Kommentar

kontertext: Berufsfreundschaften sind störanfällig

Silvia Henke ©

Silvia Henke /  In ihrem Essay durchleuchtet die Kunstkritikerin und Publizistin Isabelle Graw den Nutzen von Freundschaft in ihrem Umfeld.

Wenn von Freundschaft die Rede ist, so könnte man denken, schlägt das Herz höher: Wir wissen alle, wie wichtig und unverzichtbar Freund*innen sind, wir wünschen uns gute Freundschaften bis ins hohe Alter. Aristoteles hielt die Freundschaft für das höhere Gut als die Gerechtigkeit, der französische Philosoph Michel de Montaigne stellte sie gar über die Liebe und die Ehe. Natürlich liegt beiden Ansichten ein Ideal zu Grunde, das kaum je erreicht wird, weder damals noch heute. Denn auch Freundschaft beruht wie Liebe auf Gefühlen, und diese sind, das wissen wir seit Freud, meist ambivalent. 

Gibt es also neue Befunde, neue Sehnsüchte oder Störanfälligkeiten für Freundschaften heute? Welche Emotionalität, welche Belastbarkeit, welche Verbindlichkeit haben sie heute, welche Enttäuschungen und Kränkungen halten sie bereit? Um diese selten öffentlich erörterten Fragen kreist der Essay «Vom Nutzen der Freundschaft» der Kunstkritikerin und Publizistin Isabelle Graw. Indem sie ihre Beobachtungen im persönlichen Umfeld des Kunstbetriebs ansiedelt und damit den eigenen Freundeskreis und das eigene Freundschaftsverhalten zur Probe aufs Exempel macht, ist ein anregendes, irritierendes und gerade deswegen nützliches Buch entstanden, insbesondere für sogenannte  Kulturschaffende. Denn die Erfahrungen im Kunstbetrieb, um die es bei ihr im Wesentlichen geht, kann man problemlos übertragen auf den Literatur- und Medien-, in gewisser Weise auch auf den Wissenschaftsbetrieb.

Netzwerk und Nutzen

Grundsätzlich neu ist das, was der Begriff des «Netzwerks» impliziert: Die gegenwärtige Inflation von Freundschaften offenbart den Freundschaftskult als eine neue Form von Selbstermächtigung, das «Netz» überspielt als «Werk» die Bedeutung des einzelnen. In ihm atomisieren sich unsere Zuneigungen und Interessen so weit, dass das Wegfallen Einzelner nicht ins Gewicht zu fallen scheint. Die Zäsur der Pandemie mit ihren Zwängen zur sozialen Isolation hat aber gezeigt, dass auch für mittlere Generationen das Bedürfnis nach sozialer und emotionaler Verbundenheit zentral ist. Noch nie mussten wir Nähe und Distanz so präzis vermessen. Graws Essay beginnt denn auch in der Zeit der Pandemie, in welcher sie ihre Sehnsucht nach freundschaftlicher Nähe schmerzhaft bemerkt. Aus dieser Sehnsucht heraus verfällt sie aber nicht in den Irrtum, Freundschaft zu idealisieren, sondern sie beginnt, über deren verschiedene Funktionen nachzudenken. Sie verzichtet dazu von Anfang an auf die strikte Unterscheidung von privaten Herzensfreundschaften und Nutzfreundschaften (die auch auf Aristoteles zurückgeht) und betritt damit ein ziemlich unübersichtliches Terrain. Sie verbindet nämlich den soziologischen Blick konstant mit eigenen Erfahrungen, nimmt sich und insbesondere ihren beruflichen Freundeskreis (selbst-)kritisch unter die Lupe. Das ist der grösste Tabubruch des Essays, werden doch Berufsfreundschaften gerade von Frauen tendenziell weniger offen, selten öffentlich benannt. Insbesondere in der Schweiz gilt vielen Frauen die Verbindung von Freundschaft, Bekanntschaft mit Netzwerk und Karriere als Tabu. 

Riskant ist Graws Essay auch methodisch. Was in der Autoethnographie gilt, nämlich dass man das Feld, zu dem man gehört, nicht analysieren darf ohne das Einverständnis der beobachteten Menschen, umgeht sie, indem sie den Essay als freien Gedankenspaziergang unternimmt, alle Personen fiktionalisiert und zu Mischfiguren macht – also Autofiktion betreibt. Das ist natürlich zwingend in einem Umfeld mit Personen aus dem Kulturbetrieb, wo Image (und damit Freundschaft) durch Negativschilderungen schnell angekratzt sind. Sich selber aber zeigt Graw in grosszügiger Offenheit mit ihren Meriten, ihren Ambitionen und ihren Verunsicherungen.

Wunde Punkte und Enttäuschungen

Warum Freundschaften im Zeitalter allgemeiner Ökonomisierung der Verhältnisse gerade im Kulturbetrieb so störanfällig sind, diagnostiziert Graw in ihrem Essay von Tag zu Tag während des Lockdowns 2020/2021. Ohne System umkreist sie dabei fünf wunde, wiederkehrende Punkte, die am Ideal der Freundschaft nagen und an denen es sich lohnt, das eigene Freundschaftserleben zu prüfen (was eine schöne Beschäftigung sein kann in der Ferienzeit). Zugespitzt lauten diese wunden Punkte:

Who is who? Der Kunst- und Kulturbetrieb kennt «rigide Zugangsbeschränkungen» und ist deshalb exklusiver als die meisten Milieus. «Who is who» ist folglich an jeder Vernissage eine ernsthafte Frage. Sie wird meist beantwortet, in dem man beim Netzwerk bilden ein gemeinsames «institutionelles Regime» feststellt. Erst dann wird das seltene Gut des Vertrauens ausgeschüttet, aus dem Freundschaften entstehen könnten. Schnell kann man nicht mehr dazugehören, ohne dass dies ausgesprochen werden muss. Ein kleiner Misserfolg hier, eine schlechte Kritik dort, schon wird man ein wenig geschnitten.

Frenemies? Die Pandemie und die durch sie auferlegte Vereinzelung führte, gerade bei Kulturschaffenden, denen die Bühne genommen wurde, zu noch mehr «Frenemies» (Freund*-Feind*innen), so Graw. Kolleg*innen, die sich trotz aller Rhetorik der Verbundenheit als Rivalinnen erwiesen, gab es zwar immer. In der Pandemie konnten sie jedoch aus dem Social Distancing heraus freier agieren. (Ein Anlass von Graws Buch ist denn auch ihre eigene Verletztheit und Verunsicherung durch negative Kritiken zu einem ihrer Bücher, und zwar von Freund*innen, die damit keine mehr sein konnten.) 

Transactional Friendships Künstler*innen- wie auch Kritiker*innenfreundschaften beruhen darauf, dass man etwas voneinander will; es gibt kaum interesselose Freundschaften in diesem Milieu. Entsprechend sind sie dynamischer, aber oft instabiler als «gewöhnliche» Jugend- oder Privatfreundschaften. Die Künstlerin Andrea Fraser, welche Graw hierzu zitiert, bezeichnet solche Nutzfreundschaften deshalb unumwunden als «transactional friendships».

Facebook Friends FB-Friends sind eigentlich keine Freund*innen, sie vergrössern zwar das eigene Netzwerk-Kapital, höhlen jedoch gleichzeitig den Freundschaftsbegriff substantiell aus. Ein schmerzhafter Widerspruch, gerade für Intellektuelle, Wissenschaftler*innen und Künstler*innen. Denn wir gehen nicht nur rational um mit unserem Netzwerk: Wir agieren eitel oder neugierig, die Likes bedeuten Aufmerksamkeit, die Geburtstagswünsche rühren uns – etc. Um Gefühlshaushalt und Sozialprestige zu trennen, müsste man social media meiden.

Old Boys Network Dieser wunde Punkt gehört zu einem alten Lied: Weibliche Mitglieder des Kunstbetriebs haben andere Rollen als männliche, noch immer. Trotz ihres ausgewiesenen Erfolgs als Kunstkritikerin kreist Graws Essay um eine grosse Kränkung durch einen erfolgreichen Künstlerfreund. Das Zerbrechen dieser wichtigen langjährigen Freundschaft wird ihr zum Seismograph für all die kleinen perfiden Illoyalitäten einer klassisch instrumentellen Nutzfreundschaft, die sich dorthin verabschiedet, wo es mehr zu «holen» gibt. Auch als erfolgreiche Frau im Kunstbetrieb beklagt Graw hier die Regeln des «Old Boys Network», in dem weibliche Stimmen weniger zählen, Frauen eher benutzt werden – was im Gewand der Freundschaft besonders schmerzt.

Epilog: Lob der Freundschaft, trotz allem

Mit dem offenen Benennen der wunden Punkte geht Graw einigen Konflikten in Nutzfreundschaften auf den Grund. Sie macht sich und ihren Leser*innen nichts vor: Beseitigen lassen sich diese Störanfälligkeiten nicht. Hingegen zeigt sie, dass man aus Enttäuschungen auch klug werden kann, wenn man eine Freundschaft so ernst nimmt, dass man ihr auch zutraut, Konflikte zu benennen. Was nur wenige Freundschaften schaffen, was sich aber lohnt, um ihren Sinn zu erhalten: ein Ort von Vertrauen und Offenheit zu sein. Insofern wäre es eventuell nützlicher, vom sozialen Sinn und nicht vom Nutzen der Freundschaft zu sprechen.

Denn Freundschaften sind auch Gradmesser der aufgeklärten, liberalen Gesellschaft, es steckt in ihnen die nicht geringe Hoffnung, unser Leben vom Bann des Schicksalhaften der Familien- oder Dorfgemeinschaft zu befreien und es selbstbestimmter zu machen. Man wählt Freundschaften, man kann sie gestalten und auch beenden. Der Austausch mit sehr unterschiedlichen Menschen kann in ihrem Rahmen so offen, so nah, so funktional oder (selbst-)kritisch sein, wie die Freundschaft sich selber definiert. Freundschaften, diesen Horizont eröffnet Graws Buch, können so etwas wie soziale Kunstwerke sein, an denen man ein wenig arbeiten muss. Sie nur nach dem eigenen Nutzen zu bemessen, greift zu kurz.

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Isabelle Graw, Vom Nutzen der Freundschaft. Spector Books Leipzig 2022.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Silvia Henke ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und Publizistin.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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