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Warten, hoffen, bangen: Wann gehts zurück in die Schweiz? © © sun dazed/flickr/cc

Bern liess Auslandschweizer in Chile hängen

Regula Ochsenbein und Peter Siegenthaler /  Der Bund muss Auslandschweizern in Notlage helfen. Eine Familie in Chile wartete lang darauf, bis endlich ein Gericht sie schützte.

Die Familie jublierte nicht, als das Bundesverwaltungsgericht (BVG) im März dieses Jahres ihre Beschwerde guthiess. «Nach der langen Wartezeit kommt das Urteil unverhofft. Während fast drei Jahren hing unsere Familie in der Luft, und wir konnten keine Zukunftspläne schmieden», sagt Frau R. In eine Notlage geraten war die Familie 2005, wenige Monate nach ihrer Ankunft in der neuen Wahlheimat Chile. Zuvor hatte sie 14 Jahre lang in der Schweiz gelebt, wo die heute 11- und 14-jährigen Töchter geboren wurden.

Bankrott, krank, verzweifelt

Frau R. ist peruanisch-schweizerische Doppelbürgerin. Sie wurde 1957 in Peru geboren und wuchs dort auf. 1991 wanderte sie in die Schweiz aus, in die Heimat ihres Vaters. In Zürich fand sie Arbeit. Frau R. heiratete nach Schweizer Recht und nahm den Familiennamen ihres chilenischen Ehemanns an. 2005 beschloss die Familie, ihr Glück in Südamerika zu suchen. Aber schon bald kam die Ernüchterung. Frau R. erzählt: «Mein Mann hat sein Land kaum wiedererkannt. Das Geschäft, das er mit unseren Ersparnissen und der Rückerstattung der AHV-Beiträge eröffnet hatte, ging bald bankrott. Und ich konnte mich hier nicht einleben, wurde chronisch krank und kann so bis heute nicht zum Unterhalt beitragen.»

Um Kosten zu sparen, verliess die Familie die Hauptstadt und zog in die Provinz. «Unsere Mädchen besuchen nicht mehr die teure Schweizer Schule in Santiago, sagt Frau R. Gestützt auf das Bundesgesetz über Fürsorgeleistungen an Auslandschweizer ASFG (heute heisst es Bundesgesetz über Sozialhilfe und Darlehen an Schweizer Staatsangehörige im Ausland), bat die Familie deshalb noch im gleichen Jahr um Unterstützung aus der Schweiz.

Bundesamt blockte zweimal ab

Das Gesuch wurde vom Bundesamt für Justiz mit der Begründung abgewiesen, dass Doppelbürger – deren ausländisches Bürgerrecht vorherrsche – gemäss Art. 6 ASFG in der Regel nicht unterstützt würden. Weil Frau R. nicht nur in Peru aufgewachsen, sondern fast drei Viertel ihres bisherigen Lebens im Ausland gelebt hatte, herrsche das peruanische Bürgerrecht bei Frau R. eindeutig vor. In den folgenden Jahren verbesserte sich die finanzielle Lage der Familie nicht: «Mein Mann arbeitet auf der Gemeinde. Während der Freizeit geht er verschiedenen Nebenjobs nach. So können wir uns mehr schlecht als recht über Wasser halten.»

»Für meine Kinder stelle ich mir eine bessere Ausbildung und Zukunft vor, als sie hier haben können. Wenn wir die Mittel gehabt hätten, wären wir längst in die Schweiz zurückgekehrt», sagt Frau R. Deshalb gelangte sie 2009 erneut an die Schweizer Botschaft in Santiago de Chile und bat dort um Übernahme der Reisekosten in die Schweiz. In ihrem Bericht nach Bern bestätigte die Auslandvertretung, dass sich Frau R. in Chile nie richtig wohl gefühlt und wegen Depressionen mehrere Klinikaufenthalte hinter sich habe. Die Arbeitsmöglichkeiten seien in Chile für Frau R. und ihren Ehemann sehr gering.

Gericht gibt Familie recht – nach 30 Monaten

Das Bundesamt für Justiz lehnte auch dieses Gesuch mit der oben genannten gleichen Begründung ab. Aber Frau R. wollte sich nicht damit abfinden. Im August 2009 legte sie beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde ein. Rund zweieinhalb Jahre später, im März 2012, hiess das BVG ihre Beschwerde gut. Entscheidend war, dass die beiden minderjährigen Kinder nur das Schweizer Bürgerrecht und deshalb Anspruch auf Sozialhilfeleistungen haben. Und weil die Heimreise der Kinder ohne Begleitung nicht möglich wäre, müssten auch die Reisekosten der Mutter übernommen werden, entschied das Bundesverwaltungsgericht BVG.

Frau R. hatte die Hoffnung schon aufgegeben: «Im Moment überfordert es mich», sagt. «Wir können ja nicht Hals über Kopf zusammenpacken. Mein Mann kann auch nicht über Nacht seine Stelle kündigen und die Mädchen sollten das Schuljahr hier beenden». Sie sei sich bewusst, dass es auch in der Schweiz nicht leicht sein werde, eine Arbeit zu finden. «Die Mieten sind teurer als hier, aber dafür ist die Schule gratis.» Dass das BVG 30 Monate Zeit brauchte, bis es die Beschwerde guthiess, begründet es mit dem Hinweis, es handle sich um einen nicht alltäglichen Fall.

Kein Geld für die Busfahrt

Die Absichten der Familie, ob sie in die Schweiz heimkehren wolle oder nicht, seien nicht klar gewesen. Frau R. habe lange Zeit kein Interesse am Verfahren gezeigt: «Mit verfahrensleitender Anordnung vom 30. November 2009 wurde der Beschwerdeführerin die Möglichkeit gewährt, zur Vernehmlassung der Vorinstanz (das Bundesamt für Justiz, A.d.R.) Stellung zu nehmen. Die hierfür gesetzte Frist liess sie ungenutzt verstreichen», heisst es im Entscheid des BVG. Sie habe mehrere Termine bei der Schweizer Botschaft in Santiago de Chile nicht einhalten können, sagt Frau R., «weil ich kein Geld für die Busfahrt hatte».

Um die Zeit bis zur Heimreise in die Schweiz über die Runden zu bringen, werde sie nun nochmals ein Gesuch um eine monatliche Unterstützung einreichen und hoffen, dass sie nicht wieder so lange auf einen Entscheid warten müsse. «Es war eine Fehleinschätzung unsererseits, aber der Fall ist sehr aussergewöhnlich und komplex», sagt Sandro Monti, Chef des Fachbereichs Sozialhilfe für Auslandschweizer beim Bundesamt für Justiz. Von den rund 130 Unterstützungsgesuchen, die in den letzten beiden Jahren abgelehnt worden seien, sei nur in drei Fällen die Beschwerde durch das BVG gutgeheissen worden, also in etwa knapp zwei Prozent der Fälle.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Monti sagt: «Wir haben nach dem BVG-Urteil im Fall von Frau R. sofort mit der Schweizer Vertretung in Chile Kontakt aufgenommen. Jetzt werden die Detailabklärungen gemacht. Wenn die Kriterien erfüllt sind, leisten wir Unterstützung.» Es zeichnen sich jedoch Unstimmigkeiten ab zu den Aussagen, welche die Familie früher geäussert hatte. So meldet die Schweizer Vertretung in Chile, dass die beiden Kinder Identitätskarten besässen, die auswiesen, dass sie auch die chilenische Nationalität hätten. Eine der Konsequenzen des Urteils sei, so Monti, «dass wir künftig dringliche Fälle aus humanitären Gründen herausnehmen und das Bundesverwaltungsgericht darauf aufmerksam machen werden.»

Dieser Beitrag erschien auf swissinfo.ch


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