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Der Krieg um Bergkarabach ist seit 2020 vorbei. Doch die Probleme halten an. © SRF

Karabach-Armenier werden ausgehungert

Amalia van Gent /  Den Menschen in Bergkarabach fehlen Medikamente, Nahrungsmittel, Treibstoff – sie stehen am Rande der humanitären Katastrophe.

Der De-facto-Präsident des von Armeniern besiedelten Bergkarabachs, Arayik Harutyunyan, hat am 24. Juli den Katastrophenzustand für das von ihm verwaltete Gebiet ausgerufen. In einem übers Internet ausgestrahlten Interview sagte er, Aserbeidschan halte die einzige Verbindung Bergkarabachs mit Armenien und der Aussenwelt seit 225 Tagen «illegal blockiert» und verhindere somit den freien Verkehr von Menschen, Medikamenten und Nahrungsmitteln über den Latschin-Korridor.

Während dieser siebenmonatigen Blockade ist laut Harutyunyan die von Aserbaidschan kontrollierte Versorgung mit Gas, Wasser und Strom regelmässig ausgefallen. Täglich komme es zu stundenlangen Stromausfällen und damit werde die begrenzte, lokale Produktion Bergkarabachs lahmgelegt.

Die humanitäre Katastrophe wirke sich auf alle Lebensbereiche aus: von der Lebensmittelversorgung über die Gesundheitsfürsorge bis hin zur Landwirtschaft und zur Bildung, führte er aus. «In den vergangenen 40 Tagen wurde kein einziges Kilogramm Lebensmittel eingeführt.» – Die Menschen Bergkarabachs seien mit einer «totalen Belagerung» konfrontiert. Arayik Harutyunyan appellierte an die Weltgemeinschaft, insbesonderes an die UNO und an das Internationale Rote Kreuz, die herannahende Katastrophe abzuwenden. «Menschenleben sind nun in Gefahr».

Internationales Rotes Kreuz kann nicht helfen

Das Internationale Rote Kreuz macht selten öffentliche Erklärungen über seine weltweiten Missionen. Kurz nach dem Appell Harutyunyans schrieb es in einer Mitteilung an die zuständigen Entscheidungsträger und an die Presse, dass es «trotz anhaltender Bemühungen derzeit nicht in der Lage ist, der Zivilbevölkerung humanitäre Hilfe über den sogenannten Latschin-Korridor oder über andere Routen zukommen zu lassen».

Den Menschen fehle es an lebensrettenden Medikamenten, Hygieneartikeln und Babynahrung, heisst es in der IKRK-Erklärung. Obst, Gemüse und Brot würden knapper und teurer. Andere Lebensmittel wie Milchprodukte, Getreide, Fisch und Hühnerfleisch seien nicht erhältlich. «Unsere humanitären Hilfskonvois sind eine Lebensader für die Bevölkerung in diesem Gebiet. Da diese Konvois blockiert sind, befürchten wir, dass sich die humanitäre Lage weiter zuspitzen wird».

Appelle bleiben ungehört

Seit Aserbaidschan begonnen hat, den Latschin-Korridor zu blockieren, hat der Internationale Gerichtshof sowie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte rechtlich verbindliche Urteile gegen die Blockade der aserbaidschanischen Regierung erlassen. Dazu haben das Europäische Parlament, die Parlamentarische Versammlung des Europarats, Russland und die Regierungen der USA sowie unterschiedlicher, europäischen Staaten an Baku appelliert, den ungehinderten Verkehr von Menschen und Gütern durch den Latschin-Korridor in beide Richtungen zu gewährleisten. Alles bislang umsonst.

Die Regierung in Baku betrachtet das abtrünnige Bergkarabach seit ihrem Sieg im Krieg von 2020 uneingeschränkt als Teil ihres Territoriums. Bergkarabach wurde tatsächlich 1920 von Stalin Aserbaidschan zugeteilt, obwohl die überwältigende Mehrheit seiner Bevölkerung auch damals Armenier waren. Weil sie die überwältigende Bevölkerungsmehrheit bildeten, gewährte Moskau ihnen allerdings den Status einer autonomen Region. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion berief sich Bergkarabach auf das Recht der Völker auf Selbstverwaltung und rief seine «Republik Artsakh» aus. Diese wurde bislang von keinem einzigen Staat anerkannt.

Nach dem Krieg 2020 lehnt Aserbaidschan jede Forderung nach jeglicher Form von Autonomie für die 120’000 Menschen, die heute noch in dieser abgelegenen Region leben, strikt ab und erhöht den Druck auf die Zivilbevölkerung, indem es keine Nahrungsmittel, keine Medikamente, keinen Treibstoff ins kleine Gebiet hineinlässt.

Kann aber die Weltgemeinschaft heute, in einer Zeit, in der die Nachrichten dank des Internets im Sekundentempo jede Ecke der Welt erreichen, 120’000 Menschen im Stillen terrorisieren und zu Grunde gehen lassen, nur weil sie sich weigern, sich dem Diktat einer politischen Führung zu beugen?

«Das Aushungern der armenischen Bevölkerung wird ein neues Erbe von unversöhnlichem Misstrauen hinterlassen, das alle Hoffnungen auf eine Wiederherstellung der Gemeinschaftsbeziehungen zunichte macht», schrieb alarmiert auch Laurence Broers, ein führender Wissenschaftler und Experte zum Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien in einem Tweet.

Die angestrebte «ethnische Säuberung Karabachs würde ein neues Kapitel in der Logik der erzwungenen, exklusiven Nationenbildung im Südkaukasus aufschlagen, eine ganze Reihe neuer Streitfragen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern aufwerfen und hätte abschreckende Folgen für die anderen Minderheiten in der Region».

Unterdessen schickte die armenische Regierung am 26. Juli zum ersten Mal seit Beginn der Blockade einen Konvoi mit humanitärer Hilfe nach Karabach. Der aserbaidschanische Grenzdienst bezeichnete die Aktion als «provokativen Akt» und erklärte, die armenische Seite trage die volle Verantwortung für die möglichen Folgen.

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung näherte sich der Konvoi der von Aserbaidschan aufgestellten Grenzposten.

«Ein Tag im Leben während der Blockade»

Der Brief «Ein Tag im Leben während der Blockade» wurde von der Lehrerin Nune Arakelyan geschrieben und am 25. Juli 2023 von der unabhängigen armenischen Nachrichtenagentur Civilnet veröffentlicht.

Auszüge daraus:

«Wie sieht ein typischer Tag während der Blockade aus? An einem Tag zu Beginn der Blockade stürmten wir mit anderen Stadtbewohnern verzweifelt die Supermärkte und deckten uns zunächst mit den vorhandenen Lebensmitteln ein. Dann, Mitte der Blockade, begann das Rote Kreuz mit der Lieferung von Lebensmitteln und Medikamenten durch den blockierten Latschin-Korridor, und die Behörden führten ein Rationierungssystem ein. Das Leben begann, relativ erträgliche Konturen anzunehmen.

Aber die heutigen Tage sind anders als alle übrigen. Die Blockade hat jetzt für die 120’000 Menschen, die immer noch hier wohnen, einen totalen, einen erschöpfenden Charakter angenommen. Für diejenigen, die chronisch Kranke oder kleine Kinder in ihren Familien haben, sind die alltäglichen Herausforderungen enorm.

Die Sorgen der Menschen unterscheiden sich auch je nach Jahreszeit. An einem winterlich kalten Tag verbindet sich die unerbittliche Suche nach den lebensnotwenigen Gütern mit dem quälenden Bemühen, die Wohnungen zu heizen, da es kein Gas gibt und der Strom regelmässig ausfällt. Der drohende Hunger gerät vor der Gefahr, ohne Wärme und Licht dazustehen, in den Hintergrund. Sind die Tage sommerlich warm und sonnig, sehnt sich die Seele nach Obst und Gemüse. Dann müssen wir mit Bitterkeit realisieren, dass die Lieferung von Obst und Gemüse in die Stadt aufgrund des Brennstoffmangels unmöglich war.

Mein Tag beginn mit Dankbarkeit gegenüber dem Herrn dafür, dass ich nicht in einem Keller aufgewacht bin, in dem wir uns vor Bombenangriffen verstecken mussten, und auch nicht im Ausland, sondern in meinem eigenen Bett. Und ich bin auch dankbar, dass meine Lieben leben.

Wenn es Strom gibt, koche ich mir einen schwarzen Kaffee (ohne Zucker, denn Zucker gibt es schon lange nicht mehr). Aber Strom ist in letzter Zeit wahrlich zum Luxus geworden.

Der Unterricht ohne Elektrizität bedeutet für uns Lehrer einen Rückfall zu den klassischen Lehrmethoden unserer Vorfahren, als das Wort des Lehrers an erster Stelle stand. Und es ist entscheidend, dass dieses Wort das richtige ist. Denn die Schüler sollten in der Rede ihres Lehrers oder des Dozenten Worte der Hoffnung hören, nicht Worte der Verzweiflung.

Von der Arbeit gehe ich zu Fuss nach Hause. Auf Minibusse zu warten, hat ohnehin keinen Sinn. Wegen des Treibstoffmangels ist der öffentliche Verkehr eingestellt, und auch Taxis sind rar. Auf dem Heimweg versuche ich einzukaufen, was es noch in den Geschäften zu kaufen gibt. Die Läden werden aus Gewohnheit geöffnet, nur damit die Bevölkerung Brot kaufen kann.

Früher gab es Molkereiprodukte, aber seit über einer Woche sind sie nicht mehr da. Die Verpackungen sind ausgegangen, und es gibt keinen Treibstoff, um die Waren an verschiedene Orte zu liefern.

Wenn ich nach Hause zurückkehre, versuche ich keine bekannten Gesichter zu treffen. Auf jedes Gespräch über alltägliche Dinge folgt nämlich unweigerlich die Frage: ‹Was glaubst Du, was als Nächstes mit uns passiert?› Wie kann ich aber die Antwort auf eine solche Frage kennen? Im Grossen und Ganzen gefällt mir aber, dass unsere Menschen dem Druck noch standhalten und Witze über unsere seltsame Situation zu machen versuchen.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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3 Meinungen

  • am 29.07.2023 um 01:56 Uhr
    Permalink

    Amalia van Gents eindrücklicher Bericht über die gegenwärtige dramatische humanitäre Lage in Bergkarabach erwähnt die jüngere Vorgeschichte des Konflikts bedauerlicherweise mit keinem Wort. 1992 sind die armenischen Streitkräfte zu einer Zeit militärischer Schwäche Aserbaidschans ins östliche Nachbarland eingefallen, haben das Gebiet von Bergkarabach samt seinem Umland und den Bergkarabach mit Armenien verbindenden Korridor von Latschin völkerrechtswidrig besetzt und in der Folge die von der internationalen Gemeinschaft nie als souveränen Staat anerkannte Republik Bergkarabach (Artsach) installiert. Beim Krieg vom Herbst 2020 handelte es sich also um nichts anderes als um einen Folgekrieg, mit welchem sich Aserbaidschan das von Armenien annektierte, ursprünglich aserbaidschanische Staatsgebiet zurückgeholt hat.

    • Portrait Martina Frei 2023
      am 29.07.2023 um 14:45 Uhr
      Permalink

      Hier die Antwort der Autorin Amalia van Gent:

      Sehr geehrter Herr Knupfer-Müller,
      wo fängt die „Vorgeschichte“ Bergkarabachs, wie Sie sie nennen, tatsächlich an? Für Aserbaidschan setzt sie im Jahr 1992 an, als armenische Streitkräfte zu einer Zeit militärischer Schwäche Aserbaidschans ins östliche Nachbarland eingefallen sind und das Gebiet von Bergkarabach samt seinem Umland und den Bergkarabach mit Armenien verbindenden Korridor von Latschin völkerrechtswidrig besetzt haben.

      Die Vorgeschichte für Armenier fängt hingegen mit den gewalttätigen Ausschreitungen gegen die armenische Minderheit in Aserbaidschans Industriestadt Sumgait 1988 an und setzt sich mit den Pogromen in Kirowabad (heute Gendsche) 1989 und in der aserischen Hauptstadt Baku 1991 fort. Rund 400’000 Armenier haben bis 1991 in Aserbaidschan gelebt. In Baku, dem damals noch multikulturellen Zentrum des Südkaukasus par excellence, machten sie einen Grossteil der Wissenschaftler, der Kunstschaffenden und der Handwerker aus. Heute gibt es, wenn überhaupt, nur ein paar ältere Menschen, die in ihrer angestammten Heimat sterben wollen. Der erste Krieg, der 1991 um Bergkarabach ausbrach, stellte bloss eine grauenhafte Eskalation dieses Konflikts dar: Denn bald wurde auch Armenien „seine“ aserische Minderheit (rund 200’000) „los“ und vertrieb nach seinem Sieg nebenbei die einheimischen Muslime (schätzungsweise 500’000 Aserbaidschaner und Kurden) aus den sieben um Bergkarabach umliegenden Provinzen.

      Von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen, zogen zu Beginn der 1990er Jahre zwischen Armenien und Aserbaidschan somit über eine Million Menschen entrechtet, entwurzelt und perspektivlos in die Randgebiete der Grossstädte und in vom Krieg zerstörte Geisterstädte. Die Geschichte des Südkaukasus ist traurig genug. Einen Teil davon auszublenden und sich als Opfer eines „völlig unprovozierten“ Kriegs darzustellen, hilft wahrlich niemandem.

      Aber abgesehen davon, wie der Konflikt um Bergkarabach ausgelegt wird, für mich stellt sich eine einzige Frage: Darf ein Staat die Geschichte so missbrauchen, um eine aufmüpfige Minderheit unablässig mit Krieg und Blockaden zu terrorisieren? Und darf unsere Öffentlichkeit den Terror gegen 120.000 Menschen und den angedrohten Hungertod von Zivilisten stillschweigend hinnehmen?

  • am 29.07.2023 um 07:23 Uhr
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    Armenien spielt schon seit Jahrzehnten ein zwielichtiges Spiel. Obwohl es die «Republik Nagorno-Karabach (NKR)» und weitere Gebiete von Aserbaidschan seit 1991 besetzt hatte, erhob es weder Anspruch auf diese Gebiete, noch anerkannte es deren Unabhängigkeit. Im Gegenteil. Erst kürzlich hat Paschinjan die ‹territoriale Integrität› von Aserbaidschan ausdrücklich anerkannt, und damit die NKR zu einem internen Problem für Baku erklärt, zu dem Jerewan nichts zu sagen hat. Damit wurde auch der Latschin Korridor obsolet und eine Versorgung der NKR hätte von Aserbaidschan aus zu erfolgen. Das Problem dabei ist, dass die Bewohner der NKR dazu nicht gefragt wurden und Baku die NKR oder deren Behörden überhaupt nicht anerkennt.
    Das Resultat ist absehbar. Die NKR wird als autonomes Gebiet liquidiert werden, was die meisten Armenier dort dazu bewegen wird umzuziehen. Ob das den Konflikt zwischen Jerewan und Baku auflöst ist unwahrscheinlich. Alijew, braucht ein Feindbild um an der Macht zu bleiben.

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