Kommentar

Der Spieler: »Landeplätze für das Neue«

Synes Ernst ©

Synes Ernst. Der Spieler /  Die Ökonomisierung und Funktionalisierung des Lebens schränkt unsere Freiräume immer mehr ein. Ein Plädoyer zur Rettung des Spiels.

In den nächsten Wochen werden wiederum Massen von Menschen in Messehallen strömen, um mit Gleichgesinnten neue Spiele kennen zu lernen und zu spielen – rund 50 000 an der »Suisse Toy« in Bern und mehr als 150 000 an der »Spiel 16« in Essen. Auf den ersten Blick lässt sich daraus schliessen, dass man sich um das Gesellschaftsspiel keine Sorgen machen muss.

Oder doch? Denn ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, wo die Spielwelt der »Spiel 16« entgegen fiebert, einem »Mega-Ereignis« (so der Veranstalter) mit je über 1000 Neuerscheinungen und Ausstellenden, veröffentlicht der Hirnforscher Gerald Hüther zusammen mit dem Philosophen Christoph Quarch das Buch »Rettet das Spiel!« Der Titel ist eine Provokation, weil er impliziert, dass es um das Spielen doch nicht so gut bestellt ist, wie die Rekordzahlen vorgeben.

Eine subversive Kraft

Sorge bereitet den beiden Autoren, dass die zunehmende Ökonomisierung und Funktionalisierung des Lebens die Freiräume immer mehr einschränkt, die der Mensch für seine Entwicklung benötigt. Solche Freiräume bietet das Spiel. Im einleitenden Kapitel heisst es dazu: »Wer spielt, konsumiert nicht. Wer spielt, benutzt nicht. Wer spielt, begegnet dem anderen als einem Gegenüber auf Augenhöhe. Deshalb ist das Spiel in einer von der instrumentellen Vernunft des Ökonomismus beherrschten Welt eine subversive Kraft. Spiele öffnen Räume für Kreativität, genauer: für Kokreativität, denn Möglichkeiten werden da am besten erprobt und Potenziale da am besten entfaltet, wo Menschen miteinander spielen. Gemeinsames Spielen ermöglicht Entwicklung und Innovation.«

Wie Gerald Hüther diese Woche in einem ZDF-Interview sagte, sind Spiele für ihn »Möglichkeitsräume«. Die entsprechende Passage aus dem »Rettet das Spiel«-Vorwort lautet: »Wenn wir zu spielen aufhören, hören wir auf, das Leben in all seinen Möglichkeiten zu erkunden, und damit verspielen wir die Potenziale, die in uns stecken. Wer dem Leben nicht spielerisch begegnet, den erstickt es mit seinem Ernst. Das Leben ist kein Spiel, aber wenn wir nicht mehr spielen können, dann können wir auch nicht mehr leben.«

Lange darauf gewartet

Ein befreundeter Spielautor, dem ich voller Begeisterung über Hüthers Buch erzählte, reagierte spontan: »Vielleicht ist ›Rettet das Spiel!‹ das Werk, auf das wir schon lange warten.« Das könnte es sein, tatsächlich. Denn eine fundamentale Auseinandersetzung mit dem Thema Spiel und Spielen fehlt seit Jahren. Darüber vermag auch eine boomende Spielpublizistik nicht hinwegzutäuschen. Vor allem nicht, weil die Mehrzahl der Schreibenden schachtelblind ist: Sie sind derart auf einzelne Titel fixiert, dass sie die Grundfrage, worum es beim Spielen letztlich geht, nicht oder höchstens ganz selten stellen.

Grundfragen stellen

Und genau diese Grundfragen müssen wir uns wie Hüther und Quarch immer wieder stellen und beantworten, weil ja nicht das Gesellschaftsspiel als solches gefährdet ist. Dieses nimmt mittlerweile eine Stellung ein (siehe die jährlichen Rekordzahlen), welche die interessierte Kultur- und Unterhaltungsindustrie sicher nicht kampflos preisgeben wird. Es wird sich zwar verändern und an die gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen anpassen müssen, aber das Gesellschaftsspiel wird es noch lange geben.

Doch darum geht es nicht. Vielmehr geht es um die Freiräume in unserer Gesellschaft, die Orte, an denen wir Menschen unsere Kreativität ausleben, Ungewohntes denken und Neues wagen können. Sie sind gefährdet, weil in unserer Gesellschaft alles (oder doch fast alles) einen Nutzen haben oder einen Zweck erfüllen muss. Warum braucht eine Gemeinde eine Bibliothek oder eine Ludothek? Lohnen sich Millioneninvestitionen in eine Forschung, von der man nicht weiss, ob ihre Ergebnisse je etwas bringen? Wäre es mit Blick auf den Nutzen im Wirtschaftsleben nicht sinnvoller, in den Schulen Englisch statt Französisch zu fördern? Gerade in Zeiten des globalen Wettbewerbs mit seinem massiven Kostendruck ist es nicht leicht, für mehr Freiräume zu argumentieren. »Rettet das Spiel!« liefert uns nun die Argumente, mit denen wir für die Erhaltung und Ausweitung der Frei- und Möglichkeitsräume kämpfen können. Und warum es nötig ist, dafür zu kämpfen.

Modellierte Ideen

»Spielplätze sind Landeplätze, auf denen das Neue in die Welt kommen kann.« Dieser Satz aus dem Einleitungskapitel von »Rettet das Spiel« gefällt mir besonders. Man muss sich diese »Landeplätze« plastisch vorstellen, wie wir es unlängst in meiner Gemeinde Ostermundigen erlebt haben. Im Rahmen eines Projekts zur Neuorientierung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit haben rund 40 Jugendliche und Erwachsene einen Vormittag lang Ideen gesammelt. Wir taten das nicht in Form einer Diskussion oder eines Brainstormings, sondern mit Hilfe des »Stadtspielers«. In Fünfergruppen sassen wir je um einen fiktiven Stadtplan herum und modellierten unsere Ideen mit Knete. Mit der Zeit standen auf den Stadtplänen Generationenhäuser, Jugend-Cafés, Freizeitparks, Seen, sogar ein Meer war zu finden. Alle Teilnehmenden erzählten anschliessend, wie das gemeinsame Spielen und vor allem das fast meditativ wirkende Kneten ihre Phantasie beflügelt hätte. In der Tat kamen so im Verlauf von zwei Stunden rund 30 neue, teils überraschende und verrückte Ideen zusammen, die nun ausgewertet und priorisiert werden. Sie werden die Basis für den Bericht an den Gemeinderat bilden, der dieses Projekt in Auftrag gegeben hat.

Als Projektverantwortlicher habe ich mich erstens für das spielerische Brainstorming oder Ideensammeln entschieden, weil ich schon in anderen Gruppen, zum Beispiel mit Teams in Unternehmungen, erfahren hatte, wie motivierend das gemeinsame Spielen ist. Oder wie schnell die befreienden und kreativen Potenziale des Spiels ihre Wirkung entfalten, wie schnell man bereit ist, im Spiel Neues auszuprobieren und zu wagen. Und zweitens habe ich mich für »Stadtspieler« entschieden, weil hier alle Ideen und Gedanken in Form von modellierten Figuren wortwörtlich auf den Tisch kommen und bis zum Ende dort auch stehen bleiben. Bei »normalen« Diskussionen besteht immer die Gefahr, dass Ideen unter den Tisch fallen, vor allem wenn sie möglicherweise etwas schräg oder ungewohnt sind oder wenn sie von jemandem geäussert werden, der sich nicht unbedingt in Szene setzen kann (zum Beispiel von einem Jugendlichen in einer Erwachsenenrunde). Echte Mitwirkung wird so möglich, was man sich für so genannte Mitwirkungsverfahren merken sollte.

Das Spiel-Event fand übrigens im Jugendhaus Ostermundigen statt, einem ehemaligen Hangar. Ein idealer Landeplatz …

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Gerald Hüther/Christoph Quarch: Rettet das Spiel! Weil das Leben mehr als Funktionieren ist. 224 Seiten. Hanser-Verlag 2016. ISBN-Nr. 978-3-446-44701-1, Fr. 28.90 (erscheint am 26. September 2016)


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Als solches nicht an der aktuellen Wahl beteiligt. Als Gemeinderat in Ostermundigen für das im Text beschriebene Projekt verantwortlich.

Zum Infosperber-Dossier:

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Spielen macht Spass. Und man lernt so vieles. Ohne Zwang. Einfach so.

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