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Spielexperte Synes Ernst © cc

Der Spieler: In «Agricola» sind wir Bauer

Synes Ernst. Der Spieler /  Vor der Volksabstimmung vom 24. September: Das tolle Strategiespiel «Agricola» zeigt, wie komplex Agrarpolitik ist.

Eidgenössische Volksabstimmungen haben – neben der Möglichkeit zu direktdemokratischer Mitsprache und Mitwirkung – einen wichtigen Nebeneffekt: In regelmässigen Abständen werden Bürgerinnen und Bürger mit zentralen Themen der schweizerischen Politik konfrontiert, sei es mit der Frage der inneren und äusseren Sicherheit, der nachhaltigen Entwicklung, der Gesundheit, der Mobilität, oder sei es mit den öffentlichen Finanzen. Die nächste Abstimmung vom 24. September zwingt uns zur Auseinandersetzung mit der Zukunft der Altersvorsorge auf der einen und mit der Ernährungssicherheit auf der anderen Seite.

Nehmen wir die Vorlage für einen neuen Verfassungsartikel zur Ernährungssicherheit. Wer sich die Mühe nimmt, die Abstimmungsunterlagen ein wenig genauer zu studieren, stellt relativ rasch fest, wie komplex die Angelegenheit ist. Der subjektive Eindruck täuscht nicht: Agrarpolitik gehört eindeutig zu den schwierigsten Herausforderungen, die Parlamente, Behörden und Verwaltungen zu bewältigen haben, national wie international. Was fliesst da nicht alles zusammen: Von der Erhaltung der Artenvielfalt bis hin zu den öffentlichen Finanzen, vom Tierschutz bis zur genügenden und gesunden Ernährung, von der Balance zwischen nachhaltiger und effizienter Produktion, von der gesellschaftlichen Entwicklung vom traditionellen Essen zum schnellen Food, von autonomer Landwirtschaft bis zur globalen Agrarvernetzung. Dies und noch viel mehr muss oder müsste bei der Suche nach Lösungen berücksichtigt werden, falls solche überhaupt möglich sind: Wenn man zusätzlich noch in Betracht zieht, dass auf jedem der Aberhunderte von Teilfeldern wiederum eine Menge von Lobbys die Entscheidungen in ihre Richtung zu beeinflussen versuchen, so versteht man die Verzweiflung von Agrarpolitikern, die von unlösbarer Herkulesaufgabe sprechen.

Eine Herkulesaufgabe

Dass Agrarpolitik eine Herkulesaufgabe ist, lässt sich auch spielerisch nachvollziehen. Ein Titel eignet sich dazu hervorragend. Es handelt sich um das 2007 erschienene «Agricola» von Uwe Rosenberg. Es versetzt die Teilnehmenden zurück ins Jahr 1670 in die Rolle von Bäuerinnen und Bauern. Man startet mit zwei Familienmitgliedern. Diese leben in einer Holzhütte mit zwei Räumen. Wer die Familie vergrössern will, was unbedingt nötig ist, um die vielen Herausforderungen des bäuerlichen Lebens zu bewältigen, braucht aber zuerst zusätzlichen Wohnraum. Also heisst es, Holz und Schilf sammeln, womit man Material für den Ausbau des Hauses bekommt. Eine grössere Familie gibt mir zwar mehr Handlungsspielraum, bedeutet aber auch, dass mehr Mäuler nach mehr Nahrung verlangen. Diese gilt es zu beschaffen. Getreide wächst auf den Äckern, logisch, doch diese müssen zuerst gepflügt werden. Zudem braucht man Saatgut. Statt auf Ackerbau kann man sich auch auf Viehzucht konzentrieren. In diesem Fall kommt man ohne Weiden nicht aus. Aber erst, wenn man sie eingezäunt hat, können darauf Schafe, Wildschweine und Rinder grasen. Ausbildungen und Anschaffungen verschaffen zusätzliche Aktionsmöglichkeiten.

Unter doppeltem Druck

14 Runden dauert das Spiel, in jeder Runde geht jedes Familienmitglied einer Beschäftigung nach. Welcher? Die Planung dieser Personaleinsätze ist die zentrale Herausforderung in «Agricola». So macht es keinen Sinn, an eine Familienvergrösserung zu denken, wenn der dafür nötigte Wohnraum nicht zur Verfügung steht. Also schicke ich meinen Bauern los, um Holz zu sammeln. Dafür aber muss ich als erster in der Runde das entsprechende Aktionsfeld belegen. Pech, wenn mir ein Mitspieler zuvor gekommen ist. Dann bleibt mir in dieser Runde nichts übrig, als eine andere Aktion zu wählen. Das ist insofern stressig, als neben dem Konkurrenzdruck auch ein zeitlicher Druck besteht: Zur Erntezeit – sechsmal pro Spiel – muss ich nämlich in der Lage sein, meine Familie zu ernähren. Wenn nicht, müssen die eigenen Leute betteln gehen und am Schluss gibt es ärgerliche Strafpunkte.

«Agricola» ist ein in jeder Hinsicht bemerkenswertes Spiel. Das betrifft nicht bloss Ausstattung und Gestaltung, die an Opulenz kaum zu übertreffen sind. Seine Qualität liegt vor allem in der Art und Weise, wie es dem Autor Uwe Rosenberg gelungen ist, die Teilnehmenden von Anfang an in das Geschehen miteinzubeziehen und sie über die gesamte Spieldauer mit Herausforderungen unterschiedlichsten Niveaus zu konfrontieren. Welche Entscheidung man auch trifft, sie hat spürbare Auswirkungen auf den weiteren Verlauf des Spiels. Selbst nach vielen Partien hat man das Gefühl, man könnte es bei der nächsten Runde mit einer anderen Strategie oder klügeren Taktik noch besser machen – gibt es einen deutlicheren Hinweis auf die Qualität dieses Spiels?

Spielen in Reinkultur

Zu Recht hat «Agricola» mehrere Auszeichnungen bekommen. So erhielt es von der Jury «Spiel des Jahres» 2008 den «Sonderpreis komplexes Spiel», weiter den «Deutschen Spielepreis», den «International Games Award» sowie 2009 den «Prix du Jury» bei «As d’Or – Jeu de l’Anné» von Cannes. Varianten für die Familie, eine Version für zwei Personen sowie zahlreiche Erweiterungen und Ergänzungen zeugen von der Vitalität dieses Spiels und seines Prinzips.

Das Publikum hat «Agricola» trotz seiner Komplexität gut aufgenommen: Bis heute wurden weltweit rund 400’000 Exemplare verkauft, was für ein derart anspruchsvolles Spiel aussergewöhnlich ist. Das war aber nur möglich, weil der sogenannte «Workerplacement»-Mechanismus – man setzt seine Figur auf ein Feld und führt dann die Aktionen aus, die von dort aus möglich sind – letztlich mit einem einfachen Regelbestand auskommt, der einen schnellen Einstieg ermöglicht. Ab dann ist es Sache der Spielenden, wie sie das Geschehen gestalten, und je besser man die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten kennt, desto interessanter wird es, die Vorlage, die eh schon gewaltig ist, frei zu interpretieren. Das ist Spielen in Reinkultur.

Hie und da stöhnt man schon beim «Agricola»-Spiel: «Was soll ich nun tun?» Ja, es stimmt, wenn Uwe Rosenberg auf der Verpackung schreibt: «Das 17. Jahrhundert: keine einfache Zeit für Landwirte!» Dabei kannte man damals weder Direktzahlungen noch Subventionen und internationale Nahrungsmittelindustrie. Agrarpolitik ist seit der «Agricola»-Zeit noch komplexer und schwieriger geworden. «Was soll ich nun tun»? Die Frage ist deshalb auch ausserhalb des Spiels berechtigt. Immerhin könnten Agrarpolitiker und solche, die es werden wollen, mit «Agricola» lernen, wie man in komplexen Situationen Entscheidungen trifft.

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Agricola: Strategiespiel von Uwe Rosenberg für bis zu fünf Personen ab 12 Jahren (auch als Solospiel möglich). Lookout-Games. ca. Fr. 50.- (Das empfehlenswerte Familienspiel «Agricola» ist für ca. Fr. 40.- erhältlich.)


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.

Zum Infosperber-Dossier:

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Spielen macht Spass. Und man lernt so vieles. Ohne Zwang. Einfach so.

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