Kommentar

Von Reisen nach Haiti wird abgeraten

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des AutorsDie Kolumne von Oswald Sigg erschien zuerst in der "Aargauer Zeitung". ©

Oswald Sigg /  Christoph Kolumbus entdeckte die Perle der Antillen am 14. Oktober 1492. Heute ist Haiti eines der ärmsten Länder der Welt.

Die Hinweise des EDA sind wenig einladend: «Von Touristen- und anderen nicht dringenden Reisen nach Haiti wird abgeraten», warnt das Departement und schreibt weiter: «Bewaffnete Überfälle (auch mit Todesfolge), Auto- und andere Diebstähle sowie Einbrüche (…) Entführungen zwecks Lösegelderpressung kommen vor und sind oft von Gewalt begleitet. (…) Leisten Sie bei einem Überfall keinen Widerstand, denn die Gewaltbereitschaft ist hoch. (….) Die Justiz- und Sicherheitsbehörden sind in vielen Fällen überfordert. Die Bevölkerung übt deshalb oft Lynchjustiz aus.» Ich entschließe mich trotzdem zur Reise, um Wasser-, Waldschutz- und Wiederaufbau-Projekte von «Helvetas», seit beinahe 30 Jahren aktiv vor Ort, zu besuchen.
Port-au-Prince: Chaos, Zerfall, Abgase
Das Straßenbild in Port-au-Prince, der Hauptstadt des vor kurzem von Hurrikan Sandy heimgesuchten Landes, ist von Chaos geprägt. Eilende, stehende, sitzende Menschen, Lasten tragende Frauen, blockierte und hupende Autos, flüchtende Hunde und Hühner, karge Auslagen der Händlerinnen am Straßenrand inmitten zerfallener oder unfertig erstellter Betonrohbauten, kreuz und quer gespannte elektrische Leitungen und ein Luftgemisch aus feuchter Hitze und gräulichen Abgasen. Keine Straßenschilder. Keine Hinweise, wohin die Wege führen.
Als Tourist bin ich es mir gewohnt, jeweils aus der Ferne Ansichtskarten zu schreiben. In einer Buchhandlung findet sich eine kleine Auswahl mit farbenfrohen Sujets: das lächelnde Mädchen, das kleine violette Haus im Grünen, der weiße Nationalpalast mit der blau-roten Fahne Haitis. An der Kasse kann keine der Verkäuferinnen genau sagen, wo man Briefmarken bekommt. Nur eine glaubt, ein Postbüro müsse sich irgendwo in der Nähe befinden.
Frankatur für eine Postkarte: 15 Franken
Mit den 20 Ansichtskarten im Hotel zurück, beginne ich alsbald mit dem Schreiben. Anderntags ergibt die Frage an der Réception nach dem nächstgelegenen Postbüro nur Kopfschütteln. Niemand weiß die Antwort. Aber der bewaffnete Sicherheitsmann am Eingang zeigt in eine Richtung und glaubt, die Post befinde sich ganz in der Nähe. Tatsächlich liegt das Quartierpostbüro 300 Meter vom Hotel entfernt. Vor den beiden Schaltern kein Mensch – im Reiseführer steht, man könne in den wenigen Postämtern bis zu zwei Stunden anstehen. Eine junge freundliche Frau – nachdem sie zwei Kolleginnen und die Chefin ganz hinten im Dienstraum konsultiert hat – gibt mir die Auskunft, die Spedition einer Postkarte in die Schweiz koste 600 Gourdes. Das sind rund 15 Franken.
Zu einem billigeren Tarif ist die Sache offenbar nicht zu haben. Ich reduziere in Gedanken bereits den Adressatenkreis meiner Karten auf ein gutes halbes Dutzend meiner Liebsten und bestelle am Schalter Marken für acht Karten. Die freundliche Dame erklärt mir, die Post verfüge nur über Briefmarken mit aufgedrucktem Wert von 20 Gourdes, so dass ich auf eine einzige Postkarte 30 Stück davon aufkleben müsste. Aber sie sei überzeugt, dass dafür kein Platz vorhanden sei. Nicht einmal, wenn ich selbst die Vorderseite mit Marken zudecken würde. Es herrscht Ratlosigkeit und allgemeines Bedauern vor und hinter dem Postschalter.
Abwesenheit von Staat und Zivilgesellschaft
Doch nicht allein die Post wird ihrer Aufgabe nicht gerecht. Die Polizei fehlt hier weitgehend, die Armee existiert nicht mehr, eine Eisenbahn ist wieder abgebrochen worden und vom 2010 durch das Erdbeben völlig zerstörten Nationalpalast hat man die Überreste wie aus Scham entfernt. Von Reisen nach Haiti wird abgeraten. Vielleicht auch deshalb, weil die Unordnung im öffentlichen Raum die Abwesenheit des Staates und der Zivilgesellschaft bezeugt. Auf die Frage, wie das Land mit all diesen Katastrophen leben könne, erinnert der Erzbischof neben den Ruinen seiner Kathedrale von Port-au-Prince die Besucher aus der Schweiz an die größte Katastrophe der Neuzeit, die mit dem 14. Oktober 1492 begonnen habe. Das sei der Überfall der Europäer auf Haiti, die Perle der Antillen, gewesen.


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Die Kolumne von Oswald Sigg erschien zuerst in der "Aargauer Zeitung".

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