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Psychiatrische Klinik in Frankreich © Stephi2006/Flickr/cc

Bern ist an hohen Gesundheitskosten selber schuld

Christian Bernhart /  Ein Beispiel ist der Umgang mit Psychiatrie-Patienten: Die Betreuung ist falsch und der Kanton zahlt vierzig Millionen zu viel.

Symptomatisch für die Berner Gesundheitspolitik ist die Behandlung von psychisch Kranken: Statt längst fällige Reformen zügig voranzutreiben, versteifte sich SP-Gesundheitsdirektor Philipp Perrenoud in monatelange Auseinanderetzungen gegen den Direktor der psychiatrichen Universitätsklinik und zog dabei erst noch den Kürzeren. Opfer sind viele Psychiatriepatienten, die viel zu lange in Kliniken eingesperrt bleiben, oft weit weg von ihren Angehörigen, sowie die Berner Steuerzahler, die zu viel zahlen müssen.

Rückkehr von Waldau-Direktor Strik löst Grundproblem nicht

Die Wogen um die Berner Psychiatrische Universitätsklinik Waldau sind geglättet, der suspendierte Direktor Werner Strik wieder eingesetzt, doch die Probleme in der kantonalen psychiatrischen Versorgung bleiben ungelöst. Im Kantonsvergleich ist Bern mindestens 40 Millionen Franken zu teuer. Vor allem auch, weil in den Kliniken von Münsingen, Bellelay und Meiringen die Patienten zu lange Zeit betreut werden. Bern verpasst es seit Jahren, genügend Wohnheime für Chronischkranke zu errichten.

In der Psychiatrischen Klinik Waldau bei Bern dürfen die Ärztinnen und Ärzte sowie das Pflegepersonal seit vergangenem Dezember wieder aufatmen. Mit der Rehabilitation von Klinikdirektor Professor Werner Strik und nach der Kündigung der Geschäftsführerin Regula Mader sei das Arbeitsklima in den Universitären Psychiatrischen Diensten (UPD) merklich gestiegen: Eine Ärztin stellt erleichtert fest, dass nun das Ausfüllen endloser Fragebogen ein Ende hat, womit die damalige Geschäftsleitung die Behandlung der Patienten unter ein rigides Qualitäts- und Prozessmanagement stellen wollte. «Doch mit der Rückkehr von Professor Strik», meint der kürzlich emeritierte Zürcher Psychiatrieprofessor Wulf Rössler, «ist das Grundproblem der Berner Psychiatrie nicht gelöst.»

Falscher Behandlungsort

Sozialpsychiater Rössler hatte vierzig Jahre geforscht, wie und wo psychisch Kranke vorteilhaft zu betreuen sind. Das Grundproblem im Kanton Bern zeige sich deutlich daran dass die Patientinnen und Patienten viel zu lange in den Kliniken eingeschlossen bleiben. Während in der Zürcher Klinik Burghölzli die Patienten im Schnitt einen Monat lang betreut werden, bleiben sie in Münsingen doppelt so lang, in den Kliniken Meiringen und Bellelay sogar über drei Monate. «Überall, wo sich die Psychiatrie entwickelt hat», so Rössler, «wird ein signifikanter Anteil von Langzeitpatienten in betreuten Wohnplätzen untergebracht. Das Ziel muss sein, dass auch Menschen mit ihrer Krankheit einen Platz in der Gesellschaft finden.» Dieses Ziel lässt sich in einer Anstalt kaum verwirklichen. Um so weniger, als die Patienten sich in den Kliniken Bellelay, Münsingen oder Meiringen meist fernab von ihrem Wohnort befinden, wo ihre Bekannten leben und sie gesellschaftlich wieder Wurzen fassen könnten.

Einzig UPD Waldau gut aufgestellt

Ironischerweise ist heute einzig die psychiatrische Universitätsklinik Waldau (UPD) im Kanton Bern in der Lage, eine zeitgemässe psychiatrische Betreuung anzubieten. Innert zehn Jahren gelang es Klinikdirektor Strik, den Klinikaufenthalt von 61 Tagen auf 34 Tage im Jahre 2011 zu reduzieren, und zwar dank der Integration der Klinik für Sozialpsychiatrie in die Klinik der UPD, mit dem Aufbau eines Gemeindepsychiatriezentrums West für stationäre und ambulante Patienten in Bümpliz sowie mit geeigneten Wohnheimplätzen in Belp, Kehrsatz und Oberburg. Wie Professor Gregor Hasler, Chefarzt für Soziale Psychiatrie an der UPD erläutert, umfasst das Betreuungsangebot heute 37 Standorte mit einem Kriseninterventionszentrum sowie einigen Tages- und Werkstätten.

Zu hohe Kosten

Die Kampagne, welche die Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF) unter Leitung von SP-Regierungsrat Philippe Perrenoud, dem ehemaligen Direktor der Klinik Bellelay, seit 2007 gegen den UPD-Leiter Werner Strik losgetreten hatte, sieht vor diesem Hintergrund arg nach einem Täuschungsmanöver aus, gemäss dem Motto: man schlägt den Sack und meint den Esel. Der Esel, mit diesem Bild gesprochen, ist die viel zu teure psychiatrische Versorgung im Kanton Bern. Sie ist so teuer, weil die richtigen Einrichtungen fehlen.
Im Vergleich mit anderen Schweizer Kantonen gibt Bern 40 Millionen Franken pro Jahr zu viel aus. Diese Zahl stützt sich auf eine Studie des Finanzinstituts BAK Basel vom April 2013. Sie enthält jedoch nur die halbe Wahrheit. Für die Berner Regierung hat das Institut nämlich auch errechnet, dass der Kanton nur vorwärtskommt, wenn er seine aufwändige Kantonsinfrastruktur um jährlich 400 Millionen Franken zurückfährt. Bei dieser Vorgabe sind laut BAK Basel in zwei Bereichen der Psychiatrie massive Einsparungen notwendig. Einerseits bei der hohen Zahl der Patienten, wodurch sich Mehrkosten von 36 Millionen Franken ergeben, andererseits bei den zu teuren Einrichtungen, die dafür nötig sind und Mehrkosten gegenüber dem Schweizer Schnitt von weiteren 34 Millionen Franken verursachen. Kurzum: Es gibt zu viele Patienten, die nicht am richtigen Ort therapiert werden.

Kostenfaktor Kliniken

Einsparungen, die wirklich einschenken, sind dort möglich, wo die Psychiatrie gravierende Mängel aufzeigt, nämlich bei den überlangen Klinikaufenthalten. Dies hat der Kanton Solothurn bereits in den 1990er Jahren erkannt und den Ausbau von Wohnheimen aufgegleist (Vorzeigemodell Solodaris, siehe am Schluss des Textes). Denn der Klinikaufenthalt wird entgolten über den Spitaltarif, den teils die Krankenkasse, teils der Kanton übernimmt. Bis 2011 beteiligte sich der Kanton Bern daran mit 46 bis 48 Prozent. Seit 2012 muss er tiefer dafür in die Tasche greifen und mit 55 Prozent über die Hälfte der Kosten übernehmen.
In Wohnheimen hingegen tragen die Patienten mit ihrer Invalidenversicherung einen grossen Teil der Kosten bei, allenfalls werden noch die Ergänzungsleistungen herbeigezogen. Für den Kanton halbieren sich dann die Kosten nahezu, wenn ein Langzeitpatient in ein Wohnheim zieht: Der Meiringer Klinikdirektor Peter Oeschger spricht von einer Reduktion der Tagespauschale von rund 400 auf gut 200 Franken. Oeschger, der nach 12-jähriger Leitung auf Ende 2013 zurücktritt, sagt: «Das Problem der fehlenden Wohnheimplätze ist längst bekannt. Es fehlen uns vor allem Heime, welche Langzeitpatienten mit schwieriger Diagnose aufzunehmen bereit sind.» Meiringen betreut so permanent zwischen 10 bis 15 Chronischkranke, die nicht in Wohnheimen oder Pflegeeinrichtungen aufgenommen werden können.

Verdrängtes Problem

Das Problem der fehlenden Heimplätze ist seit Jahren bekannt. Rolf Ineichen, Klinikdirektor in Münsingen, hat die Gesundheitsdirektion von Regierungsrat Perrenoud wiederholt darauf aufmerksam gemacht. Vergebens. «Es ist total unbefriedigend», sagt Ineichen, «wenn Menschen auf der Akutabteilung nun bereits ein Jahr auf einen Platz in einem Wohnheim warten und so in ihrer Hoffnung, einen wichtigen Schritt zurück in die Gesellschaft tun zu können, im Stich gelassen werden.» Münsingen sollte unbedingt mindestens zwanzig Patienten mehr in Heimen platzieren können.

Weshalb hat sich die Gesundheitsdirektion dieses Problems nicht schon längst angenommen? Obschon sie in den letzten Jahren gutes Geld in Analysen und in die Planung investierte, in zwei Analysen zur «Weiterentwicklung Psychiatrieversorgung Kanton Bern (WePBE)», die dann als Grundlage für die «Versorgungsplanung 2011 – 2014» der Spitäler inklusive Psychiatrie diente? Fatalerweise sind in diesen Papieren die fehlenden Wohnheimplätze kein Thema, möglicherweise auch deshalb, weil Analyse und Planung einzig auf Datenmaterial von 2005 bis 2008 basieren.

Fehlende Koordination

Auf die Frage nach der Zahl der akut fehlenden Heimplätze sagt Anette Gfeller, stellvertretende Leiterin im Alters- und Behindertenamt Alba im Gesundheitsdepartement: «Ich kann das nicht sagen, weil ich es nicht weiss.». Die Zahlen würden momentan analysiert. Im Übrigen sei die Psychiatrie dem Spitalamt unterstellt. Der Grundton aus dem Alba lautet: Die Zusammenarbeit zwischen beiden Ämtern habe zugenommen, könne aber noch besser werden. Den Finger auf diesen wunden Punkt legte bereits 2009 Theodor Cahn, Ex-Chefarzt der Baselbieter Psychiatrieklinik Liestal, bei dem Perrenoud eine Expertise für die Planung 2011 bis 2014 einholte. Cahn wies auf die total unübersichtliche Lage der überall verteilten Wohnplätze und anderer Betreuungssysteme hin, die in die Psychiatrie eingebunden sind, und folgerte: «Die mangelnde Integration dieser Systeme bildet einen wesentlichen Schwachpunkt in der Struktur des gesamten psychiatrischen Versorgungssystems.»

Halbe Kehrtwende

Es gibt Anzeichen, dass kurz vor dem Ablauf der Planungsperiode 2011 bis 2014 die Problematik bei der Gesundheitsdirektion angekommen ist. Als erste Klinik hat Perrenoud Bellelay in seinem ehemaligen Wirkungskreis berücksichtigt. Auf dem Mont Soleil im Heim Hébron sollen 30 Wohnplätze für ältere Patienten geschaffen werden. In Planung befindet sich in Unterseen ein Heim, das ab 2017 etwa 15 Patienten der Klinik Meiringen aufnehmen soll. Auf dem Alba liegt ein Gesuch der Direktion um 40 Wohnplätze für Langzeitpatienten, die zurzeit auf der Akutabteilung liegen. Die Entlastung wäre nicht nur finanzieller Natur. Ein Langzeitpatient, der wegen fehlender Platzierung ein Jahr auf der Akutabteilung wohnt, blockiert jedes Jahr einen Behandlungsplatz für zwölf Akutpatienten.

Bevor die Gesundheitsdirektion eine weitere Planung als Papiertiger aufgleist, empfiehlt der Berner Gesundheitsökonom Heinz Locher die nächsten Schritte nach einer aktuellen Abklärung der Bedürfnisse und nach modernen Behandlungskonzepten einzuleiten. Die Revision des Krankenversicherungsgesetzes, die es dem Patienten überlässt, welche Klinik er aufsuchen will, lässt dirigistische Planungen seit 2012 ins Leere laufen. Deshalb meint Locher: «Wichtiger als staatliche Steuerung und Planung ist der transparente Nachweis der Behandlungsqualität.»

Zum Beispiel: Das Vorzeigemodell Solodaris
Der Kanton Solothurn hat für die chronisch psychisch Kranken, die nicht mehr in der Akutklinik für Erwachsene der Psychiatrischen Dienste Solothurn behandelt werden müssen, 2008 die Solodaris Stiftung geschaffen und darin das Wohnheim Wyssestei sowie geeignete Wohngemeinschaften und Werk- und Tagesstätten eingebracht. Dieser Zusammenschluss wurde bereits in den 1990er Jahren eingeleitet. Dank diesem Modell konnte, wie Klinikleiter Professor Martin Hatzinger sagt, die durchschnittliche Aufenthaltsdauer von 46 Tagen im Jahre 2004 auf heute 25 Tage reduziert werden. Im Wohnheim Wyssestei und in zwei Aussenstationen in Selzach und Olten leben 105 Personen. Dazu kommen noch 25 Aussenwohnplätze. «Der Erfolgsfaktor», sagt Geschäftsführer der Solodaris Stiftung Daniel Wermelinger, «ist die gute Zusammenarbeit mit den Psychiatrischen Diensten.» Und der Erfolg schenkt dem Kanton ein, wie auf der zuständigen Finanzfachstelle zu erfahren ist. Für einen Patienten in der Klinik steuert der Kanton Solothurn im Schnitt pro Monat zirka 10’000 Franken an die Kosten bei. Wohnt der Patient jedoch im betreuten Wohnheim, so machen dieselben Kosten noch 6’500 Franken aus. Diese Berechnung, die den Vorteil des Wohnheims zeigt, fällt im Kanton Bern noch drastischer aus, denn der Kanton Solothurn, der die Spitalkosten besser im Griff hat, muss erst 51 Prozent an die Klinikkosten beitragen und nicht 55 Prozent wie Bern.


Dieser Beitrag erschien in etwas kürzerer Fassung in der Berner Zeitung


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Christian Bernhart ist als unabhängiger Journalist Mitglied des Schweizer Klubs für Wissenschaftsjournalismus.

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