Durchsetzung

Der SVP-Präsident am Tag danach in «20 Minuten» © Tamedia

«Pfefferscharf» gegen Menschenrechte I/II

Jürgmeier /  Nach Ablehnung der Durchsetzungsinitiative wird die Zweiklassenjustiz qua Ausführungsgesetz zum Ausschaffungsartikel durchgesetzt.

Die Pietät verbietet es, Feiernden das Fest mit «Realitäten» zu verderben. An Hochzeiten die neusten Scheidungszahlen zum Besten zu geben. JubilarInnen daran zu erinnern, dass sie mit zunehmendem Alter wie BoxerInnen ausgezählt werden. AbstimmungssiegerInnen zu erklären, was sie wirklich entschieden, oder sie darauf hinzuweisen, wer mit ihnen jubelt, dass sie nicht das ganze Volk hinter sich haben. Oder aber auf Niedergeschlagene einzutreten, die nicht wirklich zur Kenntnis nehmen wollen, dass sie verloren haben. «Wir werden noch sehen, wer gewonnen hat und wer verloren.» Lässt sich der tapfere SVP-Präsident Toni Brunner am Montag danach in 20 Minuten zitieren. Als wäre er beim ehemaligen deutschen & sozialdemokratischen Bundeskanzler Gerhard Schröder in die Lehre gegangen, der in einem legendären TV-Auftritt in der so genannten «Elefantenrunde» im Jahre 2005 die Kirche im Dorf belassen, nicht wahrhaben wollte, dass eben gerade die Ära Merkel begonnen hatte. Und SVP-Nationalrat Heinz Brand phantasiert sich beziehungsweise seine Partei offensichtlich (immer noch und entgegen der üblichen Inszenierung der SVP als Opposition gegen die politische Klasse) als herrschende Regierung, wenn er im Interview mit der Aargauer Zeitung online am 29.2.2016 sagt: «Man muss bei dieser konsequenten Opposition von einer Mobilmachung gegen die SVP sprechen.»

Cayennepfeffer und Zuckerguss

Aber jetzt haben die erfolgreichen Nein-SagerInnen vom letzten Sonntag – nachdem wir einigermassen überrascht festgestellt hatten, dass wir, ausnahmsweise, einer satten Mehrheit angehörten – die leeren Champagnerflaschen weggeräumt und die gewaschenen Gläser getrocknet. Die euphorischen Nebel haben sich gelichtet, der «pfefferscharfe» Alltag hat uns wieder, und wir stellen beklommen fest, was Gieri Cavelty in der Aargauer Zeitung am 29.2.2016 zu Recht festhält: «Vor zehn Jahren wäre es von Beginn an ausser Frage gestanden, dass eine Vorlage von der Radikalität und Masslosigkeit der Durchsetzungsinitiative verworfen würde. Heute feiern die Gegner das Nein als grosse Sensation.» Wer während Wochen nur mit Cayennepfeffer gewürzte Speisen gegessen hat, wird die mit normalem Pfeffer zubereitete Sauce als Zuckerguss empfinden. Wer monatelang unter dem Damoklesschwert der Durchsetzungsinitiative gezittert hat, scheint ihre Ablehnung als Einlösung multikultureller Utopien zu empfinden.

Selbst Chefredaktor Eric Gujer atmet in seiner NZZ und als Gastkommentator auf Spiegel online lesbar auf: «Es ist noch einmal gutgegangen. Der Rechtsstaat wird nicht beschädigt, die Gewaltenteilung bleibt intakt, die Richter müssen sich nicht zu Erfüllungsgehilfen der jeweils vorherrschenden Laune degradieren lassen.» Beginnt er ganz sachlich. Um sich dann im Freudentaumel ob der für die SVP «grössten Niederlage je» (Polit-Geograf Michael Hermann am Abstimmungssonntag auf Blick online) zu verirren und zu behaupten: «Vor allem aber können die in der Schweiz lebenden Ausländer aufatmen. Sie werden nicht ins Ghetto einer Zwei-Klassen-Justiz verbannt.» Hallo! Ist mit der Ablehnung der Durchsetzungsinitiative auch gleich der vor Jahren von einem anderen Volk (als dem vom letzten Wochenende) angenommene Ausschaffungsartikel aus der Bundesverfassung gestrichen und das vom Parlament verabschiedete Ausführungsgesetz annulliert worden? Hat nicht FDP-Präsident Philipp Müller die Formel von der «pfefferscharfen» Umsetzung geprägt und dafür gesorgt, dass die bürgerliche Parlamentsmehrheit, bis auf die Härtefallklausel, beschloss, «die Ausschaffungs-Initiative eins zu eins gemäss dem Text der Durchsetzungsinitiative auf Gesetzesebene umzusetzen» (Blick online, 28.2.2016)?

Bundesrätin Simonetta Sommaruga erklärt laut Tages-Anzeiger am Abstimmungssonntag: «Wir werden damit eines der härtesten Ausschaffungsregimes in ganz Europa haben.» Tagi-Journalistin Anja Burri notiert am 29. Februar 2016: «Auch nach dem Nein zur Durchsetzungsinitiative werden ausländische Straftäter künftig härter angefasst als heute. Über 80 Straftatbestände sollen für Ausländer neu zu einer obligatorischen Landesverweisung führen… Auch mit dem Ausschaffungsgesetz werden Ausländer nach leichten Delikten die Schweiz verlassen müssen – allerdings haben die Gerichte in Ausnahmefällen die Möglichkeit, schwere persönliche Härtefälle zu berücksichtigen.» Dass jemand in der Schweiz geboren & aufgewachsen ist, wird da kaum genügen. Selbst SP-Ständerat Daniel Jositsch wurde vor & am Abstimmungssonntag nicht müde zu betonen, dass ein Härtefall ein Sonderfall und die absolute Ausnahme sein müsse. Was Toni Brunner freuen wird. Der will nämlich «eine Liste führen und ‹Strichli› machen» (20 Minuten, 29.2.2016). Mindestens 4000 Ausschaffungen pro Jahr hätten ihm die GegnerInnen der Durchsetzungsinitiative versprochen. Wenn die «Härtefallklausel – von der SVP in ‹Täterschutzklausel› umbenannt – von den Richtern» nicht ausschliesslich im «absoluten Ausnahmefall angewandt werde», fasst der Tages-Anzeiger die Äusserungen von SVP-Nationalrat Roger Köppel kurz nach Schliessung der Abstimmungslokale zusammen, «werde das Volk bei den Wahlen 2019 das Personal auswechseln».

Zweiklassenjustiz auch nach dem 28. Februar 2016

Irgendwie einträchtig sitzen sie in einer der vielen TV-Runden zusammen, die KontrahentInnen, nach «geschlagener Schlacht», und hätten sich fast darauf geeinigt, dass die Durchsetzungsinitiative gar nicht nötig gewesen wäre. So «pfefferscharf» sei das Ausführungsgesetz zur Ausschaffungs-Initiative. «Zwingende Ausschaffungen sind für viel mehr Delikte vorgesehen als die Initiative gefordert hatte.» Ruft FDP-Ständerat Andrea Caroni – der mit seinem Apfeldieb-Bild anscheinend das Abstimmungsresultat mit-beeinflusst hat – am 5.2.2016 in die Arena des Schweizer Fernsehens. Irgendwie stolz auf seinen vorauseilenden, aber erfolglosen Gehorsam bei der Umsetzung der Ausschaffungs-Initiative. Die SVP zog die Durchsetzungsinitiative dann doch nicht, wie von den «Pfefferscharfen» erhofft, zurück. Und kassierte eine unnötige, von den GegnerInnen als «historisch» gefeierte Niederlage, die den eigentlichen Erfolg der SVP verschleiert: So selbstverständlich ist die Denkfigur der Ausschaffung krimineller AusländerInnen inzwischen geworden, dass kaum jemandem auffällt, dass der 28. Februar 2016 nichts an der qua Ausschaffungsinitiative installierten Zweiklassenjustiz ändert. Die «AusländerInnen» für dasselbe Verbrechen, im Gegensatz zu «InländerInnen», zwei Mal (mit Gefängnis & Landesverweis) bestraft und damit die Gleichheit vor dem Gesetz ritzt.

Der Zürcher SVP-Nationalrat Hans-Ueli Vogt rechnet denn auch damit, «dass der Menschenrechtsgerichtshof die Schweiz in bestimmten Fällen rügen wird, wenn das Ausführungsgesetz zur Ausschaffungsinitiative in Kraft getreten ist» (NZZ, 1.3.2016). Der beklemmende Hinweis darauf, dass das demokratische Musterland aufgrund der von einer Volksmehrheit angenommenen Ausschaffungsinitiative und wegen des aus Angst vor der Durchsetzungsinitiative «pfefferscharf» formulierten Ausführungsgesetzes mit den Menschenrechten in Konflikt geraten könnte, ist für ihn allerdings kein Grund für Zweifel am Schweizer Recht, sondern eine Bestätigung dafür, dass nur etwas noch schlimmer ist als die eigenen Richter – fremde Richter. Ein Rückzug der SVP-Initiative «Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungsinitiative)» komme für ihn nicht infrage. Hält er, so die NZZ am 1. März 2016, fest.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Afghanischer_Flchtling_Reuters

Migrantinnen, Migranten, Asylsuchende

Der Ausländeranteil ist in der Schweiz gross: Die Politik streitet über Asyl, Immigration und Ausschaffung.

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4 Meinungen

  • am 3.03.2016 um 12:38 Uhr
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    In Deutschland haben wir eine Demokratie.
    Da darf man sich sogar den Rechtsanwalt aussuchen.

  • am 3.03.2016 um 15:42 Uhr
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    Ich schliesse mich dem Kommentar voll an: Die Gegner der SVP Initiative versprachen vor der Abstimmung dafür zu sorgen, dass die vorher vom Parlament beschlossene Umsetzung der Bestimmungen der Ausschaffungsinitiative, «solide umgesetzt werden». Ist diese mit der Menschenrechtskonvention vereinbar? Im Artikel 2 dieser Konvention, heisst es: «Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand. Artikel 7: «Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz… »
    Mit neuen Gesetz das nun in Kraft gesetzt wird, wird jetzt klar ein Unterschied gemacht zwischen Menschen die einen Schweizer Pass haben und denen die kein solches Papier haben. – Das ist Zwei-Klassen-Justiz. – Das sind etwa 25 Prozent der Bewohner unseres Landes, das sind über zwei Millionen Menschen die hier arbeiten und leben. Der Schweizer Täter bekommt vielleicht eine bedingte oder kurze Gefängnisstrafe und eine Busse. Der Ausländer riskiert nach dem Absitzen der Gefängnisstrafe und der Busse in sein Heimatland zurückgeschafft zu werden . Zu erwähnen ist auch, dass gerade Täter der zweiten und dritten Ausländergeneration auch ein Produkt unserer Verhältnisse sind, der Schulen, der Sitten und Unsitten hierzulande.

  • am 3.03.2016 um 16:15 Uhr
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    Volksverhetzung liegt nahe. Leider. Es fehlen noch öffentliche Merkmale um zu erkennen wer nicht dazu gehört. Der CH Pass und die Definition der Schweiz wird seit jeher bürgerlich belegt was bis vor kurzem noch akzeptabel war doch der Kreis wird immer kleiner. Neu sollen gar BR Parteinen plötzlich keine Initiativen mehr starten dürfen. Wie abstrus ist das sobald man die Macht im innersten inne hat?

    Gesetze, Richter und Rechtssprechung sind nunmal eine primär bürgerliche Konstruktion der alle anderen zu folgen haben.

    Leider hat auch in der Schweiz die asoziale Globalisierung ihre Spuren des systematisch aufgebauten Wettbewerbs hinterlassen. Nicht die ILO wie einst vorgesehen arbeitet aus was Globalisierung und Handel bedeutet sondern die geschaffene WTO die mit sozial und solidar nichts anfangen kann. Das war im Gegensatz zur ILO auch nie vorgesehen. Man befindet sich im Dauerkampf, Staaten, Regionen, Kontinente, Städte, Dörfer, Unternehmen, Arbeiter…

    Dies zeigt sich an immer authoritäreren Verhalten gegenüber Individuen und Kollektiv die per Defintion nicht in ein Gesellschaftskonzept weniger für viele passen. Anstatt zu Integrieren und möglichst viele mitzunehmen segregiert man die Gesellschaft, definiert Wert und Unwert… nichts davon ist neu. Die Aufklärung hat wohl nichts gebracht. Zu nah sind wir am Tier…

    Die Schweiz nur eines von vielen Ländern in Europa die genau die gleichen Probleme haben. Billige Arbeitskräfte für die Globalisierung zu bekommen.

  • am 4.03.2016 um 20:38 Uhr
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    Die Analyse von Jürgmeier trifft sicher zu. Ich gehöre zu denen, die gefeiert haben, dass die DSI deutlich abgelehnt worden ist. Und ich bin froh, dass diese Bedrohung für den Schweizer Rechtsstaat mit einer Volksabstimmung abgewendet werden konnte. Heinrich Frei möchte sagen, dass das Umsetzungsgesetz zur Ausschaffungsinitiative schon lange vor dem Abstimmungskampf verabschiedet worden war, wahrscheinlich – in der Hoffnung, die SVP zum Rückzug ihrer DSI zu bewegen – besonders scharf.
    Nur wurde die Ausschaffungsinitiative eben per Volksabstimmung angenommen. Leider hat damals kein Aufstand der Zivilgesellschaft stattgefunden. Die Ausschaffungsinitiative musste so umgesetzt werden, wie sie formuliert war. Es wurde ein Gesetz geschaffen, dass Delinquenten ohne Schweizer Pass anders behandelt als solche mit.
    Man kann aber denen, die gegen die DSI gekämpft haben, nicht vorwerfen, sie wären für eine besonders scharfe Umsetzung der Ausschaffungsinitiative gewesen. Nein, sie haben etwas noch Schlimmeres verhindert.

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