg nennen – wurden 1976 die Pho-Restaurants verstaatlicht und die Strassenverkäufer als «Kapitalisten» geächtet. In jener Zeit waren Nahrungsmittel knapp. Die Pho-Nudeln mussten aus altem, schlechtem Reis oder gar aus Kartoffelmehl hergestellt werden. Während dieser schwierigen Zeit gab es in den Restaurants eine fleischlose Pho-Variante mit dem Namen «Pho Khong Nguoi Lai», was so viel heisst wie «Pho ohne Pilot» – eine Anspielung auf die unbemannten Aufklärungsdrohnen der Amerikaner während des Kriegs. Als Anfang der 1980er-Jahre über eine Million Bootsflüchtlinge aus Vietnam flohen, machten sie ihr Nationalgericht in der ganzen Welt bekannt. 1986 begann die vietnamesische Wirtschaftsreform und Öffnung nach Aussen «Doi Moi». Die Pho-Restaurants wurden privatisiert, die «kapitalistischen» Strassenverkäufer waren wieder willkommen. Herrlich duftete die Nudelsuppe erneut jeden Morgen aus Hunderttausenden von Schalen durch die Gassen der Altstadt.
Verwandt mit Pot-au-feu?
Zur Herkunft des Namens Pho gibt es verschiedene Theorien. Die Franzosen behaupten, das Wort leite sich aus ihrer Sprache ab. Die Vietnamesen und Vietnamesinnen, so die französische Erklärung, assen im 19. Jahrhundert vor allem Hühner- und Schweinefleisch, während die Franzosen Rindfleisch bevorzugten. Auch in Indochina bereiteten die ersten französischen Kolonialisten ihren traditionellen Pot-au-feu zu. Daraus wurde schliesslich Pho. Eine ganz andere und wahrscheinlichere Erklärung: Chinesische Immigranten aus der Provinz Kanton brachten das Reisnudelgericht im 19. Jahrhundert nach Nordvietnam und Hanoi. Das kantonesische Wort für Kuhfleisch-Nudeln klang ähnlich wie Pho.
Wo der Ursprung des Wortes und des Gerichtes auch liegen mag, das ist einerlei. Gewiss ist jedoch: Pho aus Hanoi und besonders aus der Küche von Frau Lam in der Tran Quoc-Toan-Strasse ist das köstlichste Reisnudelgericht der Welt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Peter Achten arbeitet seit Jahrzehnten als Journalist in China.

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