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Mehr und mehr nationalistische Politik im deutschen Bundestag in Berlin © wp

D: Christliche Kreise fordern Repolitisierung

Christian Müller /  Der deutsche Wahlkampf verläuft bisher wenig ergiebig. Nun wehren sich christliche Kreise gegen die zunehmende Entpolitisierung.

Politik ist die Kunst des Zusammenlebens. Die von uns gestaltete Kunst des Zusammenlebens, müsste man diese Kürzestdefinition ergänzen. Dass sich das Zusammenleben auf alle Menschen bezieht, ist selbstredend.

Die institutionelle Politik der Parteien und der gewählten Politiker kümmert sich aber immer öfter um die eigenen Vorteile, zum Beispiel um die Vorteile der eigenen, nationalen Wirtschaft. Nicht zuletzt auch in Deutschland. Das ist, im philosophischen Sinne, eine Entpolitisierung.

Deutliche Worte

«Wir wollen nicht länger hinnehmen, dass eine Debatte über langfristige gesellschaftliche Ziele nicht nur nicht stattfindet, sondern offenbar auch nicht gewollt ist.»

Und: «In selbstgerechter Arroganz zeigt man auf Probleme anderer Länder und verschweigt, welchen Anteil wir (Deutschen) daran haben. Eine Politik, die in Europa soziale Ungleichheiten verschärft, bereitet den Nährboden für einen neuen Nationalismus.»

Diese deutlichen Worte stehen in einem Offenen Brief an die Parteien, den christliche Kreise in Deutschland im Hinblick auf die Bundestagswahlen am 22. September 2013 eben veröffentlicht haben. Die Kritik aus dem eigenen Land nennt auch konkrete Beispiele:

«Wir halten es für verlogen, wenn deutsche Politik den eigenen Bürgern suggeriert, dass ihre Steuern für die Schulden anderer Länder aufzukommen haben, wo in Wahrheit doch Deutschland der größte Profiteur der Schulden der Anderen ist.»

Und: «Die Bundesregierung hat mit der Behauptung, die Krisenländer lebten über ihre Verhältnisse, Maßnahmen mitverantwortet, die die Wirtschaft der betroffenen Länder kollabieren und die Arbeitslosigkeit explodieren ließen. So wurde ein politisches Klima erzeugt, in dem Populismus und Nationalismus gedeihen.»

Harte Worte, aber auch wahre Worte. Der von zehn namhaften Persönlichkeiten unterschriebene Offene Brief trägt den Titel: «Gegen den Verlust des Politischen». Ein mutiger Vorstoss in Zeiten, wo alle nur von Wettbewerb und der eigenen, vermeintlich gefährdeten Wettbewerbsfähigkeit sprechen.

Hier der vollständige Text des Offenen Briefes:

Gegen den Verlust des Politischen
Offener Brief von Christen zur Bundestagswahl

Wir wenden uns mit diesem Brief an alle, die von der Politik in unserem Land enttäuscht sind, wie von einer Lähmung befallen und fast kapitulieren vor der Frage, was sie wählen und ob sie überhaupt wählen sollen. Wir wollen aber nicht länger hinnehmen, dass eine Debatte über langfristige gesellschaftliche Ziele nicht nur nicht stattfindet, sondern auch offenbar nicht gewollt ist. Mit diesem Verlust des Politischen finden wir uns nicht ab. Wir weisen mit unserem Brief auf zwei für uns wesentliche Politikfelder hin. Wir wissen uns der oekumenischen Friedens- und Gerechtigkeitsarbeit verpflichtet. Wir vertrauen der Kraft der Zivilgesellschaft. Eine «marktkonforme Demokratie» wie ein scheinbar alternativloses «weiter so» akzeptieren wir nicht.

1.
Deutschland wird immer mehr zum Akteur einer militär-gestützten Interessen- und Machtpolitik. Die Logik entgrenzter Kriegsführung tritt an die Stelle der vom Grundgesetz gebotenen Friedensverpflichtung. Statt die Tradition militärischer Zurückhaltung, einst Kern deutscher Friedenspolitik, zu nutzen, bedient die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik vor allem nationale Egoismen mit Hilfe militärischer Mittel. Dass die Maxime «Vorrang für Zivil» nahezu aus dem Vokabular der deutschen Politik verschwunden ist, gehört zu den Defiziten der letzten fünf Jahre. Es gibt kaum noch Initiativen, die ein vorrangiges Interesse deutscher Politik an Prävention erkennen lassen. Die Bundeswehr wird von der Politik zum Generalbevollmächtigten deutscher Friedensverantwortung hochstilisiert. Diese Entwicklung lehnen wir entschieden ab.

Wie perspektivlos diese Politik ist, zeigt das Beispiel Afghanistan. Der Versuch, in Afghanistan mit militärischen Mitteln nachhaltigen Frieden zu schaffen, ist gescheitert. Dennoch wird die Bundeswehr zu einer weltweit aktiven Einsatz-Armee umgebaut. Ihre strategische Aufgabe ist es, den nationalen Interessen Deutschlands Geltung zu verschaffen. Es gebe keine Region der Welt, «in der Deutschland nichts zu suchen habe» (Verteidigungsminister de Maiziere, 2012). Oberste politische Priorität hat nicht mehr die Friedensverpflichtung des Grundgesetzes, sondern die Sicherung des ungehinderten Zugangs zu Rohstoffen durch militärische Interventionsfähigkeit.

Deutschland ist mittlerweile der drittgrößte Waffen- und Rüstungsexporteur der Welt. Mit dieser expansiven Rüstungsexportpolitik betreibt die Bundesregierung Wirtschaftsförderung für die eigene Klientel. Unverblümt gibt die Kanzlerin die skandalösen Waffenexporte in Spannungsgebiete als Teil deutscher Friedenspolitik aus. Diese Vernebelung, die durch die völlig undurchsichtige Genehmigungspraxis des Bundessicherheitsrates gestützt wird, darf der Bundestag nicht länger hinnehmen. Deutsche Rüstungsexporte vergrößern das Gewaltpotential in regionalen Konflikten, erschweren die Chancen für friedliche Lösungen und erhöhen die Gefahr neuer Kriege. Friedenspolitik durch Waffenexporte betreiben zu wollen ist ein Armutszeugnis für die deutsche Politik. Mehr Waffen schaffen nicht mehr Sicherheit, nirgends.

Der Verteidigungsminister will bewaffnete Drohnen anschaffen. Er hält sie für «ethisch neutral». Ihr Einsatz sei wie jeder andere, nur weniger gefährlich für «uns». Wir halten es für einen Skandal, dass er mit dieser Auffassung auch noch vom bisherigen Evangelischen Militärbischof Martin Dutzmann unterstützt wird. Die Beschaffung von Kampfdrohnen für die Bundeswehr verdeutlicht das fatale Zwangsgefälle, das von neuen technologischen Entwicklungen für die weltweite Rüstungsdynamik ausgeht. Wir warnen vor diesen Entwicklungen. Vor allem möchten wir erreichen, dass die Gefahren, die sich aus dieser schleichenden, kaum diskutierten Militarisierung der deutschen Politik ergeben, öffentlich bewusst gemacht werden. Nur so kann es gelingen, diesen gefährlichen Entwicklungen zu widerstehen.

2.
Wir leben in einem reichen Land, privilegiert und besser dran als viele Menschen in anderen Staaten und Regionen der Welt. Wir schätzen die offene Gesellschaft, die überwiegend tolerante Grundhaltung, die der Bundesrepublik ein nach außen sympathisches Gesicht gibt. Dazu würde eine mutige, den großen Möglichkeiten unseres Landes entsprechende Politik passen, die sich den Aufgaben der Zukunft stellt. Selbst eine Debatte darüber findet nicht statt. Dieser Verzicht führt zu einer Lähmung der Demokratie.

Zum Verlust des Politischen in unserer Gesellschaft tragen auch die Oppositionsparteien bei. Sie verhalten sich wie abhängige Konsumenten, die die Produkte der Regierung zwar kritisieren, sie am Ende aber kaufen: in der Finanzkrise, in der Europapolitik, bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr. So erleben wir nach innen ein politisch eher erstarrtes Deutschland, in dem sich eine permanente Große- Koalitions-Stimmung wie Mehltau verbreitet, die die vorhandenen sozialen und politischen Gegensätze nicht bearbeitet. In selbstgerechter Arroganz zeigt man auf Probleme anderer Länder und verschweigt, welchen Anteil wir daran haben. Eine Politik, die in Europa soziale Ungleichheiten verschärft, bereitet den Nährboden für einen neuen Nationalismus. Deshalb warnen wir nicht nur vor einer Militarisierung, sondern auch vor einer nationalistischen Vorteilsnahme unserer Politik. Sie bedroht Europas Zukunft.

Deutsche Politik hat maßgeblich daran mitgewirkt, dass die durch globale Finanzmärkte ausgelöste, und von den Staaten aufgefangene Finanzkrise anschließend zu einer Staatsschuldenkrise umgedeutet und den Ländern zur Last gelegt wurde, begleitet von subtiler nationalistisch gefärbten Rhetorik. Wir halten es für verlogen, wenn deutsche Politik den eigenen Bürgern suggeriert, dass ihre Steuern für die Schulden anderer Länder aufzukommen haben, wo in Wahrheit doch Deutschland der größte Profiteur der Schulden der Anderen ist.

Die Bundesregierung hat mit der Behauptung, die Krisenländer lebten über ihre Verhältnisse, Maßnahmen mitverantwortet, die die Wirtschaft der betroffenen Länder kollabieren und die Arbeitslosigkeit explodieren ließen. So wurde ein politisches Klima erzeugt, in dem Populismus und Nationalismus gedeihen. Eine Gefahr für die europäischen Demokratien. Dieser Gefahr muss dadurch begegnet werden, dass eine europäische Solidargemeinschaft den ruinösen Staatenwettbewerb ablöst.

Wir wollen mit diesem Offenen Brief erreichen, dass unser entschiedenes Nein zu nationalen Egoismen in Europa, zur Militarisierung unserer Politik und unseres Denkens, unser Nein zur Aufrüstung mit Kampfdrohnen von möglichst vielen Menschen bei ihrer Stimmabgabe bei der Wahl am 22.September mit bedacht werden.

Berlin, im Juli 2013

Die unterzeichnenden Autorinnen und Autoren:

Almuth Berger (Berlin, ehemalige Ausländerbeauftragte Brandenburgs), Volkmar Deile (Berlin, ehemaliger Generalsekretär amnesty international Deutschland), Heino Falcke (Erfurt, ev. Theologe; Probst i. R.) , Joachim Garstecki (Magdeburg, kath. Theologe, ehemaliger Generalsekretär Pax Christi Deutschland) Heiko Lietz (Güstrow, ev. Theologe, Mitbegründer Neues Forum), Ruth Misselwitz (Berlin, Theologin, Mitbegründerin des Pankower Friedenskreises, ehemalige Vorsitzende der Aktion Sühnezeichen), Hans Misselwitz (Mitbegründer Pankower Friedenskreis, ehemaliger Leiter Büro Thierse), Konrad Raiser (Berlin, ev. Theologe, ehemaliger Generalsekretär des Weltrats der Kirchen in Genf), Gerhard Rein (Berlin, Journalist) und Hans-Jochen Tschiche (Satuelle, Mitbegründer Neues Forum, ehemaliger Leiter der Ev. Akademie Magdeburg).

Kontakt:
Gerhard Rein, Meinekestraße 6, 10719 Berlin,
Tel. 030-2177113; gerhardrein@gmx.de

(Auszeichnungen innerhalb des hier vollständig wiedergegebenen Briefes von cm)


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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