Demonstracije_1968

Die Studierenden steigen auf einen Wasserwerfer der Miliz und halten spontane Reden. © wikipedia

1968: Platzmangel bei Generalprobe löst Protest aus

Aleksandra Petrovic /  Vor 50 Jahren erhoben sich die Studierenden von Belgrad: Ein Protest, der im Kontext der 1968er-Proteste einzigartig ist. (Teil 1)

Red.: Der Artikel «Platzmangel bei Generalprobe löst Protest aus» zeichnet die Ereignisse der Belgrader Studentenproteste nach. Er ist der Auftakt einer Miniserie: Ein weiterer Artikel wird den geschichtlichen Hintergrund der Studentenproteste thematisieren: Kamen die Unruhen in Belgrad wirklich überraschend?

Sonntag, 2. Juni 1968. Im Stadtteil Neu-Belgrad soll am Abend die Generalprobe der beliebten Show «Karawane der Freundschaft» (Karavan prijateljstva) unter freiem Himmel und für alle frei zugänglich durchgeführt werden. In der Nähe des Veranstaltungsortes befindet sich die Studentenstadt. Bei vielen der Studierenden ist der abendliche Besuch der Generalprobe fix eingeplant – zum Ausklang des Wochenendes.

Aufgrund einer Schlechtwetterprognose entscheiden sich die Organisatoren, die Generalprobe in den Saal der nahe gelegenen Arbeiter-Universität zu verlegen. Im Gegensatz zur Lokalität draussen sind die Zuschauerplätze auf 400 Stück begrenzt. Kurzfristig vergeben die Organisatoren alle Eintritte an die Mitglieder einer in der Nähe stationierten Jugendbrigade. Die Studierenden wissen davon nichts.

Die Situation eskaliert
Als dann nur den Mitgliedern der Jugendbrigade Einlass gewährt wird, verbreitet sich unter den wartenden Studentinnen und Studenten Unmut und Enttäuschung. Schnell kippt die Stimmung, es kommt zu Auseinandersetzungen mit den Ordnungskräften. Die herbeigerufene Miliz setzt Schlagstöcke und Tränengas ein. Plötzlich macht ein Gerücht – das sich später als falsch herausstellt – die Runde. Die Miliz habe einen Studenten getötet, heisst es. Nun eskaliert die Situation.

Die Studierenden entwenden der Miliz einen Wasserwerfer und fahren zur Studentenstadt, wo sich um Mitternacht bereits um die 3000 Studierende versammelt haben. Einige besteigen spontan den Wasserwerfer und halten Reden – sie prangern das brutale Vorgehen der Miliz und bald auch andere Missstände in der Gesellschaft an. Eine zu Beginn als «Rowdytum» kategorisierte Auseinandersetzung ist damit innerhalb von wenigen Stunden zu einem politischen Protest herangewachsen.

Universität steht hinter Studierenden
Noch in der gleichen Nacht entscheiden die Protestierenden, ihren Protest fortzusetzen und zum Föderationsparlament zu ziehen. Auf dem Weg dorthin werden sie jedoch von einem Konvoi der Miliz abgefangen. Diese agiert brutal, neben Schlagstöcken und Tränengas setzt sie sogar Schusswaffen ein. Der Protestzug löst sich auf.


Bilder der Studentenproteste von 1968

Trotz der Gewalt lassen sich die Studentinnen und Studenten nicht entmutigen. Um den weiteren Protestverlauf besser organisieren zu können, bilden sie einen «Aktionsausschuss». Nach ersten Gesprächen zwischen Studierenden, Prorektoren und Dekanen, denen das Stadtparlament in den frühen Morgenstunden bereits die «staatliche Version» der Proteste zugespielt hatte, stellen sich die Verantwortlichen der Universität hinter die Studierenden. Die Version des Stadtparlaments, wonach die Studierenden durch Schusswaffeneinsatz die Auseinandersetzung angezettelt hätten, findet kein Gehör.

Demonstranten halten Tito die Treue
Am Tag danach wollen die Protestierenden erneut zum Föderationsparlament marschieren. Sie hören nicht auf den Rat der Professoren, die zur Entsendung einer Delegation geraten haben. Der Protestzug setzt sich in Bewegung. Um weitere Zusammenstösse zu verhindern, stellen sich der Präsident des Universitätsrates sowie einige Prorektoren und Dekane an die Spitze des Zuges.

Die Protestierenden äussern ihren Unmut über das brutale Vorgehen der Miliz und prangern gesellschaftliche Missstände an. Sie halten Plakate mit Aufschriften wie «Wir wollen eine Arbeit» und «Haben wir eine Verfassung?» hoch. Auch Porträts von Tito und Marx sind keine Seltenheit. Das ist das Spezielle an den Unruhen in Belgrad: Die Studentinnen und Studenten wollen zwar gesellschaftliche Missstände beseitigen, sie wollen das bestehende System aber nicht stürzen. Sogar im Protest halten sie dem diktatorischen Staatschef Jugoslawiens, Josip Broz Tito, die Treue.

Ein Konvoi der Miliz stoppt den Protestzug. Nach zweistündigen Diskussionen scheint eine Kompromisslösung gefunden – doch plötzlich bricht Gewalt aus. Wie es zur erneuten Eskalation kam, ist bis heute umstritten. Augenzeugen berichten aber, die Miliz habe willkürlich angefangen, die Protestierenden zu attackieren. Der erneute Gewaltausbruch fordert 169 Verletzte.

Forderungen und Lösungsvorschläge
Am 3. Juni veröffentlichen die Protestierenden ihre Forderungen und erläutern die Gründe des Protests. Unter anderem prangern sie die grosse gesellschaftliche Ungleichheit, die hohe Arbeitslosigkeit sowie die Behinderung der Demokratie und der Selbstverwaltung an. Zu den Kritikpunkten bieten sie auch Lösungsvorschläge: So soll zum Beispiel die Arbeitslosigkeit «durch einen Austausch von unqualifizierten Kadern durch junge Fachkräfte und durch eine schnelle Verabschiedung eines Gesetzes zur Verpflichtung der Anstellung von Auszubildenden und Ermunterung junger Fachkräfte, um ihre Abwanderung ins Ausland zu verhindern» gesenkt werden.

Um dem Problem der starken bürokratischen Kräfte entgegenzutreten, soll eine Demokratisierung aller gesellschaftlich-politischen Organisationen stattfinden. Vor allem die Regierungspartei, der «Bund der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ)» und die Informationsmedien sollen demokratisiert werden. Weiter müsse die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit gewährt sein. Erst an vierter Stelle stellen die Studenten Forderungen nach Verbesserungen der Situation an den Universitäten.

Besetzung der Universität – Streik
Gleichzeitig zu den Veröffentlichungen der Forderungen beginnen die Studierenden mit der Besetzung von verschiedenen Fakultäten. Die Universität Belgrad benennen sie kurzerhand in «Rote Universität Karl Marx (Crveni univerzitet Karl Marks)» um. Der Universitätsrat unterstützt die Forderungen der Studierenden und ruft einen siebentägigen Streik aus.

An fast allen Akademien und Fakultäten der Belgrader Hochschule werden Vollversammlungen abgehalten, an denen bis zu 10’000 Studierende und Lehrende teilnehmen. Die Geschehnisse der letzten Tage werden rekapituliert, die gesellschaftlichen und politischen Missstände erörtert, Lösungen diskutiert und die bereits geäusserten Forderungen ergänzt. Neben den Versammlungen finden auch künstlerische Darbietungen und spontane Konzerte statt, an denen sich auch Arbeiterinnen und Arbeiter beteiligen.

Trotz der allgemeinen Aufbruchsstimmung sind nicht alle Studierenden zufrieden: Die Forderungen seien von allgemeinen Phrasen durchzogen, die Strukturen der Protestbewegung seien zu konservativ. Eine Woche nach Ausbruch der Proteste ist die erste Euphorie verflogen, eine Ermüdung der Bewegung ist spürbar.

Alarmstimmung auf politischer Ebene
Für den BdKJ sind die treibenden Kräfte hinter den Protesten schnell ausgemacht: feindliche oppositionelle Bewegungen aus dem Untergrund. Ihre grösste Befürchtung ist, dass sich die Proteste auf die Industriebetriebe ausweiten könnten, was die Bewegung endgültig zum Flächenbrand gemacht hätte.

Deshalb versucht der BdKJ die Kommunikation zwischen den Studierenden und der Arbeiterschaft zu erschweren oder gänzlich zu unterbinden. Auch durch die Berichterstattung in den Medien ist es der Regierungspartei möglich, die öffentliche Meinungsbildung zu steuern. Durch die Manipulation der Berichterstattung bleiben die wahren Intentionen und Forderungen der Studierenden weiten Teilen der Bevölkerung vorenthalten.

Die Medien vermitteln mehrheitlich ein Bild von undankbaren Studierenden, die sich undemokratischer Methoden bedienen, um ihren Unmut zu äussern und ihre Forderungen durchzuboxen. Die führenden Politiker des Landes greifen aber noch auf ein weiteres strategisches Mittel zurück: Sie nehmen die Forderungen der Studierenden und erklären sie kurzerhand zu ihren eigenen. Im Eiltempo verabschiedet der BdKJ mehrere Gesetze – in der Hoffnung, die Bewegung zu besänftigen und die Proteste zu einem schnellen Ende zu führen.

Tito schweigt und wartet ab
Im Jahr 1968 ist Josip Broz Tito bereits während über 20 Jahren diktatorischer Staatschef Jugoslawiens. Zum Zeitpunkt des Protestausbruchs befindet er sich auf der adriatischen Inselgruppe Brijuni. Trotz der Bitten der Studierenden, nach Belgrad zurückzukehren und eine Delegation der Protestbewegung zu empfangen, bleibt er auf der Insel.


Hier sehen Sie ein Porträt von Josip Broz Tito.

Erst ein geplantes Treffen mit dem indischen Präsidenten und die Ermüdungserscheinungen der Protestbewegung lassen ihn am 8. Juni nach Belgrad zurückkehren. Bevor er sich an die Öffentlichkeit wendet, ruft er die höchsten politischen Führungsorgane zu einer Sondersitzung. Während der Sitzung schlägt er harsche Töne an und erklärt vor allem die Gruppe der Professoren an der Philosophischen Fakultät für äusserst gefährlich.

Doch auch den BdKJ verschont er nicht. Unter Androhung scharfer Repressionen schwört er die Parteiführung auf zukünftige Einheit ein. Für die Politikerinnen und Politiker ist das Warnung genug: Sie erinnern sich an die parteiinternen Säuberungsaktionen, die im Zuge der letzten Reformen durchgeführt wurden.

Titos Versprechen…
Schliesslich wendet sich Tito in einer Rede an die Studentinnen und Studenten. Er schlägt versöhnliche Töne an, gibt sich als besorgter Vater, den die Sorge um das Wohlwollen seiner Kinder umtreibt. Er erklärt, der BdKJ kümmere sich seit längerer Zeit um die gesellschaftlichen Probleme – selbst die Veröffentlichung von Lösungsvorschlägen sei bereits geplant gewesen, nur seien ihm nun die Geschehnisse zuvorgekommen. Tito zeigt Verständnis für die Protestbewegung, spricht aber auch davon, dass es im Verlauf der Besetzung der Universitäten zur Infiltrierung durch «schädliche Elemente» gekommen sei.


Josip Broz Tito, diktatorischer Staatschef von Jugoslawien, spricht zu den Studierenden.

Tito verspricht, allfällige Gesetzesverstösse der Miliz konsequent zu verfolgen. Er gibt sich selbstkritisch und sagt, er müsse diese Probleme lösen, ansonsten habe er die Legitimation auf sein Amt verwirkt – die Aussage eines Staatspräsidenten der seine politischen Gegner gerne auf der adriatischen Insel «Goli otok» internierte und liquidierte. Die meisten der Protestierenden nehmen seine Aussagen jedoch als Bestätigung ihrer Bewegung, sie vertrauen ihm. Die Studentenproteste enden mit Titos Rede.

… sind leere Versprechen
Es gibt aber auch weniger euphorische Reaktionen. Vor allem an der philosophischen Fakultät wird Titos Rede mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Wen meint Tito mit «schädlichen Elementen», und wie will er mit diesen umgehen?

Was die Forderungen der Protestierenden betrifft, werden schliesslich einige konkrete Massnahmen eingeleitet, um zum Beispiel die materielle Lage der Studierenden zu verbessern.

Im Nachhinein entpuppen sich die Versprechen von Tito aber als Worthülsen. Nach seiner Rede leitet er repressive Massnahmen ein: gegen Praxis-Anhänger, Professoren, Philosophen und teilweise auch gegen Studierende. Auch Studentenzeitungen bekommen die Repressionen zu spüren. Entweder werden ihre Redaktionen geschlossen – oder die Zeitungen werden gerichtlich verboten.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Text basiert auf der Bachelor-Arbeit «Studentenproteste 1968 in Belgrad» von Aleksandra Petrović. Die Autorin studiert Osteuropastudien an der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern. Ihr Studium hat sie teilweise in Belgrad absolviert.

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