Kommentar

Der Spieler: Ein Spielerlebnis der Sonderklasse

Synes Ernst ©

Synes Ernst. Der Spieler /  Mit den «Legenden von Andor» setzt der Komos-Verlag nach den «Siedlern von Catan» erneut Massstäbe für die Entwicklung von Spielen.

Andor gibt es in Wirklichkeit nicht. Michael Menzel, bis anhin als Illustrator von Spielen bekannt, hat das Land während eines Ferienaufenthalts im Sauerland erfunden. Sein neunjähriger Sohn Johannes und sein Neffe Joel brauchten Abwechslung. Weil das miese Wetter verhinderte, dass die Familie im Freien ihrer Abenteuerlust frönen konnte, kreierte Michael Menzel im Eiltempo eine Fantasywelt, in welche die Jungen eintauchen und klassische Heldenrollen übernehmen konnten. Drachen und andere Bösewichte wollten sie besiegen, einem König bei der Verteidigung seiner Burg helfen. Menzel zeichnete den Spielplan auf Karton, zwei Jahre später zeigte er seine Idee einem Redaktor des Kosmos-Verlags. Dieser stellte gleich fest, welches Entwicklungspotenzial in diesem Entwurf steckte. Nach drei weiteren Jahren liegt das Ergebnis nun vor: «Die Legenden von Andor».

Das Spiel ist zwar erst seit einigen Monaten auf dem Markt. Aber man kann heute schon eine Wette darauf abschliessen, dass Andor in ein oder zwei Jahren so bekannt sein wird wie die fiktive Insel Catan, die dank «Die Siedler von Catan» Kultstatus und Weltberühmtheit erlangt hat. Wie «Die Siedler» neue Massstäbe gesetzt und sich als moderner Klassiker etabliert haben, warten auch «Die Legenden von Andor» mit Innovationen auf, die die Spielentwicklung massiv beeinflussen werden.

Krieger und Bogenschützen
Wer in Andor Abenteuer bestehen will, schlüpft in eine der vier in männlicher und weiblicher Ausprägung vorhandenen Heldenrollen. Krieger, Bogenschütze, Zauberer und Zwerg haben unterschiedliche Fähigkeiten, was insofern von Bedeutung ist, als man als Gruppe unterwegs ist und sich gemeinsam den Herausforderungen stellt. «Die Legenden von Andor» sind ein kooperatives Spiel, das man miteinander gewinnt oder eben verliert. Allein ist die Aufgabe nicht zu bewältigen, es sind also Absprachen nötig. Dabei zeigt sich sehr schnell, ob die vier Mitspielenden gleichberechtigt als Team funktionieren oder ob jemand den Ton angibt und die anderen herumkommandiert. Eines ist klar: Das Spielerlebnis ist für die Einzelnen umso intensiver und schöner, je mehr sie das Gefühl haben, persönlich mitentscheiden und sichtbar zum Gruppenerfolg beitragen zu können.

Hat man sich einen Überblick über das vorhandene Spielmaterial verschafft und den Spielplan mit der geheimnisvollen Landschaft auf dem Tisch ausgebreitet, warten «Die Legenden von Andor» gleich mit einer schönen Überraschung auf: Auf Seite 2 der Spielanleitung heisst es nämlich: «Ab jetzt wird schon gespielt!» Wie die Helden sich bewegen und kämpfen, wird also gleich in der Praxis erprobt. Michael Menzel hat sich hier an der Welt der Computerspiele orientiert, wo niemand Spielregeln liest, sondern gleich mit Learning-by-doing startet. Unter den Spielautoren hatte man schon lange darüber diskutiert, wie man dieses Prinzip in die Welt der Brettspiele übertragen könnte. «Die Legenden von Andor» zeigen nun erstmals, wie das geht. Und es funktioniert, allerdings nicht ohne Tücken: Weil das Spiel seinen Inhalt erst nach und nach offenbart, ist es kaum möglich, später bei Regelunklarheiten oder anderen Fragen rasch eine Antwort zu finden, wie das in traditionellen Regelstrukturen der Fall ist. Der Verlag hat in der Zwischenzeit auf diesen Mangel reagiert und stellt jetzt ein umfassenderes Begleitheft zur Verfügung.

Immer komplexer
Einen Tag lang haben die Helden jeweils Zeit, sich in Andor zu bewegen und ihre Aufträge zu erfüllen. Gegenspieler sind die so genannten Kreaturen, die «Gros», «Skral»,»Troll» und «Wardrak» heissen. Die Kämpfe kosten Zeit und Kraft. Ohne taktisch kluge Koordination der Aktionen und den geschickten Einsatz der Hilfsmittel und Ausrüstungsgegenstände steht die Abenteurergruppe auf verlorenem Posten. Von der ersten bis zur fünften Legende wird das Geschehen immer komplexer: Wenn ein Szenario durchgespielt ist, tauchen neue und noch stärkere Kreaturen auf. Gleichzeitig stehen den Mitspielenden neue Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung.

Trotz des leichten Einstiegs sind «Die Legenden von Andor» kein Familienspiel. Es setzt eine gewisse Bereitschaft voraus, sich auf ein Abenteuer einzulassen und dafür auch entsprechend Zeit aufzuwenden. Das ist nicht jedermanns Sache. So genannte «Normalspieler» könnten sich angesichts der Materialfülle verloren vorkommen. Eines darf man aber nicht vergessen: Die Zahl der Menschen, die Erfahrung mit etwas komplexeren Spielen haben, steigt laufend. Sie werden an den «Legenden von Andor» Freude haben, weil es ihnen ein Spielerlebnis der Sonderklasse bietet. Und denken wir auch an die Jugendlichen, für die das Trial-and-Error-Prinzip der Computerspiele eine Alltagserfahrung bedeutet. «Andor» verfügt über das Potenzial, dieses Publikum für das Brettspiel zurückzugewinnen.

«Die Legenden von Andor»:Kooperationsspiel von Michael Menzel für 2 bis 4 Spielerinnen und Spieler ab 10 Jahren. Verlag Kosmos. Spieldauer 60 bis 90 Minuten.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Befasst sich mit dem Thema «Spielen – mehr als nur Unterhaltung»

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