Operationssaal

Manche Chirurgen weigerten sich im letzten Moment, einem Patienten Organe zu entnehmen. © Wavebreakmedia / Depositphotos

Organspende-Skandal in den USA

Martina Frei / Klaus Mendler (Übersetzung) /  Die Untersuchung in nur einer einzigen Region zeigte: Mindestens 28 Personen waren bei der Organentnahme nicht tot.

Im Juli veröffentlichte die «New York Times» eine Recherche, die das Drehbuch für einen Horrorfilm sein könnte. Medien im deutschsprachigen Raum berichteten bisher kaum darüber.

  • Im Frühling 2024 öffneten Chirurgen in Alabama den Brustkorb einer 42-Jährigen, die für tot erklärt worden war. Die Ärzte wollten der Verstorbenen Organe für die Organspende entnehmen. Doch als sie das Brustbein zersägt hatten, sahen sie: Ihr Herz schlug und pumpte Blut durch den Körper. Nun fiel ihnen auch auf, dass sie zu atmen schien. Die Chirurgen stoppten und verliessen den Raum. Ein anderer Arzt nähte den Brustkorb zu. Möglicherweise erhielt die Patientin noch Narkosemittel. Zwölf Minuten später wurde sie zum zweiten Mal für tot erklärt. Der Mutter wurde lediglich mitgeteilt, dass die Organe ihrer Tochter nicht verwendet worden seien. Welcher Horror sich im Operationssaal zugetragen hatte, erfuhr die Mutter erst über ein Jahr später im Zuge der Recherche der «New York Times» (NYT).
  • In Miami begann ein Mann zu weinen und auf den Beatmungsschlauch zu beissen, als er für die Organentnahme vorbereitet wurde. Ärzte gaben ihm starke Schlafmittel, stellten die lebenserhaltenden Maschinen ab, warteten, bis er tot war und entnahmen seine Organe für die Transplantation.
  • In Kentucky war ein damals 33-jähriger Mann nach Einnahme einer Überdosis Drogen und zweitägiger Regungslosigkeit für hirntot erklärt worden. Seine Familie stimmte der Organspende zu. Doch während der folgenden zwei Tage verbesserte sich sein Zustand. Er schlug sogar auf das Bett. Um weitere Bewegungen zu verhindern, wurde er medikamentös sediert. Als er zur Organentnahme in der Operationssaal geschoben wurde, schüttelte der Mann den Kopf, weinte und zog die Knie an seine Brust. Ein Arzt weigerte sich daraufhin, die lebenserhaltenden Maschinen abzustellen. Der Vorgesetzte der Transplantations-Koordinatorin verlangte fortzufahren. Aber die Chirurgen machten nicht mit. Eine spätere Untersuchung des Vorfalls seitens des Transplantationswesens ergab «keine grösseren Probleme». Der Mann lebt heute mit neurologischen Folgeschäden.
  • In Albuquerque fiel 2022 eine 38-Jährige ins Koma. Die Ärzte teilten ihren Verwandten mit, dass sie nie mehr erwachen werde, worauf diese das Einverständnis zur Organentnahme gaben. Als die Vorbereitungen dafür begannen, schien es den Verwandten, als weine die Patientin. Das seien reflexartige Tränen, beruhigten sie die Transplantations-Koordinatoren. Dann hatte eine Schwester der Patientin den Eindruck, diese habe sich bewegt. Der Arzt forderte die scheinbar Komatöse auf, mit den Augen zu blinzeln – was sie tat. Dies seien nur Reflexe, insistierte ein Transplantations-Koordinator und schlug vor, dass man ihr Morphium geben solle, um die Bewegungen zu reduzieren. Doch die Ärzte weigerten sich. Die Frau erholte sich vollständig – und erstattete zwei Jahre später Meldung, als sie von dem Vorfall in Kentucky erfuhr.
  • In Colorado weinte eine andere Patientin mittleren Alters und blickte um sich. Die Ärzte sedierten sie und nahmen sie vom Beatmungsgerät, um ihre Organe entnehmen zu können. Doch weil die Patientin nicht wie erwartet sofort starb, sondern erst Stunden später, kamen ihre Organe nicht mehr für eine Transplantation in Frage. «Mein Eindruck war: Sie hätte durchkommen können, wenn man sie länger an der Beatmungsmaschine belassen hätte», sagte eine anwesende Fachkraft gegenüber der «NYT».
  • In West Virginia baten Transplantationskoordinatoren einen gelähmten 27-Jährigen im Operationssaal darum, seine Organe entnehmen zu dürfen. Er war zuvor durch Medikamente stark sediert, kam im Operationsraum aber wieder zu sich. Mit Augenblinzeln signalisierte er, dass er mit der Organentnahme nicht einverstanden sei.
  • In New Mexico wurde eine Patientin tagelang auf die geplante Organentnahme vorbereitet, obwohl die Angehörigen bemerkt hatten, dass sie wieder zu sich zu kommen schien. Das geschah dann auch. Die Organentnahme wurde abgeblasen. Eine Pflegekraft sagte der «New York Times», der Organbeschaffungs-Organisation dort gehe es nur darum, Spenderorgane zu bekommen. «Sie sind so aggressiv. Es ist widerlich.»
  • Knapp eine Stunde nachdem die Maschinen abgestellt worden waren, öffnete ein 50-Jähriger die Augen und blickte im Operationssaal umher, wo ihm die Chirurgen eigentlich die Organe hätten entnehmen sollen. Nach 40 Minuten – als seine Organe für eine Transplantation nicht mehr in Frage kamen – wurde er auf die Intensivstation verlegt. Dort setzte er sich auf, sprach noch mit seiner Familie – und starb drei Tage später.

US-Regierung trug zum Skandal bei

55 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheitswesen aus 19 US-Bundesstaaten sagten dem Rechercheteam der «New York Times» (NYT), sie hätten mindestens einen «verstörenden» Fall bei einer Organspende nach Herzstillstand erlebt. Dutzende von Mitarbeitern bei Organbeschaffungs-Organisationen sagten, dies liege am finanziellen Druck, den die US-Regierung ausübte. 

Im Jahr 2020 begann die US-Regierung, diese Organisationen danach zu bewerten, wie viele Organspenden sie zuwege brachten. Über den 55 Non-Profit-Organbeschaffungs-Organisationen, die über das ganze Land verteilt sind, hing ein Damokles-Schwert: Ab kommendem Jahr drohte denen, die weniger Organspenden zustande brachten als der Durchschnitt, dass ihr Vertrag aufgelöst wird. Das habe dazu beigetragen, dass teilweise «Prozesse potenziell beschleunigt» und Sicherheitsauflagen nicht mehr eingehalten worden seien. 

Zum Beispiel dürfen die Transplantations-Koordinatoren erst an die Angehörigen herantreten, wenn die Familie entschieden hat, dass die lebenserhaltenden Maschinen bei einem Patienten abgestellt werden sollen. Doch dies sei oft umgangen worden. 

Immer mehr Organspenden nach Herztod

Eine Möglichkeit, mehr Organe transplantieren zu können, ist die Organspende nach Herztod. Denn Herztote gibt es viel mehr als Hirntote. Etwa 20’000 Organe, also rund ein Drittel aller Organspenden in den USA, erfolgte letztes Jahr nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand. Die Anzahl habe sich in den letzten fünf Jahren verdreifacht, fand die «NYT» heraus. 

Das Problem bei der Transplantation nach einem Herzstillstand: «Steht das Herz still, werden die inneren Organe nicht mehr mit Sauerstoff versorgt. Sie sind schon nach zehn Minuten nicht mehr für eine Transplantation zu gebrauchen. Der Zeitdruck ist also nach einem Herztod gross», erläuterte die «Süddeutsche Zeitung» kürzlich. «Durch die Reanimation kann man, wenn sie gelingt, das Herz wieder zum Schlagen bringen. Und das macht den Herztod kompliziert.»

Ärzte mit zu wenig Sachkenntnis

Werden bei einem Patienten die lebenserhaltenden Maschinen abgestellt, müsse es innerhalb von ein bis zwei Stunden zum Herzstillstand kommen, damit die Organe noch transplantierbar seien, klärte die «NYT» auf. Gesundheitspersonal in mehreren Staaten sagten den Reportern, dass sie gesehen hätten, wie Transplantations-Koordinatoren die Spitalärzte zu überzeugen versuchten, den Patienten Morphium, Propofol oder andere Medikamente zu geben, welche den Tod beschleunigt herbeiführen können. «Ich denke, diese Probleme sind viel häufiger, als wir wissen», sagte ein Neurologe von der Universität von Kalifornien, der häufig potenzielle Organspender untersucht, zur «NYT». 

Kaum sei ein Patient für die Organspende freigegeben worden, hätten Spitäler oft junge, wenig erfahrene Ärzte für seine weitere Betreuung abgestellt. Diese hätten sich den Wünschen der Organbeschaffungs-Organisationen eher gefügt. Das verrieten Spitalmitarbeitende in einem Dutzend US-Bundesstaaten dem «NYT»-Rechercheteam. Das unerfahrene Personal konnte nicht gut beurteilen, ob eine Bewegung reflexartig erfolgte oder anzeigte, dass der Patient noch gar nicht tot war. Erschwert wird diese Beurteilung, wenn der Patient durch Drogenkonsum oder Medikamente wie die oben erwähnten stark sediert ist. 

Mindestens 28 Organspender waren nicht tot

Einen Tag nach dem schockierenden Bericht in der «NYT» verschickte das US-Gesundheitsministerium eine Medienmitteilung: «Unsere Untersuchungen zeigen, dass Krankenhäuser den Prozess der Organentnahme bereits starteten, wenn Patienten noch Lebenszeichen zeigten, und das ist erschreckend», wurde US-Gesundheitsminister Kennedy dort zitiert. Man habe «verstörende Praktiken» bei einer grossen Organisation festgestellt, die sich um Organspenden kümmere.

Gemeint waren die «Kentucky Organ Donor Affiliates», die für Kentucky, den Südwesten Ohios und West Virginia zuständig sind. Nach einer Fusion heisst diese Organbeschaffungs-Organisation nun «Netzwerk für Hoffnung» (Network for Hope). 

Die frühere US-Regierung unter Joe Biden habe den Fall ad acta gelegt, Kennedy habe ihn neu aufrollen lassen. Die Überprüfung von 351 Organspenden in den letzten vier Jahren habe ergeben, dass in 103 Fällen «besorgniserregende» Dinge festgestellt worden seien. 

So hätten beispielsweisse 73 Organspender noch neurologische Zeichen gezeigt, die mit einer Organentnahme unvereinbar gewesen wären. Mindestens 28 Patienten seien in dem Moment, als die Organentnahme begann, nicht tot gewesen. Die Beweise deuteten auf mangelhafte Untersuchungen vor der Todesfeststellung hin, auf fragwürdige Einwilligungspraktiken sowie auf falsch eingestufte Todesursachen, erfuhren die Medien.

Die Vereinigung der Organbeschaffungs-Organisationen erklärte, dass Fehler selten seien und dass Transplantationen jährlich tausende von Menschenleben retten würden. 

«Bloss» Einzelfälle …

«MSNBC», ein grosser Nachrichtensender, der den Demokraten nahesteht, blies ins gleiche Horn. Er schrieb in einem Kommentar, dass der Skandal nur eine einzige von 55 Organbeschaffungs-Organisationen betreffe, Kennedy nun aber das gesamte Transplantationswesen in den USA überholen wolle. «Das ist beunruhigend.» Es sei unverantwortlich, das ganze, funktionierende System in Frage zu stellen, wenn doch der Skandal nur eine Organisation betreffe, schrieb der Kommentator, der seit fünf Jahren mit einer Spenderniere lebt.

Am gleichen Tag, als dieser Kommentar erschien, meldete sich der Intensivmediziner Joseph Varon aus Texas in einem Blog des «Brownstone Institute» zu Wort. Dieses steht politisch den Republikanern nahe.

… oder häufige Vorkommnisse?

Varon schrieb: «Allein im Jahr 2024 wurden in den USA 45’000 Organtransplantationen durchgeführt. […] Ein erheblicher Teil dieser Organe wurde unter ethisch fragwürdigen Bedingungen entnommen, darunter Spenden nach Kreislaufstillstand und zweifelhaften Hirntod-Feststellungen.» 

Und weiter: «Die Organspende-Organisationen sind in erster Linie nicht am Wohlergehen der Patienten orientiert, sondern an Quantität: Je mehr Organe sie entnehmen, desto mehr Mittel erhalten sie. Auch Spitäler bekommen hohe Vergütungen für Transplantationen, und dadurch entsteht ein pervertiertes System, in dem todkranke Patienten weniger als Individuen mit komplexen Krankengeschichten gesehen werden, sondern eher als Reservoir für ‹Ersatzteile›.» 

Wenn Spitäler unter Druck stünden, um Intensivbetten freizumachen oder Quoten für Spenderorgane zu erfüllen, sinke die Bereitschaft, die vor der Organentnahme notwendigen (und aufwändigen) Untersuchungen beim Patienten vollständig durchzuführen. 

Das Milliarden-Geschäft mit den Transplantationen

Die übliche Vorgehensweise in vielen US-Transplantationszentren sei heutzutage: «Einer Familie wird mitgeteilt, ihr Angehöriger sei zwar nicht hirntot, er habe aber ‹keine Chance› auf Genesung. Sie gibt ihre Zustimmung, die lebenserhaltenden Apparate abzuschalten. Kurz nachdem das Herz aufgehört hat zu schlagen, betritt ein Operationsteam den Raum, das bereits entsprechend gekleidet in Wartestellung gestanden hatte. Die Haut ist noch warm. Der Körper ist noch durchblutet. Und das Skalpell wird angesetzt.» Auch bei Kinderspendern würden solche Vorgänge zunehmen, behauptet Varon. 

Der Hintergrund: «Organtransplantationen haben sich zu einer milliardenschweren Industrie entwickelt. Für eine durchschnittliche Nierentransplantation gibt es 300’000 Dollar, für Leber- und Herztransplantationen mehr als eine Million. Die dahinterstehenden Organisationen arbeiten scheinbar gemeinnützig, lassen sich ihre Tätigkeit jedoch finanziell vergüten. Diese Organisationen werden nur minimal von den Gesundheitsbehörden kontrolliert. Es gab mehrere kritische Berichte, die aber keine Konsequenzen hatten. 2022 ergab eine Anhörung im US-Senat, dass ein Drittel der Organisationen grundlegende Leistungskennzahlen nicht erfüllt hatten – aber geschlossen wurde keine davon.»

Organisation in Miami de-zertifiziert

Offensichtlich kamen auch US-Gesundheitsminister Kennedy und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum Schluss, dass der Skandal um «Kentucky Organ Donor Affiliates» kein Einzelfall war. 

Am 18. September statuierte das US-Gesundheitsministerium ein Exempel und entzog der in Florida ansässigen «Life Alliance Organ Recovery Agency» die Zertifizierung, also faktisch die Existenzgrundlage. Es ist das erste Mal, dass das US-Gesundheitsministerium einen solchen drastischen Schritt macht. 

Manche Patienten benachteiligt, andere bevorzugt

Laut der Medienmitteilung habe eine Untersuchung «jahrelange unsichere Praktiken, mangelhafte Ausbildung, chronische Leistungsdefizite, Personalmangel und Fehler in Dokumenten aufgedeckt. Die «Life Alliance Organ Recovery Agency» gehört zum «University of Miami Health System» und kann gegen den Entscheid noch rekurrieren. 

Laut «New York Times» seien landesweit fast 20 Prozent der auf ein Spenderorgan wartenden Patienten übergangen worden, sechsmal mehr als vor wenigen Jahren. «Jahrelang» hätten offizielle Stellen kaum etwas gegen dieses und andere Probleme im Zusammenhang mit Transplantationen unternommen. 

Auf Weisung von Kennedy sollen nun verschiedene Massnahmen für mehr Transparenz und Einhaltung der Reihenfolge auf der Warteliste für ein Organ sorgen, Fehlverhalten rascher erkennen und das Vertrauen ins Transplantationswesen wiederherstellen.   


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