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Covid19 hat eine schlimme Situation schlimmer gemacht: Obdachlose in Vancouver im Mai 2020. © Ted McGrath, CC

Kanadisches Experiment: Mit Bargeld gegen Obdachlosigkeit

D. Gschweng /  Ein Projekt in British Columbia gab Obdachlosen Tausende Dollar und sparte damit am Ende Geld.

Eine in Vancouver ansässige Wohltätigkeitsorganisation gab 50 Obdachlosen in der kanadischen Provinz British Columbia vor zwei Jahren jeweils 7’500 Kanadische Dollar. Ein Jahr später ging es ihnen messbar besser als einer Kontrollgruppe, die kein Geld erhielt. Am Ende hatten sie dem Staat damit sogar Geld gespart. Die «Foundation for Social Change» hat in Zusammenarbeit mit der University of British Columbia Anfang Oktober ihre Ergebnisse veröffentlicht.

Von 115 Teilnehmenden am «New Leaf Project» hatten diejenigen, die Geld erhalten hatten, schneller wieder stabile Wohnverhältnisse. Sie verbrachten nicht nur weniger Tage wohnungslos als die Kontrollgruppe, im Durchschnitt hatten sie nach drei Monaten wieder eine Wohnung.

Sozialer «Trickle-Down-Effekt»

Die Ernährungssicherheit der Geldempfänger verbesserte sich, was über den gesamten Zeitraum so blieb. Davon profitierten auch andere – sie gaben doppelt so viel Geld für die Ernährung ihrer Kinder aus wie die Vergleichsgruppe sowie durchschnittlich 27 Dollar für Kinderkleidung.

An der Studie nahmen 115 Personen im Alter von 19 bis 64 Jahren teil, die zuvor durchschnittlich sechs Monate obdachlos gewesen waren. Drei Fünftel davon waren Männer, ein Drittel der Teilnehmenden hatte Kinder, ein Viertel einen Arbeitsplatz. Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen und ernsthafter Substanzabhängigkeit schlossen die Forschenden bei Vorab-Interviews aus.

Wer das Geld erhalten sollte, wählten sie nach dem Zufallsprinzip aus. Die Teilnehmer beider Gruppen beantworteten alle drei Monate einen Fragebogen und führten nach sechs und zwölf Monaten ein ausführliches Interview mit den Forschenden. Alle Geldempfänger und ein Teil der Vergleichsgruppe nahmen an Workshops zur Selbstentwicklung teil. Die Studie ist noch nicht peer-reviewed, die Review ist laut «CNN» für nächstes Jahr angekündigt.

«Es stellt Stereotypen in Frage»

Für Claire Williams, CEO von «Foundations for Social Change», ist das Ergebnis eine «schöne Überraschung». «Es stellt die Stereotypen in Frage, die wir hier im Westen darüber haben, wie man Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, helfen kann», sagte sie dem kanadischen Medium «CBC».

7’500 Kanadische Dollar (5160 Franken), das muss dazu gesagt werden, sind kein Riesenbatzen. Das Durchschnittseinkommen in der Provinz British Columbia beträgt pro Woche 1‘156 Kanadische Dollar, der Mindeststundenlohn liegt seit kurzem bei 14,60 Dollar.

«Eines der auffallendsten Dinge war, dass die meisten Leute, die Geld erhielten, sofort wussten, was sie mit dem Geld tun wollten», erklärte Williams gegenüber der «CNN». Oft würden Menschen die Idee, Obdachlosen Geld zu geben, ablehnen, weil sie annähmen, diese könnten damit nicht umgehen.

Insgesamt mehr gespart als ausgegeben

Einige der Geldempfänger hatten im Gegenteil nach einem Jahr sogar noch 1‘000 Kanadische Dollar übrig – und dem Staat damit noch Geld gespart. Im Vergleich zur Kontrollgruppe kosteten sie die Obdachlosenunterkünfte pro Person 8’100 Kanadische Dollar weniger.


Wofür die Geldempfänger (links) und die Vergleichsgruppe während des Versuchsjahres ihr Geld ausgaben. («New Leaf Project», Impact Report)

Im Ganzen gaben die Beschenkten ihr Geld über einen längeren Zeitraum aus. Etwa die Hälfte verwendeten sie für Nahrungsmittel und Miete, 16 Prozent für Kleidung und Transport und 15 Prozent für «Anderes» wie Medikamente oder offene Rechnungen. Ihre Ausgaben für Alkohol, Zigaretten und andere Drogen waren nach einem Jahr sogar um fast 40 Prozent gesunken.

Kein Allheilmittel – aber ein sinnvoller Ansatz

Ein Allheilmittel gegen Obdachlosigkeit und Armut sei die Direktzahlung nicht, die Studie konzentrierte sich nur auf einen «funktionelleren» Teil der Obdachlosen, räumt Williams ein. Steve Berg, Vizepräsiden des US-Non-Profits «National Alliance to End Homelessness», stimmt ihr zu.
Einige Obdachlose hätten ernstere Probleme, aber für viele sei es eine Frage des Geldes, wieder auf die Beine zu kommen. «Man kann sich darauf verlassen, dass sich Menschen, wenn sie Geld im Voraus bekommen, selbst um das Problem kümmern», sagt er.

Inspirationen für Williams und Mitgründer Frans Tjallingii waren unter anderem verschiedene Projekte zum bedingungslosen Grundeinkommen sowie eine Initiative, die 2010 in Grossbritannien Geld an ein Dutzend Obdachlose verteilte und das US-Non-Profit «Give Directly», das die Auszahlung von Bargeld an Bedürftige propagiert.

Projekt hofft auf Fortsetzung

Untersuchungen zeigen, dass Obdachlose die Gesellschaft im Schnitt mehr kosten als diejenigen, die ein noch so bescheidenes Heim haben. Ohne Wohnsitz leben zu müssen, ist kurioserweise oft teurer als in einer noch so bescheidenen Unterkunft. Neben direkten Kosten steigen auch die Kosten für die Gesundheitsfürsorge der Obdachlosen mit der Zeit der Obdachlosigkeit an.

Das vom kanadischen Staat sowie von namentlich nicht genannten Spendern finanzierte Projekt hofft auf eine Fortsetzung und sucht dafür Spender. Obdachlosigkeit ist ein bekanntes Thema in British Columbia. Von den etwa 5 Millionen Einwohnern der Provinz waren 2018 etwa 7’600 obdachlos. Die Corona-Pandemie hat das Problem verschärft, die Ergebnisse der jüngsten Zählung im Frühjahr 2020 liegen jedoch noch nicht vor. Im Sommer 2020 campierten etliche Obdachlose in Vancouvers öffentlichen Parks.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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