Philosophen_Schiff_Lenin

Das "Philosophenschiff": Vor genau 100 Jahren liess Lenin unliebsame Intellektuelle auf der "Oberbürgermeister Haken" aus Russland wegbringen. © Wikipedia

Russlands unrühmliche Exodus-Tradition

Jürg Müller-Muralt /  Auswanderungswellen sind für Russland nicht neu: Vor 100 Jahren schickte Lenin Intellektuelle kurzerhand per Schiff ins Ausland.

Zuerst gingen die Reichen, später die Fachkräfte und die Intellektuellen und dann die jungen Männer, die vor der Einberufung ins Militär fliehen: Russland erlebte in den vergangenen Jahren, Monaten und Wochen einen massiven Exodus. Die Motive für Auswanderung und Flucht sind unterschiedlich, doch die Abstimmung mit den Füssen wirft ein Licht auf die Tatsache, dass für viele russische Bürgerinnen und Bürger die eigene Heimat zu einem unattraktiven, unsicheren oder gar gefährlichen Ort geworden ist.

Die reichen Russen sind mobil – und gehen

Der Geldadel reagiert besonders sensibel auf politische und wirtschaftliche Turbulenzen. Diese schmale Bevölkerungsschicht ist überdurchschnittlich mobil, verfügt häufig über mehr als einen Wohnsitz und über die Mittel, sich in Krisenzeiten frühzeitig aus dem Staub zu machen. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 verlassen wohlhabende Russinnen und Russen ihr Land in Scharen. Gemäss einer Analyse von Migrationsdaten werden bis Ende 2022 rund 15 Prozent der Russen, die ein Vermögen von mehr als einer Million Dollar ihr Eigen nennen, in andere Länder ausgewandert sein. Bereits in den vergangenen zehn Jahren seien immer mehr wohlhabende Leute aus Russland ausgewandert.

Aderlass bei den Fachkräften

Auch die in vielen Ländern gesuchten Fachkräfte kehren Russland den Rücken. Vor allem junge, gut ausgebildete Leute verlassen seit Kriegsbeginn das Land. Hunderttausende sind bereits bis zum Sommer geflohen; allein aus der IT-Branche waren es im ersten Kriegsmonat rund 70 000 Spezialistinnen und Spezialisten, wie der russische Verband für elektronische Kommunikation mitteilt. Vor allem die USA locken offensiv Fachkräfte aus Russland an; auch andere westliche Staaten erleichterten die Einreise für russische Wissenschafterinnen und Wissenschafter und Forschende. Wer nicht hinter Schloss und Riegel landen will, bloss weil er mal ein kritisches Wort wagt, geht. Bereits vor der Teilmobilmachung haben zahlreiche Ingenieure, Medien- und Kunstschaffende, Wissenschafterinnen und Wissenschafter, Ärztinnen und Ärzte das Land verlassen. Spürbar war der Aderlass bereits seit dem Sommer 2021, nachdem die russischen Behörden die Angriffe auf unabhängige Medien deutlich verschärft hatten. Zahlreiche Menschenrechts- und Bildungsinstitutionen sowie Medien sahen sich gezwungen, ihren Sitz ins Ausland zu verlegen.

Neue Fluchtdimension nach Teilmobilmachung

Mit der Teilmobilmachung vom September 2022 ist der Angriffskrieg gegen die Ukraine in der einen oder anderen Form endgültig im Alltag der meisten Russinnen und Russen angekommen – und der Exodus hat neue Dimensionen erreicht. Verlässliche Auswanderungszahlen gibt es nicht, die Schätzungen gehen von 400 000 bis über eine Million. Die Stellungspflichtigen fliehen unter teils dramatischen Umständen. Die Medien sind voll von Reportagen, allein die Titel sprechen für sich: «Alles ist besser als der Tod» (Tamedia), «Ich wollte Russland schon lange verlassen, aber nicht so. Nicht als gejagtes Tier» (NZZ), «Die beschwerliche Flucht der russischen Kriegsdienstverweigerer» (SRF, Echo der Zeit).

Auch ukrainische Wehrpflichtige flüchten

Russland steht mit seinen kriegsunwilligen Männern allerdings nicht allein da. Seit Kriegsbeginn sind gemäss Schätzungen rund 145 000 militärdienstpflichtige Männer aus der Ukraine in EU-Staaten geflüchtet. Nach Beginn des russischen Überfalls hat die Ukraine ein Ausreiseverbot für Männer zwischen 18 und 60 Jahren verhängt. Zudem wurde das gesetzlich verankerte Recht auf Kriegsdienstverweigerung ausgesetzt. Ulrich Bröckling, Professor für Kultursoziologie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau, verteidigt in einem Interview mit der WOZ das Recht auf Kriegsdienstverweigerung, unabhängig davon, ob es sich um den angreifenden oder den sich verteidigenden Staat handle: «Sich an einem Krieg nicht beteiligen zu wollen, ist ein Menschenrecht. Die Freiheit jedes Einzelnen, über das eigene Leben zu entscheiden, sollte höher stehen als das Verteidigungsrecht eines Staates.»

Emigration integrierender Bestandteil der Sowjet-Geschichte

In Russland sind Fluchtbewegungen und erzwungene Emigration kein junges Phänomen. Von der Oktoberrevolution 1917 bis zur Auflösung der Sowjetunion 1991 war «politisch oder ethnisch begründete Emigration ein integraler Bestandteil der sowjetischen Geschichte», schreibt der russische Kulturgeograph und Historiker Pavel Polian 2003 in der Zeitschrift Osteuropa – mit praktisch nahtloser Fortsetzung im «neuen» Russland des 21. Jahrhunderts. Die Immigration in die UdSSR habe dagegen während der ganzen Zeit «eine untergeordnete Rolle» gespielt.

Vier grosse Auswanderungswellen

Polian nennt vier grosse Auswanderungswellen im 20. Jahrhundert. Während der ersten Welle (1918-1922) flohen ungefähr zwei Millionen Militärangehörige und Zivilpersonen vor der in Revolution und Bürgerkrieg siegreichen Sowjetmacht sowie vor der Hungersnot. Zur zweiten Welle (1941-1947) zählt Polian jene Personen, die im Verlauf des Zweiten Weltkriegs ausserhalb der Sowjetunion stationiert waren und sich einer Repatriierung widersetzten. Die Zahl der so genannten «Nicht-Heimkehrer» wird auf rund 500 000 bis 700 000 beziffert. Die dritte Welle (1948-1989) umfasst die gesamte Emigration während des Kalten Krieges. In dieser Zeit wanderten etwa eine halbe Million Menschen aus. Dieser Aderlass dauerte auch nach 1990 an. Die Zahlen müssten jährlich fortgeschrieben werden, «da diese Welle noch in vollem Gange ist», schrieb Polian im Jahr 2003. Richtig gedreht hat sich dieser negative Trend auch in den Folgejahren nicht – im Gegenteil: Knapp 20 Jahre nach Pavel Polians Untersuchung hat sich die Auswanderungswelle wieder verstärkt.

Lenins «Philosophen-Schiffe»

Was heute in Russland geschieht, hat also eine lange, unrühmliche Tradition. Die Zwangsexilierung von kritischen Geistern, «unzuverlässigen» Akademikern, Philosophen, Schriftstellern, Mitgliedern gelehrter Gesellschaften sowie Journalistinnen und Journalisten erlebte vor genau 100 Jahren einen ersten, grotesken Höhepunkt: Im Herbst 1922 verliessen zwei Schiffe voller Intellektueller den Hafen von Petrograd (später Leningrad, heute St. Petersburg) Richtung Stettin. Bekannt geworden ist die Exilierungsaktion unter dem Begriff «Philosophen-Schiffe». Wladimir Iljitsch Lenin höchstpersönlich stellte die Liste von Personen zusammen, die ihm als Protagonisten und Wortführer der Opposition gegen das bolschewistische Regime aufgefallen waren. Der Revolutionsführer setzte speziell eine neue Norm im Strafgesetzbuch durch, die da lautete: «Verbannung ins Ausland als Ersatz für die Verhängung der Todesstrafe durch Erschiessen». Diese «humane» Strafe bedeutete allerdings nicht, dass zusätzlich und später auch ganz andere Saiten aufgezogen wurden.

Trotzki wie Putin: «Ausländische Agenten»

Leo Trotzki, der massgebliche organisatorische Kopf der Oktoberrevolution von 1917, lieferte in einem Interview mit der Parteizeitung Prawda propagandistische Schützenhilfe mit gespenstischer Argumentation: «Diese Elemente, die wir ins Ausland schicken oder schicken werden, sind für sich genommen politisch bedeutungslos. Aber sie sind potenzielle Waffen in den Händen unserer möglichen Feinde. Im Falle neuer militärischer Verwicklungen, die bei all unserer Friedensliebe nicht auszuschliessen sind, werden all diese unversöhnlichen und unverbesserlichen Elemente zu militärisch-politischen Agenten des Feindes werden.» Das erinnert an die heutige Haltung des Kremls, der unbotmässige Medien und regierungskritische Organisationen in Russland seit langem als «ausländische Agenten» behandelt – sofern sie nicht bereits verboten sind.

«Rücksichtsloser Wille zur Macht»

Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel schreibt in seinem Monumentalwerk «Das sowjetische Jahrhundert: Archäologie einer untergegangenen Welt» (C.H.Beck, München 2017): «Der Philosophen-Dampfer steht für die Rücksichtslosigkeit der bolschewistischen Macht, für ihren Gleichschaltungswahn. (…) In der Exilierungsaktion kamen eine feine Witterung Lenins für ideologische Strömungen innerhalb der Intelligenz, ein Wissen um die schwache Legitimation der Sowjetmacht, aber auch ein rücksichtsloser Wille zur Macht zum Tragen.»

Die Philosophen-Schiffe sind bloss der zynische Gipfel der Vertreibungsaktion. Insgesamt haben in den Jahren nach der Revolution und der noch fragilen Sowjetdiktatur zwischen einer und drei Millionen Menschen das Land verlassen. Im Gegensatz zur Flucht- und Emigrationsbewegung aus dem von Hitler beherrschten Europa ist dieser andere grosse Exodus des 20. Jahrhunderts laut Schlögel im öffentlichen Bewusstsein weit weniger verankert. Dies, obschon grosse Namen darunter sind: so etwa die Maler Marc Chagall und Wassily Kandinsky, Schriftsteller wie Vladimir Nabokov und Iwan Budin, Ökonomen und Soziologen wie Pitirim Sorokin und der Wirtschafts-Nobelpreisträger Simon Kuznets, Musiker wie Igor Strawinsky und Sergei Kussewizki oder Philosophen wie Nikolai Berdjajew und Alexandre Kojève. Berlin, so schreibt Karl Schlögel, «war in den Jahren 1922-1924 mit über 300 000 russischen Emigranten die Hauptstadt des Exils mit Dutzenden von Verlagen, zahlreichen Tageszeitungen, unendlich vielen Journalen, einem Russischen Wissenschaftlichen Institut mit herausragenden Köpfen.» Und: «Bis heute sind die Spuren russischer Kultur und Gelehrsamkeit rund um den Globus zu finden.»

Es scheint, dass der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und Putins Repression im Innern diesem Reservoir «russischer Kultur und Gelehrsamkeit rund um den Globus» gerade wieder neue Kräfte zuführt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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