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Auspressen, bis es nicht mehr geht: Wer sich in der Schweiz verschuldet, hat es schwer. © Depositphotos

Der Staat ist Geldeintreiber Nummer eins

Andres Eberhard /  Vor allem Steuern bringen die Schuldenspirale zum Drehen. Weil die Kantone nichts tun, schreitet jetzt der Bundesrat ein.

Hunderttausende Menschen in der Schweiz sind nicht in der Lage, ihre Rechnungen rechtzeitig zu bezahlen. Rund jeder Achte lebt in einem verschuldeten Haushalt. Es sind aber hauptsächlich weder Banken mit exorbitanten Kreditzinsen noch Firmen mit übertriebenen Leasing- oder Ratenzahlungsraten, welche die Menschen in den Ruin treiben. Sondern der Staat selbst. Denn verschuldete Menschen stehen in der Schweiz am häufigsten beim Steueramt in der Kreide. Direkt dahinter folgen die Krankenkassen, die im staatlichen Auftrag tätig sind. Das zeigen Zahlen des Bundes.

Dass ausgerechnet der Staat Geldeintreiber Nummer eins ist, ist eine Schweizer Eigenart. Im benachbarten Ausland sind Schulden bei Banken, anderen Kreditgebern sowie der Konsumwirtschaft häufiger. Umso mehr ist die Politik gefordert, Lösungen zu finden. Denn Schulden sind ein Treiber der Armut. Und die steigt auch in der reichen Schweiz seit Jahren.

Steuern bislang nicht Teil des Existenzminimums

Die Situation von Schuldnerinnen und Schuldnern kann im Vergleich zu anderen Mitteln der Armutsbekämpfung schnell und ohne allzu viel Bürokratie verbessert werden. Konkret könnten zwei Lösungen helfen:

  • Überschuldeten Menschen, die keine Perspektive mehr haben, soll ein Neustart ermöglicht werden. Der Bundesrat plant, noch dieses Jahr eine konkrete Vorlage vorzulegen.
  • Die Steuern sollen in die Berechnung des Existenzminimums einbezogen werden. Das verlangt eine Motion der zuständigen Ständerats-Kommission. Dass das bislang nicht der Fall ist, ist geradezu grotesk: Denn wer so stark verschuldet ist, dass ihm der Lohn gepfändet wird, muss vom Existenzminimum leben. Diese rund 1300 Franken reichen nie und nimmer zum Leben, wenn ein Grossteil davon für Steuern auf die Seite gelegt werden muss (siehe Kasten am Ende des Artikels).

Während die erste Lösung auf eine Art «zweite Chance» hinausläuft, könnte die zweite die bekannte Schuldenspirale durchbrechen: Denn Steuern sind in vielen Fällen schuld daran, warum Betroffene überhaupt in eine Abwärtsspirale geraten, aus der sie nicht mehr herauskommen. Eine Aufnahme der Steuern ins betreibungsrechtliche Existenzminimum fordern die Schuldenberatungsstellen schon seit Jahren. Doch seit 2005 wurden vier entsprechende Vorstösse abgelehnt – jeweils mit dem Argument, das Steuerrecht sei Sache der Kantone.

Kantone besteuern Mini-Einkommen

Nur unternahmen ebendiese Kantone nichts, um das Problem zu entschärfen. Dabei müssen sie gemäss Verfassung die Besteuerung nach dem «Grundsatz der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit» vornehmen. Daraus schloss der Bundesrat einst die Pflicht, das Existenzminimum nicht zu besteuern. In dem Bericht von 2011 kam er ausserdem zum Schluss, dass ebendies «steuersystematisch richtig» wäre. Tatsache ist jedoch, dass die Kantone noch heute bereits Mini-Einkommen besteuern. Die Steuerpflicht für ledige Personen beginnt in einzelnen Kantonen heute bereits bei einem Jahreseinkommen von unter 5000 Franken. 20 Kantone besteuern ab einem Jahreseinkommen von unter 20’000 Franken. Einen besonderen Steuerabzug für Menschen mit tiefen Einkommen gibt es nur in wenigen Kantonen und wenn, ist dieser so bescheiden, dass er kaum ins Gewicht fällt.

Weil die kantonalen Steuerämter nur wenig für die Ärmsten tun, wäre es logisch, wenn der Bund sie dazu zwingen würde. Doch entsprechende politische Vorstösse scheiterten bislang. Und dies, obwohl es weitere gute Gründe gibt, warum tiefe Einkommen steuerfrei sein sollten. Zum Beispiel könnte damit verhindert werden, dass sich Arbeit für Menschen, die Sozialleistungen vom Staat beziehen, wegen des Steuersystems nicht lohnt. Der Grund dafür ist, dass Sozialleistungen heute steuerfrei sind, während Einkommen in derselben Höhe versteuert werden müssen.

Schuldnern helfen, Armut bekämpfen

Mittlerweile geht der Bundesrat davon aus, dass es «kaum erfolgsversprechend» ist, die Kantone zu überzeugen, auf eine Besteuerung tiefer Einkommen zu verzichten. Deswegen zeigt er nun «grosses Verständnis» für die Forderung, verschuldeten Menschen auf anderem Weg zu helfen. Die Motion, die den Einbezug der Steuern ins Existenzminimum fordert, empfahl er kürzlich zur Annahme. Kommt das Geschäft durch, könnte das Beispiel Schule machen: Wer Schuldnerinnen und Schuldnern hilft, bekämpft auch die Armut.

Wie die Schuldenspirale dreht

Wer seine Rechnungen trotz Betreibungen nicht bezahlen kann, dem wird der Lohn gepfändet. Das heisst, dass er nicht mehr frei über einen Grossteil seiner Einnahmen verfügen kann. Bis auf ein festgelegtes Existenzminimum geht der Lohn direkt zum Betreibungsamt und von dort weiter an die verschiedenen Gläubiger – Steuerämter, Krankenkassen, Vermieter, Versicherungen und so weiter. Dies sollte nicht nur dazu führen, dass die Gläubiger an ihr Geld kommen. Sondern auch, dass die Schulden nach und nach reduziert werden.

Doch die Realität ist eine andere. Häufig geraten Betroffene gerade wegen dieser Lohnpfändung in die Schuldenspirale. Das Problem: Im Betrag, von dem die Betroffenen ihren restlichen Lebensunterhalt bestreiten sollen, sind die laufenden Steuern nicht enthalten. Je nach Kanton beträgt dieses «betreibungsrechtliche Existenzminimum» um die 1300 Franken pro Monat. Davon müssten die betroffenen Menschen nicht nur alle ihre weiteren Lebenskosten (Nahrung, Handy, Kleider, Reisekosten, Strom etc.) bezahlen. Sondern auch noch Geld für die Steuern des laufenden Jahres auf die Seite legen.

Dass das unrealistisch ist, wissen alle, die mit verschuldeten Personen zu tun haben. Nur ein Beispiel zum Vergleich: Einer Einzelperson mit einem monatlichen Nettoeinkommen von 5000 Franken empfiehlt Budgetberatung Schweiz, jeweils 670 Franken für Steuern auf die Seite zu legen. Über die Hälfte des nicht vom Betreibungsamt eingezogenen Betrags wäre in diesem Fall also bereits weg, es blieben lediglich 630 Franken pro Monat zum Leben.

Die Folge ist, dass die Schulden durch die Lohnpfändung nicht kleiner werden. Sondern dass im Gegenteil systematisch neue Schulden in Form von unbezahlten Steuerrechnungen geschaffen werden – die Schuldenspirale dreht unaufhörlich weiter.

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4 Meinungen

  • am 7.03.2024 um 11:22 Uhr
    Permalink

    Sehr guter Artikel! Zeigt auf, dass die Schweiz nach wie vor viel Verbesserungspotential hat, wenn es um unsere ärmsten Mitbürger geht. Warum sollen die für ihr kleines Einkommen noch Steuern zahlen müssen? Und warum versteckt sich der Staat einmal mehr hinter «das ist in der Souveränität der Kantone». In so einem winzig kleinen Land dürfen 26 Kantone selber entscheiden?

    • am 8.03.2024 um 01:58 Uhr
      Permalink

      Einverstanden.

  • am 7.03.2024 um 16:43 Uhr
    Permalink

    Einkommenssteuern sind ja eine Möglichkeit der Rückverteilung von denen, die zu viel haben, zu denen, die nicht genug haben. Jedoch ist die Progression zu mild und beginnt eben zu weit unten.

  • am 7.03.2024 um 18:45 Uhr
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    Ich arbeitete in den 00 Jahren zehn Jahre als Betreibungsbeamter in der Stadt Zürich im Kreis 3 mit einer Bevölkerung von ca 40’000 Personen. Schon damals musste ich jährlich 12’000 bis 18’000 Zahlungsbefehle ausstellen, davon betraffen jeweils 2000 bis 3000 Steuerbetreibungen und ebensoviele Krankenkassenbetreibungen. Daraus resultierten Lohnpfändungen im höheren dreistelligen Bereich. Glücklicherweise engagiert sich mein Nachfolger stark und es sind Gesetzesanpassungen vorgesehn. So sollen die Krankenkassen nur mehr eine Betreibung pro Jahr, anstelle jede einzelne Prämie, mit den zusätzlich anfallenden Inkassokosten, in Betreibung zu setzen. Strittig ist, ob der Staat als Gläubiger durch den Einbezug der Steuern ins Existenzminimum der Schuldner, gegenüber anderen privaten Gläubigern, bevorzugt werden solle. Ich unterstütze diese Position. Doch wäre es noch sinnvoller das Existenzminimum von den Steuern zu befreien. Steuern für Pe

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