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Die Politik in Schweden: Wenige Vorschriften, aber eindringliche Empfehlungen © Regula Bähler

Corona-Sommer in Stockholm: Überhaupt kein «Laissez-faire»!

Regula Bähler /  Menschen, dicht an dicht in Gaststätten. Das sind Bilder aus der Vergangenheit. Umsicht aus Einsicht prägt die gebührende Distanz.

Red. Regula Bähler hatte früher in Stockholm gelebt und hielt sich auch dieses Jahr wie jeden Sommer in dieser Stadt auf. Sie sammelte Alltagsimpressionen unter der schwedischen Corona-Politik.
Nur noch wenige Touristen auf der Brücke ins Glück

Diese Brücke führt definitiv ins Glück. Jedenfalls im deutschen Herz-Kino der Inga Lindström alias Christiane Sadlo. Denn am Ende dieser Brücke, die irgendwo in Stockholm liegt, klären sich jeweils alle albernen Missverständnisse auf und der Liebe des Lebens steht nichts mehr entgegen. Die Brücke erfreut als filmisches Versatzstück jedenfalls die Tourismusindustrie, genauso wie die ehemals adligen Schauplätze auf dem Land. Auch wenn ganz Schweden den Kopf schüttelt ob der Schmonzetten, in denen sich die deutschsprachigen Darstellerinnen und Darsteller mit viel Hej! und Hej då! durch die hellen Sommernächte gebärden.
Fast werden sie ein wenig vermisst, die Touristenscharen. Und so präsentiert sich die Bucht, an deren Ufern sonst die Kreuzfahrtriesen und Finnland-Fähren anlegen, gespenstisch leer. Die Schiffe verkehren zwar nach einem reduzierten Fahrplan, doch ist auf den Decks niemand zu sehen, der einem imaginären Abschiedskommando zuwinkt. Keine Yachtmotoren zerschneiden die gedämpfte Mittagsruhe und die Schlagzeilen über Fahrlässigkeit im Schiffsverkehr sind äusserst überschaubar. Ebenso jene über Trunkenheit am Bootssteuer und die Senkung der Promillegrenze auf dem Wasser von 0,2 auf 0, die jeden Sommer wiederkehren.
Das Café auf dem Dreimaster af Chapman, seit dem Zweiten Weltkrieg eine Jugendherberge für alle Alterskategorien, ist geschlossen. Die Buchung von Übernachtungen nimmt sich bescheiden aus. Laut einer Mitteilung der Stockholmer Handelskammer sind im Vorjahresvergleich des zweiten Quartals 89 Prozent der ausländischen Gäste ausgeblieben. Von einer Kompensation durch Reisende im eigenen Land kann keine Rede sein. Wer hat, verbringt die Sommerferien im eigenen Freizeithaus, an einem See oder einer Küste, wer nicht hat, mietet eines, und wer nicht kann, ist weitgehend zuhause geblieben. In den öffentlichen Verkehrsmitteln wird darauf hingewiesen, dass auf Ausflüge in die Schären bloss zum Vergnügen verzichtet werden soll. Beispielsweise zu den Fjäderholmarna, wo sich sonst Touristen und Einheimische um die warm geräucherten Crevetten ebenso wie einen Tisch direkt am Wasser balgen. Die SL-Verkehrsmittel, also jene von Storstockholms Lokaltrafik, seien jenen vorbehalten, die unbedingt – absolut – reisen müssen, heisst es auch auf der Homepage der Verkehrsbetriebe.

Blaue Punkte motivieren zum entspannten Nebeneinander

Im Linienschiff 80, das vom Vorort Nacka in die Innenstadt fährt, herrscht entspanntes Nebeneinander. Von wenigen Ausnahmen abgesehen wird beherzigt, was auf den überall angebrachten blauen Punkt steht, sowohl in den Fahrzeugen wie auch draussen an den Haltestellen: «Danke, dass du Rücksicht zeigst und Abstand hältst.» Noch hat es genügend Platz, um sich zu verteilen.
Im letzten Sommer war das Gedränge enorm. Manche Schiffe hatten schon gar nicht erst angelegt. Im Lautsprecher erschallte die Durchsage, wonach niemand zusteigen könne, weil es keinen Platz mehr habe. Chinesische Reisegruppen hatten entdeckt, dass gut und gern 60 oder mehr Personen in einen Bus oder ein Schiff des öffentlichen Verkehrs passen – selbst mit riesigen Koffern. Und Reisegruppen aus China waren es letztes Jahr viele, zum ersten Mal gab es Direktflüge nach Stockholm, ohne Zwischenstopp in Kopenhagen. – Wer zu einer bestimmten Zeit im Stadtzentrum sein musste, musste den Bus nehmen. Was ziemlich mühsam war und ist. Unterwegs ist die Brücke in Henriksdal meist hochgeklappt und dann heisst es warten, bis die Boote gemütlich nach Hammarby hinein- oder herausgetuckert sind. Das scheint hier ebenso wenig zu stressen wie das vergebliche Warten aufs Linienschiff. Man nimmt hin, was nicht zu ändern ist.
Ein klein wenig Ärger kommt höchstens an der Endhaltestelle Slussen auf. Seit Jahren herrscht hier das nackte Bau-Chaos. Das einst berühmte Kleeblatt kreuzungsfreier Strassenführung über der U-Bahn und der Schleuse zwischen Süss- und Salzwasser wird seit Jahren vollständig umgestaltet. Vielleicht 2025, vielleicht auch später, ist das Ganze fertig. Die endlosen Holztreppen und -Gänge, die über und durch die Baustelle führen, sollen aber bald durch eine goldene Brücke abgelöst werden. Diese verbindet die Altstadt mit dem Stadtteil Söder und ist bereits vor Ort. Mit ihren 140 Metern Länge und 45 Metern Breite war sie in einem Stück von der Herstellerin China Railway Shanghaiguan Bridge Group über den Seeweg transportiert worden, um im März 2020 anzukommen. Das Einpassen in die vorgefertigte Lücke stimmte auf den Zentimeter. Die Stadtverwaltung Stockholm rief die Bevölkerung auf, wegen Corona zuhause zu bleiben und das Spektakel im Livestream zu verfolgen. Was weitgehend beachtet worden ist.

Eine 50-Personen-Vorschrift legt den Vergnügungspark still

Für Freizeit- und Vergnügungsparks gibt es keine Ausnahme von der 50-Personen-Regel, welche für allgemeine Versammlungen und Veranstaltungen gilt. So stehen die Anlagen von Gröna Lund still, auch die 80 Meter hohe Installation, welche in der Variante Fritt Fall Tilt mit nach vorne gesenkter Gondel und 3,5 g dem Boden zurast. Die Schreie, auch der angeblich Mutigen, die weit übers Wasser getragen werden, auch sie fehlen als Teil der Sommerstimmung in Stockholm.
Gleich dahinter liegt das älteste Freilichtmuseum der Welt, der Skansen. Einige Häuser, in der traditionelles Handwerk vorgeführt wird, sind geschlossen. Nicht so die alte Schweizeri, einst eine Art Konditorei mit Likör- oder Punschausschank, welche Zuckerbäcker aus dem Engadin ins Land brachten. So erzählt man sich, dass in eben dieser Schweizeri anfangs des 20. Jahrhunderts an einem Sommersonntag gut und gerne 2’000 Punschgläser über den Tisch gingen. Zu einem Zeitpunkt, als die Volksbewegung der Abstinenzler in Schweden auf ihren Höhepunkt zusteuerte.
Das gemeinschaftliche Singen – der Allsång – wurde nicht abgesagt, aber modifiziert. Seit nunmehr 85 Jahren findet dieses in den Sommermonaten im Skansen statt. Das Publikum schaut aufs Wasser, die Silhouetten der Stadt und singt zur Eröffnung jeweils so etwas wie eine Hymne auf Stockholm –Stockholm i mitt hjärta. Alt, also um 90 oder drüber, und Jung, noch nicht den Windeln entwachsen, haben das Textbuch vor sich und intonieren sich mit den Interpreten auf der Bühne und der Moderatorin durch das ganze Programm. Soweit sie dieses nicht ohnehin auswendig können. Schon am frühen Nachmittag finden sie sich ein, um einen der begehrten Plätze zu ergattern, mit Proviant, Sonnenhut oder eingehüllt in den Regenschutz. Kein Wetter vermag sie abzuhalten. Und natürlich hoffen sie darauf, dass Sanna Nielsen, die Moderatorin und Sängerin, mit dem Mikrofon vorbeikommt und sie gleichsam mit einem Solopart im Fernsehen sind. Seit Jahrzehnten ist der Allsång fester Bestandteil des Sommerabend-Hauptprogramms des ersten öffentlich-rechtlichen Kanals. Im ganzen Land sitzen sie vor den Bildschirmen und singen zuhause mit. So auch 2020, sogar nur von zuhause, aber ohne Mitsingen, wie’s eigentlich gedacht war. Via Duo App sind sie auf dem gesplitteten Bildschirm zugeschaltet und inszenieren sich vor allem selbst. Sie strecken Hunde und Babys in die Kamera und zelebrieren ihre Snacks. Sanna und ihre Gäste versuchen derweil angestrengte Heiterkeit von der Bühne zu verbreiten. Der Allsång fällt Corona zum Opfer in einem Land, in dem Singen eine Volksbewegung ist.
Der schwedische Dachverband der Chöre – der über 600’000 Mitglieder zählt – notiert, seit März stehe alles still. Erst in der zweiten Augustwoche rät die zentrale Gesundheitsbehörde, Chorproben in kleinen Gruppen wieder aufzunehmen, gerne draussen, unter Einhaltung eines Abstandes von zwei Metern. Schon stehen die ersten in Stockholms Parkanlagen und auf den Friedhöfen und lockern die Stimmbänder und Sinne. Gemeinsames Bienensummen, «Mimimimiii» und mehrstimmiges Herantasten an die Grenzen des Stimmumfangs hallt unter dem Fichtenkleid. Aber schon sind die Tage spürbar kürzer und der nächste Winter steht vor der Tür.

Ein kleiner Elch als Massstab zum Abstandhalten
Für den allgemeinen Umgang empfiehlt die zentrale Gesundheitsbehörde einen Abstand von mindestens einer Armlänge. Solange es keine Studie gebe, welche eine exakte Grenze vorgibt, werde man nicht präziser. Doch taucht im Alltag immer wieder ein kleiner Elch als Mass aller Vorsicht auf. So wie in Österreich der Babyelefant, der dem vorgeschriebenen Meter Abstand entspricht. Ein äusserst interessanter zoologischer Vergleich, der nebst signifikanten kulturellen Unterschieden auch den Klimawandel berücksichtigt. Es hat sich nämlich erwiesen, dass Elche angesichts der zunehmend heissen Sommer in Schweden immer kleinwüchsiger auf die Welt kommen und dieses Defizit im später nicht mehr aufholen. Über die Geburtsgrösse der österreichischen Elefanten weiss man nichts Genaueres. Nicht zuletzt wegen der Abwesenheit der Väter, die sich in diversen afrikanischen Staaten aufhalten.

In Restaurants gilt ein Mix aus Vorschriften und Empfehlungen

Was Restaurants angeht, hat die zentrale Gesundheitsbehörde die Armlänge präzisiert. Der Abstand zwischen Gästen, die nicht zur selben Gesellschaft gehören, soll mindestens einen Meter ausmachen. Innerhalb einer Gruppe von Bekannten sollen jede und jeder Einzelne die Verantwortung dafür übernehmen, Ansteckungen zu vermeiden. Die Obergrenze von 50 Personen gilt nicht, soweit niemand im Lokal singt oder tanzt. Jedoch wird den Lokalbetreibern nahegelegt, grössere Gruppen bei der Platzierung aufzuteilen. Ausserdem ist es Pflicht, beim Eingang, bei den Toiletten und anderen Räumlichkeiten gut sichtbar Informationen anzubringen, über das Abstandhalten, die Händehygiene und dass Essen und Trinken nur am Tisch sitzend erlaubt ist.
Derweil scheinen die Bilder von sich unbekümmert in Gaststätten zusammenpferchenden Menschen immer noch allgegenwärtig. Doch diese Zeiten sind längst passé. Seither ist viel geschehen. Nicht nur, dass sich die ersten wärmenden Sonnenstrahlen zu einem veritablen Sommer gebündelt haben. Die Einsicht, dass es auf das Verhalten eines und einer jeden Einzelnen ankommt, hat sich zu einem breiten Konsens ausgewachsen.
Gegenseitige Rücksichtnahme ist grossgeschrieben. Nicht nur dort, wo im Verkehr die runden Aufkleber oder im Restaurant individuell gestalteten Schilder dazu ermahnen. Bei aller Vorsicht vor Verallgemeinerungen, aber die Schwedinnen und Schweden gelten als
laglydiga – als solche, die nicht nur Gesetze, sondern allgemein Regeln befolgen. Zumindest soweit diese sachlich begründet sind. Es ist einfach vernünftig, Abstand zu wahren. Viele reden denn auch nüchtern von Covid-19, wobei «Corona» im alltäglichen Sprachgebrauch etwas im Vormarsch ist.
Und ja, da findet sich noch ein Rest gelebter Solidarität, auch wenn die gegenwärtige sozialdemokratisch angeführte Koalitionsregierung mit dem Rücken zur Wand steht und vorsorglich bürgerliche Politik betreibt.
Umsicht, oder Vorsicht, widerspiegelt sich auch in den Restaurants, beispielsweise im Grodan – im «Frosch» – im Stadtteil Östermalm. Die Küche ist immer noch auf französische Brasserie-Gerichte ausgerichtet, ergänzt durch solide schwedische Hausmannskost. Doch findet sich nun zu jeder Tageszeit noch Platz. Auch jetzt, wo die Stockholmer aus den Ferien zurückkehren. Vor Corona war das Restaurant über Mittag eher den Geschäftsleuten vorbehalten und am Abend einer der Hotspots des Sehens und Gesehenwerdens der Ausgangsmeile im unmittelbaren Umfeld.

Freiwillige Reduzierung der Öffnungszeiten

Die Sitzgelegenheiten vor dem Kulturhaus stehen im Zeichen von dessen Neueröffnung nach einer anderthalbjährigen Renovation. Der Zuspruch hält sich mitten in der Stadt, wo am Sergels Torg sämtliche U-Bahn-Linien zusammenlaufen, in Grenzen. Dazu passt auch, dass die meisten Einkaufszentren und Geschäfte in der Stockholmer Innenstadt ihre Öffnungszeiten drastisch reduziert haben. Um die Verbreitung des Coronavirus möglichst zu reduzieren, gleichsam als freiwillige vorsorgliche Massnahme. Vor elf Uhr vormittags hat kaum ein Laden geöffnet, der nicht zur Grundversorgung gehört. Die Systembolaget, die staatliche Gesellschaft, welche über das Monopol für den Verkauf von alkoholischen Getränken mit mehr als 3,5 Volumenprozent verfügt, deckt offenbar essentielle Grundbedürfnisse ab und schliesst bereits um 10 Uhr auf.
Dann gibt es noch die, welche während der Ferienzeit ohnehin geschlossen haben – sommarstängt –, einfach weil Sommer ist. Der ist verhältnismässig kurz. Umso länger sind die Ferien, die für die meisten um Mittsommer nach dem 20. Juni beginnen und um den 10. August enden.

Der Alltag geht weiter – mit Umsicht
Wir begrüssen uns mit Björnkramar, etwa so, wie sich wahrscheinlich dicke Bären umarmen, also ohne Küsschen links, Küsschen rechts. Mittendrin bricht Jubel aus. Das Spiel, das im Hintergrundläuft, währt erst drei Minuten und schon hat Zlatan für AC Milan den ersten Führungstreffe gegen Sampdoria erzielt. Nach dem Match wird er sagen, er sei wie Benjamin Button, er werde niemals alt. Noch bis Ende des Monats bleibt er bei den Rossoneri. Dann wird er wohl nach Schweden zurückkehren. Aber nicht zu Malmö FF, sondern zu Hammarby IF, dem Stockholmer Erstligisten, in dem er vergangenes Jahr Anteilseigner geworden ist.
Mittlerweile doch 38-jährig sorgt er Benjamin Button zum Trotz vor, nebst der Vermarktung von Zlatan-Sport-Pflegeprodukten, die er laut Werbung selbst alle braucht – jene der Linie «Pour Homme», versteht sich.
Der Wechsel in die Hauptstadt verübelt ihm ganz Malmö. Zlatans Statue dort ist nun endgültig vom Sockel gestossen worden. Im Fussball-Stockholm macht sich aber Begeisterung breit, selbst in Kreisen der eingefleischtesten AIK-Anhänger, des Allmänna Idrottsklubben. Obwohl schon etwas angejahrt, sei er einfach der Beste. Was Zlatan auch von sich sagt. Janne pflichtet ihm bei. Seit Kindsbeinen ist er AIK-Mitglied, ebenso sind es seine beiden Söhne, und nun ist es auch der dreimonatige Enkel, auf Lebenszeit. Egal, dass dem AIK der Abstieg aus der ersten Liga droht. Hauptsache, es gibt guten Fussball, auch wenn der Goal Getter beim Stadtrivalen Hammarby mittut.
Janne wird auch nicht alt werden, seine Gesundheit macht nicht mehr mit. Er verbringt die ihm noch verbleibende Lebenszeit zuhause, unterbrochen von möglichst kurzen Spitalaufenthalten, und wird im Rahmen der weiterführenden Krankenpflege zuhause rund um die Uhr palliativ betreut. Mehrfach pro Tag – oder einfach so oft, wie er es braucht oder haben will – erhält er Besuch von Ärztinnen, Krankenpflegern, Physiotherapeuten, Ernährungsberaterinnen und Personen, welche sicherstellen, dass er gleich gut wie in einem Spital aufgehoben ist. In den letzten Monaten hat er wegen der Corona-Pandemie keinerlei Einschränkungen erfahren. Das alles für 100 Kronen, knappe zehn Franken, im Tag. Die Medikamente sind gratis. – Nicht der richtige Zeitpunkt, um Kritik am schwedischen Gesundheitssystem anzubringen. Beispielsweise an den seit Corona weiter angewachsenen Warteschlangen für nicht notfallmässige Operationen.
Gesundheitsbehörde regelt u.a. Besuche in Alters- und Pflegeheimen


Bei der zentralen Gesundheitsbehörde – Folkhälsomyndigheten – werden die Weichen gestellt. Auch wenn auch hier grad umgebaut wird, bei der Behörde wird weitergearbeitet.
In ihre Kompetenz fällt zum einen der Erlass von verbindlichen Vorschriften. Dazu gehören etwa das Verbot von Ansammlungen von mehr als 50 Personen (ausser in Restaurants), die Anweisung an die Restaurantbetreiber oder auch das Besuchsverbot in Alters- und Pflegheimen, welches die Regierung bis zum 31. August 2020 verlängert hat, wobei die zentrale Sozialbehörde – Socialstyrelsen – beauftragt ist, Ausnahmen für sichere Besuche festzulegen. Die wichtigsten sind: die Besuche nach draussen verlegen oder Plexiglaswände aufstellen. Speziell ist, dass symptomfreie Personen, die Antikörper gegen Covid-19 aufweisen, ihre Angehörigen besuchen dürfen. Dies nachdem die für die Institution verantwortliche Person nicht nur eine Beurteilung der konkreten Umstände des Einzelfalls, sondern auch der Verlässlichkeit des Antikörpertests vorgenommen hat. – Für die in regionaler und kommunaler Regie geführten Einrichtungen der Gesundheits- und Krankenpflege gelten die Vorschriften der Sozialbehörde.
Das Gesetz über den Schutz vor ansteckenden Krankheiten – Smittskyddslagen – umschreibt nicht nur die Aufgaben der Gesundheitsbehörde bei Epidemien, sondern betont vor allem die Verantwortung jedes Einzelnen, die Ansteckung möglichst zu begrenzen. Dazu gibt die Volksgesundheitsbehörde allgemeine Empfehlungen ab wie bei geringsten Symptomen zuhause zu bleiben, sowohl drinnen wie draussen Abstand zu halten, die Hände mit Seife und Wasser mindestens 20 Sekunden zu reinigen. Besondere Risikogruppen, Personen mit Vorerkrankungen und über 70 Jahre alt, sind dazu aufgerufen, nahe Kontakte zu anderen zu vermeiden, und sich nicht an Orten aufzuhalten, an denen sich viele andere versammeln. Das Tragen von Mund-/Nasenschutz gehört ausdrücklich nicht zu diesen Empfehlungen.
Doch sieht sich Staatsepidemiologe Anders Tegnell immer wieder und vermehrt der Frage einer Maskenpflicht konfrontiert. Er analysiert im Auftrag der zentralen Gesundheitsbehörde die nationale und internationale Entwicklung der Covid-19-Krankheit, genau so wie deren Konsequenzen auf die Individuen und die Gesellschaft, um darauf basierend die Arbeit zur Bekämpfung zu koordinieren.
In der ersten Augustwoche ist er in den Medien richtiggehend gegrillt worden. Denn nun kehren alle von den Ferien an ihre Arbeitsplätze und in die Schulen zurück.

Nach den Ferien droht Gedränge beim Pendeln

Die Direktorin des Dachverbandes Svensk Kollektivttrafik, Helena Leufstadius, warnt eindringlich vor dem zu erwartenden Gedränge in den Bussen, Zügen, U-Bahnen und auf Schiffen. Die Grenzen der einsetzbaren Fahrzeuge und des Personals würden dieses nicht auffangen können. Sie ruft zu Homeoffice auf und die Reisenden auszusteigen, wenn’s zu eng wird, oder auf das nächste Fahrzeug zu warten. Oder den öffentlichen Verkehr überhaupt zu meiden und mit dem eigenen Auto oder Velo zu fahren, wo die Distanzen zu gross sind, um zu Fuss zu gehen. Des Weiteren verlangt sie von allen betroffenen Behörden Handlungspläne, um potentielle Passagiere zu einem entsprechenden Verhalten zu motivieren. Denn welche Regeln im öffentlichen Verkehr gelten, haben die lokalen und regionalen Betriebe festzulegen.
Anders Tegnell stützt diese Auffassung. Der öffentliche Verkehr sei nun nicht die gigantische Ansteckungsquelle. Und eine Maske könne niemals Ersatz fürs Distanzhalten sein. Die Studien, welche für ein Maskentragen sprechen, seien alle auf spezifische Personengruppen, beispielsweise in Pflegeberufen, zugeschnitten. Nicht aber auf die allgemeine Bevölkerung. Man wolle die Lage weiterhin beobachten und den Katalog von Empfehlungen allenfalls anpassen. Bis jetzt sei man aber in Schweden mit der eingeschlagenen Strategie mit den kaum geänderten Massnahmen gut gefahren. Der Trend gehe nach wie vor nach unten, sowohl was die bestätigten Ansteckungs- als auch die Todesfälle betreffe. In den Ländern mit einem Lockdown steigen diese Zahlen wieder. Man werde sehen, ob das so weitergehe.

Wenige Vorschriften, aber eindringliche Empfehlungen

Hunderte, die mal eine Party feiern oder allzu dicht nebeneinander am Strand liegen: Ausreisser gibt es eher wenige. Zumindest was der gefühlte Vergleich mit der Schweiz angeht. Was ratsam ist oder nicht, richtet sich nach behördlichen Empfehlungen, aber auch nach Massnahmen anderer Verantwortungsträger. Wie etwa dem Ja oder Nein im Arlanda Express, dem Geisterzug von der Stadt zum Flughafen (Bild).
So bleiben die Grundschulen weiterhin offen. Wobei es sowohl der Regierung als auch einzelnen Schulvorstehern möglich wäre, den Unterricht vorübergehend einzustellen. Für die über 16-jährigen und die Hochschulen beginnt nach einer Zeit des Distanz- wieder der Präsenzunterricht. Obwohl eine gewisse Befürchtung besteht, dass die Ansteckungszahlen dadurch wieder ansteigen könnten. Allerdings nicht in grossem Ausmass, meinte Anders Tegnell gegenüber dem schwedischen Fernsehen. Diese Gruppe von jungen Menschen habe immer einen regen sozialen Umgang gepflegt, auch als ihre Schulen geschlossen waren.
Die 50-Personen-Grenze für Versammlungen bleibt vorerst bestehen. Doch soll es ab dem 1. Oktober für grössere Kultur- und Sportanlässe Ausnahmen geben, wenn die Veranstalter ein Sicherheitskonzept vorlegen können, welches einen Abstand von mindestens zwei Metern garantiert. Mehr ist noch nicht bekannt.
Das Vertrauen in die zentrale Gesundheitsbehörde und Anders Tegnell ist – anders als in die Regierung – mit über 70 Prozent immer noch sehr hoch. Auch wenn in der Maskenfrage ein Umdenken stattfindet. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Novus sind 43 Prozent der Befragten für die Einführung einer Maskenpflicht. Einzelne Bahnbetreiber, aber auch grosse Unternehmen oder Hotelketten verlangen von ihren Angestellten das Tragen eines Mund-/Nasenschutzes und verteilen der Kundschaft gratis Masken. In zwei bis drei Wochen will sich die zentrale Gesundheitsbehörde in dieser Frage zurückmelden, nach einer erneuten Lagebeurteilung.
Vom viel beschworenen lockeren Umgang mit Corona ist in Schweden nichts zu verspüren. Die hohe Zahl Verstorbener in den Alters- und Pflegeheimen ist nicht wegzudiskutieren. Doch sinken sowohl die Infektions- als auch die Sterberaten nachhaltig, während die entsprechenden Zahlen in Ländern mit Lockdown wieder besorgniserregend in die Höhe klettern. Ob der schwedische Sonderweg am Ende weniger Opfer und negative gesellschaftliche wie wirtschaftliche Folgen hinterlässt, ist noch nicht abzusehen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Regula Bähler ist Mitglied des Stiftungsrats, der Infosperber herausgibt.

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