Sperberauge

Der Untergang verzögert sich

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Robert Ruoff /  Alte Männer wie Régis Debray, Georg Stefan Troller, Robert Misrahi werfen einen klugen Blick auf die neue Zeit.

‚Alle reden über den Untergang des Abendlandes – ich nicht.’ So ähnlich könnte man den Text des Freundes und Beraters von Fidel Castro, Ernesto Che Guevara, Salvador Allende, François Mitterrand zusammenfassen. Der französische Romancier, Philosoph, Publizist Régis Debray, Jahrgang 1940, stellt unter dem Titel «Abendland. Ein Befund» die Frage: «Ist die globale Vorherrschaft des Okzidents im Niedergang begriffen?» Den Text hat er sinnigerweise in Peking geschrieben, im September 2012. Veröffentlicht wird er in «Lettre International 101», Sommer 2013.

Man kann nicht sagen, Debray habe bei seinem Blick auf die Welt eine wichtige Entwicklung der letzten neun Monate übersehen. Den amerikanisch-okzidentalen Überwachungswahn hat er schon im Auge gehabt. Über Obama schreibt er, dass der amerikanische Präsident vielleicht mehr noch als George W. Bush tief überzeugt ist, dass er «die Vorrechte seines Landes mit Zähnen und Klauen verteidigen muss. Mit allen Mitteln, wozu auch die intelligent eingesetzten illegalen gehören.»

Der dominierende Okzident

Der linke Publizist provoziert in seiner Analyse der fünf Trümpfe und fünf Nachteile des Okzidents mit einem angstfreien Blick. Das Abendland, sagt er, dessen Kernland NATO heisst, dehnt sich heute von Osteuropa aus bis an die Pazifikküste Amerikas, und es greift aus nach Asien und Australien.

Das Abendland hat, stellt er fest, trotz aller Krise einen Zusammenhalt wie nie zuvor. Einen Zusammenhalt, den weder Asien noch Lateinamerika kennt und schon gar nicht Afrika mit seinem ständigen Hauen und Stechen. Der Okzident ist eine «Wertegemeinschaft» und eine «Ängstegemeinschaft» mit einem weltweiten (amerikanischen) Machtapparat. Er beansprucht die universelle Deutung der Welt und setzt sie auch durch, als dominierende Minderheit mit 10 Prozent der Weltbevölkerung im Sicherheitsrat der UNO.

Das Abendland mit Amerika an der Spitze ist die Kaderschmiede des Planeten. Es saugt als Einwanderungsland die Menschen aus allen Kontinenten auf und schickt sie wieder zurück als okzidental geprägte Wissenschafter, Politiker, Manager. Es prägt die Empfindungen von Coca Cola bis zum Freiheitskampf von Schwulen, Schwarzen, Frauen, Minderheiten, und es besorgt mit seiner Technologie sowohl die globale Überwachung wie die revolutionäre Kommunikation auf dem ägyptischen Tahrir- und dem türkischen Taksim-Platz. Es steht noch immer an der Spitze der Innovation und gibt damit den Einzelnen einen «noch nie dagewesenen Handlungsspielraum» als Agenten «eines verinnerlichten protestantischen Kapitalismus».

Der Untergang findet noch nicht statt

Die Stärke des Abendlands ist gewaltig, aber auch seine Nachteile. Die «Hybris des Globalen», seit dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs 1989, der die Vision einer «neuen Weltordnung von Vancouver bis Wladiwostok» entstehen liess – «Überdehnung imperialer Macht» (Paul Kennedy). Und die Blindheit gegenüber den Anderen: gegenüber den verschiedenen Formen von Demokratie, gegenüber anderen Kulturen und Traditionen, und gegenüber der Tatsache, dass über die Hälfte der Menschheit bis heute auf der Grundlage der Stammesstruktur lebt und sich nicht einfach abendländisch globalisieren lassen will.

Kommt dazu, dass im Abendland die Grundlage der Weltherrschaft verrottet: die Bereitschaft zum Opfer. «Die Stimmung ist interventionistisch, das Klima jedoch pazifistisch», sprich: die ‚humanitäre’ Intervention in der Elfenbeinküste, in Libyen oder Mali ist zwar erwünscht, aber jeder tote Soldat gibt Anlass zum Staatsakt und zur Frage, ob denn das Opfer sich lohnt – während in den Weltkriegen täglich Tausende starben, ohne dass der Regierungschef sein Büro verlassen hätte.

So verändert sich die Dynamik langsam. Das Abendland lebt im Medienhype, der Osten und der Süden mit der Erinnerung. «Die Beherrschten haben stets ein längeres Gedächtnis als die Herrschenden.» Und weil die Abendländer die staatlichen Strukturen zerstören, wie in Irak, Afghanistan, oder doch zur Zerstörung beitragen, wie im nordöstlichen Afrika, bilden sich die kleinen bewaffneten Gruppen, die Familienclans der Warlords oder das Terrornetz der Al-Qaida, das nach dem Muster der McDonalds Holding an die Kleinkrieger die Lizenz vergibt, seinen Namen zu tragen.

Diese Gruppen sind nicht zu fassen. Höchstens zu zerstören. In der Folge verliert das Abendland den institutionell verlässlichen Partner, mit dem es Vereinbarungen treffen könnte.

Aber auf kürzere Frist sind die Trümpfe des Okzidents noch stärker als die Nachteile, konstatiert Debray. «Im Augenblick scheint er (der Okzident, R.) den Strick fest in der Hand zu halten und keineswegs in die Versuchung zu geraten, so geldgierig er auch ist, noch einen Strick zu kaufen, um sich damit aufhängen zu lassen, wie es sich Wladimir Iljitsch Lenin vor einem Jahrhundert etwas leichtfertig vorgestellt hatte.»

Der Untergang des Abendlands verzögert sich.

Nachtrag:
Georg Stefan Troller, der grosse alte Schreiber und Dokumentarfilmer (Pariser Journal, Personenbeschreibung), Jahrgang 1921, erzählt im gleichen Heft von der Sprache als Teil seiner Heimat, der jüdischen Gemeinschaft in Wien.
Und Robert Misrahi, Jahrgang 1926, Sohn türkischer Einwanderer und Freund von Jean-Paul Sartre, widmet sich in seiner Philosophie vor allem den Themen Freude und Glück. Er fragt nach der Voraussetzung von Glück in der heutigen und zukünftigen Gesellschaft.


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