Kommentar

La Deutschschweiz n’existe pas

Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Daniel Goldstein /  «Ich bin Deutschschweizer.» Der Satz stimmt zwar, aber gesagt habe ich ihn noch nie; Sie wohl auch nicht.

Auch wer «ich bin Deutschschweizerin» sagen könnte, wird das selten tun. «Je suis romand» oder «romande» klingt schon viel natürlicher; vielleicht auch deshalb, weil es für die Welschen (auf Deutsch wie auf Französisch) eine eigene Bezeichnung gibt, nicht nur eine aus «Schweiz» und der Sprache gebildete. Aber auch ein Romand wird, nach der Herkunft gefragt, im Inland wohl spontan eher den Kanton nennen, im Ausland die Schweiz. Für eine Deutschschweizerin gilt das erst recht.
Es herrscht also, wenn es um die Identität geht, eher Kantönligeist als Sprachregionengeist, und das ist gut für den nationalen Zusammenhalt. Andernfalls würde der Schweiz eine «Belgisierung» drohen. Diese drohte ihr nach der EWR-Abstimmung von 1992 tatsächlich, zumal in der europafreundlicheren Romandie Identitätspflege als Gebot der Stunde gesehen wurde. Darum bemühte sich namentlich der im Jahr zuvor gegründete «Nouveau Quotidien» (der später in «Le Temps» aufging). Hinzu kam der Versuch, eine «lateinische Schweiz» zu konstruieren, der aber nur schon wegen der eher «deutschschweizerischen» Tessiner Einstellung zur EU kaum Chancen hatte. Ohnehin haben sich seither in allen Landesteilen solide Mehrheiten für den Bilateralismus gegenüber Brüssel gebildet; die Unterschiede könnten sich wieder verstärken, wenn sich dieser Weg definitiv als Sackgasse erweisen sollte.

Empfindliche Ex-Untertanen

Auch wenn die Schweiz weit von belgischen Zuständen entfernt ist: Es sollte «uns Deutschschweizern» zumindest zu denken geben, dass wir als «totos» und «zücchin» sowohl in der Romandie als auch im Tessin längst in den Genuss abschätziger Bezeichnungen kommen. Ob im romanischen und im italienischsprachigen Graubünden ebenfalls, entzieht sich meiner Kenntnis. In umgekehrter Richtung sind mir keine «Schlämperlige» für Miteidgenossen lateinischer Zungen bekannt. Mit Freiburger Witzfiguren zielen Berner nicht auf eine Sprachgruppe, und interkantonale Sticheleien überqueren kaum je den Röstigraben. Als die «Weltwoche» im Februar die Romands als «Griechen der Schweiz» zu bezeichnen beliebte, lag sie damit gewollt quer in der sprachlichen und politischen Landschaft.
Selbst wenn sie sich sonst weniger rabiat zeigt, hat Deutschschweizer Überheblichkeit wohl auch zu den erwähnten Schimpf- oder Spottwörtern geführt. Mehrheiten neigen ohnehin zur Herr-im-Haus-Mentalität, und in der Schweiz kommt hinzu, dass Deutschschweizer in weiten Teilen der französischen und der italienischen Schweiz zuerst als Eroberer auftraten. Untertanengebiete gab es freilich auch innerhalb der Deutschschweiz. Die historischen Herrschaftsverhältnisse relativieren zudem die Theorie, mit der wir Ausländern gern die Schweiz erklären: Unser Land vereinige jene Gebiete, die nicht zu den grossen jeweils gleichsprachigen Nachbarländern gehören wollten.

Ton macht Heimatmusik

Im Ausland zu sein, kann das Auge für Heimatliches schärfen – oder das Ohr: Schweizer erkennen einander oft am Tonfall, ob sie nun gerade ihre eigene Sprache oder jene des Gastlands sprechen. Mit etwas Übung bemerkt man auch die Akzente in andern schweizerischen Sprachen. Nicht wenige Romands reden ein Französisch, das dem Deutschschweizer «Français fédéral» ähnlicher ist, als sie gerne zugeben. Eine parallele Ähnlichkeit in der französischen Aussprache lässt sich übrigens auch bei Flamen und Wallonen feststellen. Das allein braucht ja noch nichts zu bedeuten.
Sprachübergreifende Heimatliebe mag in der Fremde leichter ausbrechen und den Kernsatz im Schweizer Pavillon der Weltausstellung 1992 von Sevilla Lügen strafen: «La Suisse n’existe pas.» War damals gemeint, es gebe eben mehrere Schweizen, dann sollte man diese jedenfalls nicht in erster Linie linguistisch definieren. Den sprachlichen Minderheiten mag die regionale Identitätspflege den Rücken stärken. Für die deutschsprachige Mehrheit wäre «La Suisse alémanique n’existe pas» ein staatspolitisches Gebot, wenn es nicht schon eine gut belegte Tatsachenfeststellung wäre.


Dieser Beitrag erschien zuerst in «Die Politik», Oktober 2012.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.